Am Abend der Präsidentschaftswahl, dem 9. August 2020, brach in ganz Belarus eine historische Protestwelle los, getragen von Personen ganz unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Berufsgruppen. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko versuchten die Proteste, die im ganzen Land stattfanden, mit Gewalt und Folter einzudämmen, was allerdings zunächst immer mehr Menschen auf die Straßen trieb. Im Lauf der Zeit gelang es den belarussischen Silowiki, mit scharfen Repressionen den Widerstand zu brechen. Journalisten, Medien, Aktivisten und einfache Bürger wurden außer Landes getrieben, rund 500 NGOs verboten. Die Festnahmen und Aburteilungen dauern bis heute an. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna geht von rund 1300 politischen Gefangenen im Land aus.
Lebt der belarussische Protest überhaupt noch? Was passiert in der Opposition, die ebenfalls ins Exil musste? Welchen Einfluss hat die neue Diaspora? Glaubt Lukaschenko, dass er den Widerstand seiner Gegner gebrochen hat oder fürchtet er eine neue Protestwelle? In einem Bystro mit acht Fragen und Antworten erklärt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch die aktuelle Lage.
Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.
1. Kann man sagen, dass die Protestbewegung in Belarus tot ist?
Ich würde sagen, die Protestbewegung ist eher eingeschlafen als „tot“. Die Mehrheit der Bevölkerung steht der Regierung nach wie vor kritisch gegenüber. Aber das mündet nicht in aktives Handeln und Aktionen. In Belarus existieren keine legalen Mechanismen, mit deren Hilfe die Bevölkerung ihre Meinung äußern könnte. Heute herrscht in Belarus wieder ein totalitäres System. Und im Totalitarismus sind öffentliche Proteste ein seltenes Phänomen.
Zudem beobachten wir seit zwei Jahren eine politische Massenemigration aus Belarus. Mehr als 100.000 Menschen haben das Land verlassen. Das heißt, der Großteil der Leute, die 2020 auf die Straße gegangen sind, ist bereits emigriert. Im Übrigen werden Proteste dann massenhaft, wenn die Hoffnung besteht, das politische System ändern zu können. 2020 gab es diese Hoffnung, jetzt gibt es sie nicht.
2. Welche Rolle spielt die neue Diaspora in der Demokratiebewegung?
2020 ist die belarussische Diaspora erstmals als politischer Faktor in Erscheinung getreten. In den vergangenen zwei Jahren ist sie um ein Vielfaches angewachsen, es sind viele Aktivisten der Protestbewegung hinzugekommen. Sämtliche Zentren der belarussischen Opposition, allen voran das Büro von Swetlana Tichanowskaja, befinden sich im Exil. Man kann sagen, dass sich das oppositionell-gesellschaftliche Leben ins Ausland verlagert hat, weil in Belarus keine legale oppositionelle Tätigkeit möglich ist.
Im digitalen Zeitalter haben die Möglichkeiten der Diaspora, auf das politisch-gesellschaftliche Leben im Land einzuwirken, wesentlich zugenommen. Die belarussischen politischen Diskussionen finden heute auf Plattformen außerhalb des Landes statt. Das sind Medien, soziale Netzwerke, Think-Tank-Foren, Telegram-Kanäle und so weiter.
Auf der anderen Seite ist klar, dass der Einfluss der Diaspora auf das politisch-gesellschaftliche Leben innerhalb des Landes seine Grenzen hat. Jedwede Veränderungen können nur im Land selbst passieren. Der Einfluss von außen kann nur ein zusätzlicher Faktor sein.
3. Wie hat sich der Krieg auf die Protestbewegung ausgewirkt?
Am 27. Februar 2022, dem Tag des Referendums über die Verfassungsänderungen, und am 28. Februar gab es Proteste. Etwa 1000 Menschen wurden an diesen zwei Tagen festgenommen. In diesen ersten Tagen nach Kriegsbeginn war die Angst groß, dass die belarussischen Streitkräfte in den Krieg auf ukrainischem Boden eintreten würden. Aber das ist nicht passiert, und der öffentliche Protest ist verebbt.
Die Protestbewegung hat andere Formen angenommen:
1. Ein Teil der belarussischen Aktivisten ist in die Ukraine gegangen. Sie haben das Kalinouski-Regiment gegründet, das im Krieg für die Ukraine kämpft.
