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Nebel und Utopie

Aliaxey Talstou, 1984 in der belarussischen Hauptstadt Minsk geboren, hat sich in seiner Heimat als Künstler, Kurator von Ausstellungen und als Autor einen Namen gemacht. In seinen künstlerischen Arbeiten beschäftigt er sich mit sozialen und politischen Themen sowie mit den Herausforderungen, die sich durch die Digitalisierung der Kommunikation ergeben. Seit 2009 hat Talstou, der mittlerweile in Deutschland lebt, zudem vier Romane geschrieben sowie Texte und Essays in belarussischen Literaturzeitschriften veröffentlicht.

In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung rauscht Talstou durch verschiedene Etappen der belarussischen Geschichte, um herauszufinden, warum es zu den Protesten des Jahres 2020 kommen musste und warum sie letztlich doch nicht die alte Ordnung beseitigen konnten. Und er fragt sich: Wie kann es nach so viel Gewalt, Leid und vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine weitergehen für Belarus? Welches politische System wäre denkbar? Welche Zukunft ist überhaupt möglich? Lässt sich dies in einer Zeit der Zerrüttung überhaupt beantworten?

Belarussisches Original

Источник dekoder

„Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

Ich habe kaum mehr ein Gefühl für Belarus, es ist sehr weit weg. Als stünde ich morgens auf einer Wiese und versuche, im Nebel etwas zu erkennen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, und im feuchten Morgengrauen erahne ich nur seine Umrisse, bilde Erinnerungen daran nach. Das ist nicht leicht, und manchmal scheint mir, ich hätte all das nur in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen. Ohne neue Nachrichten, ohne Aktualisierung der gespeicherten Informationen verbirgt sich die Erinnerung im Nebel.

Als nächstes frage ich mich, was ich dort überhaupt zu entdecken versuche. Worum geht es eigentlich? Um ein abstraktes Land aus Dokumenten und Normen, um eine Ansammlung von kulturellem Erbe, um ein Territorium, das nie ein Selbstbestimmungsrecht haben wird, oder um eine Nation, die irgendetwas zwischen einem Umschlagplatz von Werten ist und dem verzweifelten Versuch, die Einsamkeit des individuellen menschlichen Lebens zu überwinden? Ich versuche, meine Vergangenheit zu erkennen, meine Verbindung zu anderen Menschen, zu Orten, in diesem Nebel mein früheres Selbst.

Und doch steckt etwas Vulgäres in dem Versuch, seine persönliche Biografie mit der Geschichte zu vermischen. Vielleicht ist es auch spannend, in der Kunst gibt es durchaus brillante Beispiele, in denen der Krieg von nur einem kleinen Menschen erlebt wird. Aber der Mensch ist stets mehr als Geschichte oder Geografie, mehr als Ideologie ... Schaut man genau hin, wird man im selben Nebel statt der Geister der Vergangenheit die Geister der Zukunft finden. Doch inwieweit sich meine Zukunft mit der Zukunft irgendeines konkreten Landes deckt – da bin ich mir nicht sicher. Der Nebel der Zeit ist unsere gemeinsame Vorsehung, unabhängig vom Pass.

Es ist rührend und tragisch, wie die Menschen mit ihrer Nationalität umgehen – was soll das Ganze. Rührend, weil man selten so eine Ehrlichkeit, so eine Besessenheit sieht, wie wenn jemand sich bemüht, uneingeweihte Gesprächspartner in Sachen Belarus weiterzubilden: wo es sich befindet, wie schlimm es dort ist, dass es die Revolution gab, die aber verloren wurde, und über die Menschenrechte und die politischen Gefangenen. Ich versuche mich zusammenzunehmen und nicht aufzugeben. Sonst wird daraus ein Free Theatre mit nur einem Darsteller. Darin steckt eine Tragik, denn für die Mehrheit der normalen Weltbewohner bleibt das Weiße Russland ein kaum bekanntes und nicht allzu interessantes Abstraktum.