2. Ein anderer Teil (die sogenannten Partisanen) führt Sabotageakte auf dem Schienennetz durch, um die Fortbewegung der russischen Militärzüge durch Belarus zu verhindern.
3. Die Opposition hat den Telegram-Kanal Belaruski Hajun ins Leben gerufen, auf dem Informationen über die Bewegungen der russischen Militärtechnik und das Abfeuern von Raketen von belarussischem Staatsgebiet aus veröffentlicht werden.
Insgesamt kann man sagen, dass sowohl bei den Gegnern als auch den Anhängern Lukaschenkos eine Radikalisierung stattfindet. Die Befürworter des Regimes fordern drastischere Strafen für die Opponenten. Aber sie sind nur im Internet aktiv, in sozialen Netzwerken. Offline sind sie hilflos und verlassen sich ausschließlich auf die Regierung. Die zahlreichen Organisationen, die das Regime geschaffen hat (offizielle Gewerkschaften, die Jugendunion BRSM, die Belaja Rus, die Frauenunion, die Veteranenvereinigung und so weiter) waren auf dem Höhepunkt der Krise 2020 völlig paralysiert. Ihre staatliche Natur macht diese Strukturen unfähig zu Eigeninitiative. Selbst Lukaschenko sagte, dass sie zu nichts taugen.
4. Welche Erfolge hat das Team von Swetlana Tichanowskaja zu verzeichnen?
Swetlana Tichanowskaja bleibt die legitime Repräsentantin der belarussischen Demokratie, das Symbol für die Alternative. Ihre Haupterfolge erzielte sie auf internationaler Bühne. Faktisch ist Tichanowskajas Büro zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.
Dank des aktiven Einsatzes von Tichanoswkajas Team hält sich das Thema Belarus auf der internationalen Tagesordnung. Es nimmt teilweise Einfluss auf die Sanktionspolitik des Westens gegen das Lukaschenko-Regime. Außerdem repräsentiert das Tichanowskaja-Büro die Interessen der belarussischen Diaspora. Allerdings ist der Einfluss auf die innenpolitischen Prozesse in Belarus relativ gering.
Aber auch die Konkurrenz innerhalb der belarussischen Opposition nimmt zu. Tichanowskajas Opponenten machen sich die nachvollziehbare Unzufriedenheit der belarussischen Protestbewegung zunutze. Seit Beginn der Proteste sind zwei Jahre vergangen, es gibt keine Ergebnisse, die Repressionen nehmen zu, wir beobachten eine politische Massenemigration aus dem Land. Natürlich wird die Schuld bei ihr als Oppositionsführerin gesucht.
5. Hat das Lukaschenko-System immer noch Angst vor Protesten?
Ja. Bei diversen Anlässen wiederholt Lukaschenko, dass man sich nicht ausruhen dürfe, sondern die Repressionen fortsetzen müsse, weil der Feind sich verborgen habe und darauf lauere, dass die Regierung Schwäche zeigt. Das Regime hat keine Feedback-Mechanismen zur Gesellschaft. Deshalb wissen die Machthaber nicht, was wirklich in der Gesellschaft vor sich geht. Und weil sie die reale Situation nicht kennen, überzeichnen sie die Gefahr.
Hinzu kommen die außenpolitische Situation und die wirtschaftlichen Probleme durch die westlichen Sanktionen. Die einzige Antwort des Regimes auf diese Herausforderungen ist die Verstärkung der politischen Repressionen.
6. Was bedeutet die zunehmende Repression in einem Land, das schon länger als „letzte Diktatur Europas“ bekannt ist?
Man kann mehrere Beispiele anführen. So wurde ein Gesetz erlassen, das die Todesstrafe für den „Versuch eines Terroranschlags“ vorsieht. Der Begriff Terrorismus wird von den belarussischen Behörden äußerst weit gefasst, deshalb kann darunter jede oppositionelle Tätigkeit verstanden werden, zum Beispiel die Teilnahme an Protestaktionen. Auch Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja wurden nach „Terrorismus“-Paragrafen angeklagt. Im Moment steht die „Terrorgruppe“ von Nikolaj Awtuchowitsch vor Gericht. Dazu gehören ein Mann ohne Beine, eine Rentnerin und ein orthodoxer Priester. So sehen die „schrecklichen Terroristen“ aus.