Der segensreiche und schreckliche August 2020 war voller Zukunft. Die alte Ordnung schien vor unseren Augen zu zerfallen

Ein noch größeres Abstraktum ist allerdings Russland selbst. Einem populären Scherz Putins zufolge hat das Land keine Grenzen, und das entspricht seltsamerweise den recht allgemeinen Vorstellungen des Durchschnittseuropäers oder überhaupt Erdbewohners, denn kaum einer interessiert sich für Details. Belarus oder ein ähnliches Gebilde wird erst dann Gestalt annehmen, wenn das Imperium zu bröckeln beginnt. Wenn das Zentrum seine Anziehungskraft, seine Macht und seine Fähigkeit verliert, die Abstraktion aufrechtzuerhalten. Wenn die Geopolitik und die großen Narrative ins Schlingern geraten, tauchen neue Akteure auf, schwarze Schwäne. So war es 1918, als während des Ersten Weltkrieges unter deutscher Okkupation die BNR [Belarussische Volksrepublik] proklamiert wurde, so war es 1991, als die Sowjetunion zerbrach. Der heutige Krieg kann ebenfalls in diese Kategorie fallen.

Doch momentan scheint die Zeit stillzustehen, und der Planungshorizont ist auf Wochen verkürzt. Zwei Jahre Überlebenskampf, die letzten neun Monate rabenschwarze Finsternis. In solchen Zeiten zu versuchen, etwas im Nebel zu erkennen, ist ein mutiges Unterfangen. Vor einem Jahr konnte man Diskussionen über das Belarus der Zukunft noch mit vollem Ernst und ohne Konjunktiv führen. Heute sind die Stimmen verhaltener, weil klar ist, dass nicht alle in die Zukunft mitgenommen werden. „Ins Pionierlager der Schule fahren im Sommer nur diejenigen, die es verdient haben. Die anderen bleiben hier“, so schreibt der Künstler Ilya Kabakov in seinem bekannten Text über den sowjetischen Schuldirektor und die Vorgesetzten, die entscheiden, wer eine Zukunft verdient hat und wer nicht. Wer entscheidet das heute?

Der segensreiche und schreckliche August 2020 war voller Zukunft. Die alte Ordnung schien vor unseren Augen zu zerfallen, niemand schien mehr so recht an sie zu glauben und wir dachten, in wenigen Tagen wäre alles zu Ende. Etwas wie Freiheit lag in der Luft. Im Affekt hofften einige hunderttausend Menschen nicht nur auf Veränderung, sondern sie wussten, dass er da ist, der Point of no return, dass sie selbst diese Veränderung waren. Damals und kurz danach wurden viele Texte über den Sieg geschrieben, wurde über vieles gesprochen. Aber dann begann der Krieg, und das Wort „Sieg“ erhielt eine andere Bedeutung.

Welche Alternativen gab es damals? Die Wahl zwischen einer unendlichen Sowjetzeit und einer national-liberalen Ungewissheit. Für das allgemeine Volk war es eher die Wahl zwischen Altem und Neuem, zwischen Autoritarismus und Demokratie, diesen einfachen, bewährten Dingen. Mir war es dennoch nicht gelungen, mein Herz und meine Stimme rückhaltlos einer der angebotenen Alternativen zu geben. So gern ich auch flammend geglaubt hätte, war es doch nur …, aber es wurde nur ein Kompromiss mit mir selbst, denn die Forderung nach Veränderungen kollidierte sofort mit der Option der regionalen Geopolitik: Russisches Imperium oder Empire nach Hardt und Negri, noch dazu mit einer Vorliebe für Realia aus den postsowjetischen Neunzigern.

Schade, dass diese ganze Geschichte den traditionellen Werten des zwanzigsten Jahrhunderts verhaftet bleibt und die Gegenwart eher unwillig annimmt. Letztlich ist das aber heute auf der ganzen Welt so. In Belarus überdauert das 20. Jahrhundert in den sowjetischen Elementen des Offiziösen. Diese Tradition spricht also die ältere Generation an, die in den 1990ern drastische Veränderungen fürchtete und in angelernter Angst aufwuchs, indem sie vor dem Fernseher saß und alles für bare Münze nahm. Mir hat schon immer gefallen, wie beiläufig die Staatsideologie die Nachfolge der BSSR antritt, eines kolonialen Gebildes der Bolschewiki als Antwort auf Volksrepubliken wie die BNR und auf das Erstarken der osteuropäischen Nationen während des Ersten Weltkriegs. Diese Selbstkolonisierung fast direkt nach dem Zerfall der Sowjetunion, dieses Spiel mit der künstlich zurückgedrehten Zeit, mit der Restauration verdient eindeutig den ersten Preis in der Kategorie Erinnerungspolitik. Man könnte es fast als Kunstströmung betrachten, als tragisches Museumsdorf, oder einen Vergnügungspark wie in der Serie Westworld. Allerdings ist das Leben in der Fiktion unbequem, und noch viel unbequemer ist es, in ihrem Remake zu leben, in einer Fiktion zweiter Klasse.

Als Viktar Babaryka im Wahlkampf 2020 vorschlug, die Verfassung in der Version von 1994 wieder einzuführen, war das auch schön. Einen neuen Start wagen, die postsowjetische Periode noch einmal von vorn beginnen, und nun die Sache wirklich zu Ende bringen. Formal war das gar keine so schlechte Idee, aber die Symbolik darin wirkte recht performativ, was wohl auch Absicht war. Für viele war 2020 eine Offenbarung, etwas Neues. Die Menschen hielten sich physisch im öffentlichen Raum auf, gemeinsam, sie sahen einander, und das war eine Überraschung. Andererseits folgte 2020 einer Tradition, die in der belarussischen Gesellschaft nicht minder verankert ist als das Narrativ der staatlichen Fernsehsender. Das ist die Tradierung einer (Art) Volksrepublik, die dem klassischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts entsprang und über viele Jahrzehnte im Untergrund oder Halbuntergrund existierte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hätte sie sich schnell wieder erheben und zum vollwertigen Nationalstaat werden müssen, aber etwas ging schief, und die Form blieb unvollendet. Die letzten zwanzig Jahre erfuhr diese Idee eine Evolution, erlebte Abenteuer, zeigte sich in Straßenprotesten, aber hauptsächlich sammelte sie ihre Kräfte in alternativen Kulturräumen, sozialen Initiativen, Medien und Trends. Dennoch ist sie ihrem Wesen nach eher diesem klaren und bekannten national-liberalen Modell verhaftet geblieben, das aus der Jugendzeit der oppositionellen Leitfiguren, die in der Mitte und zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Straßen rockten.

Auf der Suche nach der Zukunft irre ich im Nebel herum und kann schwer sagen, ob sie vor oder hinter mir liegt

Als Teenager durfte ich die letzte Phase dieser Welt noch miterleben, 2000–2001 in Minsk. Für die subkulturelle Jugend war das eine Verquickung aus belarussischer Rockmusik, Partys und Straßenprotesten, eine Zeit der kulturellen Revolte gegen das alte System, die sowjetischen Überreste, die absolut idiotisch und sinnlos erschienen. Es war eine gute Zeit, um erwachsen zu werden und die erste politische Skepsis zu entwickeln. 2020 war diese Generation zwischen 35 und 45 Jahre alt, und mir scheint, dass in ihrem Protest auch ein nostalgisches Element steckt, eine leichte Trauer um die Hoffnungen, die doch nie wahr geworden sind. Die Zukunft, nach der sie sich damals sehnten, die sie auch tatsächlich lebten, die mit der Unabhängigkeit gekommen war – sie erhielt dreißig Jahre später eine zweite Chance. 

Im vergangenen Jahr weckte ein Kommentar der Philosophin Tatiana Shchyttsova zu einer öffentlichen Diskussion zum Thema „Wirtschaftliche Reformen im neuen Belarus“ mein Interesse. Eine Frage, die sie sich nach dem Gespräch stellte – Welchen Typ des Kapitalismus wollen wir aufbauen? – klingt auch heute überaus aktuell. In ihrem Beitrag macht Shchyttsova auf die heftige Reaktion der anderen Podiumsteilnehmer auf das von ihr verwendete Wort „Kapitalismus“ aufmerksam. An der Verbindung der Wirtschaft mit Marktreformen und Privatisierung wird man nicht vorbeikommen. Viele der ersten Mitglieder des Koordinierungsrates repräsentierten die alte Wirtschaft, die paradoxerweise Arbeiter zum politischen Streik aufriefen. Das Problem ist nicht so sehr die Irrationalität solcher Aufrufe – in Momenten der Krise sind Analytik und Scharfsicht ein Luxus. Die zentrale Frage ist, ob der Protest 2020 im ideologischen Sinn radikale Transformationen angeboten hat oder doch nur die Rückkehr in eine alternative Vergangenheit, eine Änderung des Drehbuchs und eine Normalisierung der Geschichte?

In diesem Gegensatz zwischen „Gut und Böse“, den ich immer noch im Nebel zu erkennen versuche, sehe ich trotzdem Kabakovs Schule mit ihren archetypischen Charakteren. Mit dem dauerstörenden Fünferkandidaten und dem fleißigen Lieblingsschüler. Wer wird mitgenommen in die Zukunft? Keiner. Erstens – sie haben es nicht verdient. Zweitens ist das Sommerpionierlager hier Teil einer pädagogischen Methode, wie die Möhre für den Esel. Und drittens, weil alle beide an die Existenz der Schule und des Direktors glauben, mitsamt ihren Regeln, die man befolgen oder auch brechen kann. Von der Schule hat uns vor fünfzig Jahren auch Foucault sehr detailliert erzählt. Interessanterweise kamen vor fünfzig Jahren auch die wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten der Chicagoer Schule in Mode und riefen das neoliberale Modell ins Leben. In den Neunzigern „endete“ die Geschichte genau in dieser Tonlage, doch gerade die postsowjetische Privatisierung und Schocktherapie funktionierten in Belarus nicht im selben Maße wie in der Ukraine oder Russland, weil die lokale Zeit zurückgedreht wurde. Natürlich nicht ganz zurückgedreht, denn statt multinationale Konzerne anzusiedeln, wurde das Land selbst zum Konzern. 

Auf der Suche nach der Zukunft irre ich im Nebel herum und kann schwer sagen, ob sie vor oder hinter mir liegt. Das Russische Imperium zerfällt weiterhin, daher verschieben sich die Grenzen der Einflusssphären. Hier wiederholt sich der Zerfall früherer Imperien, doch das Imperium als Schuldirektor, als globales gesellschaftspolitisches Beziehungsmodell, in dem die Staatsmacht alles bis ins Letzte durchdringt, wird nicht abgeschafft. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass Belarus oder Osteuropa 2020 beziehungsweise auch jetzt keine Wahl hatten oder haben. Die freiwillige Unterordnung unter einen Aggressor und Ethnozid kann wohl kaum ernsthaft in Betracht gezogen werden. Diese Option ist nur in einer von der Wirklichkeit abgekoppelten, rituellen Kritik der westlichen Linken denkbar, die sich in völliger Ignoranz der eigenen Privilegien gegen die Erweiterung der NATO und die Unterstützung der Ukraine mit Waffen aussprechen. Als hätte die Ukraine oder jemand hier [in Belarus – dek] gerade eine andere Wahl.

Deshalb ist noch lange nicht garantiert, dass die Einserschüler mit ins Sommerlager fahren dürfen. Das Tempo der Waffenlieferungen in die Ukraine, das Hinauszögern von Terminen, die Unwilligkeit des Westens, auf einen schnellen Sieg zu setzen, erinnern mich ein wenig an Naomi Kleins Katastrophen-Kapitalismus. Eine maximal kontrollierte Schwächung von Russland und Belarus einerseits und die vorhersehbare Schwächung der Ukraine infolge des Krieges andererseits machen sie zukünftig alle abhängig von Investitionen von außen, binden ihnen die Hände und führen in gewissem Sinne zu einem Reload der Neunziger.

Man darf nie das Potenzial der Vision unterschätzen, denn was erdacht werden kann, kann auch sehr schnell eintreten

Eine der wahrscheinlich am wenigsten verstandenen Lehren des Jahres 2020 ist die netzwerkartige Struktur der zivilgesellschaftlichen Bewegung und ihr Streben nach Selbstkoordination. Die Menge an Selbstorganisation, Telegram-Chats und vielfältigen Unterstützungsinitiativen deckte wirklich ein sehr breites Spektrum ab, von eher zentralisierten Plattformen wie Golos bis hin zu den Innenhofchatgruppen von eher spontaner Natur. Die Wahlkampfteams der Kandidaten und die traditionelle Opposition waren darauf nicht vorbereitet und handelten daher halb nach Plan, halb aufs Geratewohl, ließen sich eher von der Erfahrung als vom Augenblick leiten. Denn auch wenn es um einen neuen Präsidenten und den Sturz des Regimes ging, sprach der August 2020 die Sprache der Dezentralisierung, der Nichtnotwendigkeit einer Autorität oder repräsentativen Figur. Wenn bei den Präsidentschaftswahlen eine absolut zufällige Person gewinnen kann, dann steht die Institution des Präsidentenamtes an sich in Frage. Wenn sich die Schüler ihr Pionierlager selbst organisieren können, wozu dann der Direktor? Und im Umkehrschluss: Solange der Schuldirektor existiert, existiert auch die infantile Masse, die unfähig ist, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

Die Selbstorganisation des Jahres 2020 war die Reaktion auf eine Krise, speiste sich aber auch aus der Vision der Veränderungen, die die Wahlkampfteams und die Initiativen um sie herum vermittelten. Man darf nie das Potenzial der Vision unterschätzen, denn was erdacht werden kann, kann auch sehr schnell eintreten. Im Jahr 2020 war niemand bereit zu etwas Größerem, zu wirklich bedeutenden Veränderungen, weil es eben keine Visionäre gab: Die belarussische Opposition ist überwiegend im neoliberalen Modell ausgebildet und entstammt überwiegend dem neoliberalen Modell …, sie ist mit westlichen Stiftungen und Strukturen verbunden, die ihre Grundlage darstellen. Zwei Jahre später lässt der Krieg in der Ukraine der Region keine Wahl mehr. Eine wichtige Rolle spielt auch der Faktor der Ermüdung von der Krise, vom Terror, von Diktatur und Krieg. Im Schockzustand ist jede Normalisierung und Stabilität besser als unbekannte Luftschlösser. Nichtsdestotrotz ist eine reale Zukunft nur durch utopisches Denken und politische Vision möglich, nur durch den ewigen Traum von der idealen Welt.

Kann man aus der Diktatur direkt zu einer anarchistischen Konföderation wechseln? Es gibt solche Fälle, doch dem Direktor gefällt so etwas nicht. Die Utopie kann man als Methode einsetzen, um neuen Formen der sozialen Organisation Impulse zu geben. Es gibt recht detailliert ausgearbeitete Prinzipien für die Arbeit von Generalversammlungen, Konsenssystemen, zahlreiche Beispiele für Selbstverwaltung. Kombiniert mit den Möglichkeiten digitaler Technologien, dezentraler Netze und Automatisierung können sie durchaus für den Aufbau einer alternativen Zukunft genutzt werden, die von konkreten Autoritäten und Vorgesetzten unabhängig ist. Oder wenigstens in geringerem Maße abhängig. Jegliches System der personifizierten Macht oder der bürokratisch-oligarchischen Führung ist ein Erbe der Vergangenheit, die noch immer nicht enden will, ein Produkt dieses Schlafes der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, dieser erlernten Hilflosigkeit, die in der Familie beginnt und auf dem Friedhof endet. Aber die Zukunft liegt jenseits dieser disziplinierten Ordnung. Sie liegt in der Fantasie, in der Vision, in einem gewissen Mut, alles Alte kritisch zu betrachten, Prioritäten umzuformulieren und einander wahrhaftig zu treffen, einander endlich kennenzulernen, übereinander zu staunen, wie es im August 2020 geschah. Die Zukunft beginnt vermutlich dann, wenn sich der Nebel lichtet.

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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