Seit kurzem erlaubt es das Gesetz, Menschen, die die belarussische „Justiz“ nicht persönlich zu fassen kriegt, in ihrer Abwesenheit zu verurteilen. Zum Beispiel belarussische Freiwillige, die in der Ukraine kämpfen, oder die Schienenpartisanen. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna hat nachgerechnet, dass die neue Gesetzsprechung Prozesse in Abwesenheit nach 43 Artikeln erlaubt. Darunter fallen: Verschwörung, Genozid, Staatsverrat, Söldnertum.
Offenbar stehen die Behörden im Zuge der politischen Repressionen vor einem Problem. Es gibt eine klare Anweisung von Lukaschenko, den Grad der Repressionen aufrechtzuerhalten. Doch jene Bürger, die an den Protesten teilgenommen hatten, wurden entweder bereits verurteilt oder sind emigriert. Wo soll man neue Menschen für die Festnahmen herbekommen?
Um das Problem zu lösen, gehen die Silowiki in verschiedene Richtungen vor. Einerseits verurteilen sie die, die schon bestraft wurden und auf „schwarzen Listen“ stehen, zum zweiten Mal. Andererseits weiten sie die Repressionen auf immer neue gesellschaftliche Sphären aus. So werden zum Beispiel Menschen verhaftet, weil sie in den sozialen Netzwerken Kommentare zum Krieg in der Ukraine veröffentlichen, die nicht der offiziellen Position entsprechen.
7. Wie genau haben sich die Repressionen in den letzten zwei Jahren verändert?
Im Eilverfahren wurden repressive Gesetze erlassen. Nicht nur oppositionelle Aktivitäten wurden kriminalisiert, sondern das Andersdenken an sich. Der Begriff „Extremismus“ wird quasi uneingeschränkt auf jede Form der gesellschaftlichen Aktivität angewendet. So gelten zum Beispiel die „Diskreditierung von Staatsorganen und der Republik Belarus“ oder das „Schüren von sozialem Unfrieden“ et cetera als Extremismus.
Angeklagte nach „politischen“ Artikeln werden mit bis zu 18 Jahren Freiheitsentzug bestraft. In Belarus wurde die Zivilgesellschaft praktisch verboten und öffentliche Organisationen liquidiert. Jeden Tag gibt es Nachrichten von neuen Verhaftungen, Durchsuchungen, Gerichtsurteilen. Laute Prozesse gegen politische Opponenten finden hinter verschlossenen Türen statt.
Man geht dazu über, Menschen für Dinge zu verurteilen, die schon lange zurückliegen. Am 22. Juni stand Nikolaj B. in Janow vor Gericht, weil er vor fünf Jahren einen Beitrag von Radio Svaboda geteilt hatte. Die Journalistin Katerina Andrejewa wurde zu acht Jahren Haft aufgrund von „Staatsverrat“ verurteilt – wegen eines alten Artikels, der damals nicht einmal als Ordnungswidrigkeit betrachtet wurde. Damit haben die Behörden auch jene Rechtsnorm außer Kraft gesetzt, wonach die Gesetzgebung nicht rückwirkend gilt.
8. Hat die Protestbewegung eine Chance, einen politischen Wandel in Belarus zu erreichen?
Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Heute gibt es zwei Faktoren, die eine Gefahr für das herrschende Regime und eine Chance für die Protestbewegung darstellen: Einerseits würde ein möglicher Niedergang des Putin-Regimes in Russland infolge der Misserfolge im Krieg gegen die Ukraine dem Lukaschenko-Regime einen schweren Schlag versetzen. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2020 war es die Unterstützung Putins, die Lukaschenkos Macht im kritischen Moment maßgeblich gesichert hat. Das hat wiederum zu einer fatalen Abhängigkeit des belarussischen Regimes vom Kreml geführt. Deshalb würde sich eine Krise des russischen Regimes unweigerlich auch auf Belarus niederschlagen.
Zweitens, die drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Belarus durch die westlichen Sanktionen: Bisher war Russland die wichtigste Hilfsquelle für die belarussische Wirtschaft. Nun befindet sich die Russische Föderation selbst in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und kann Belarus nicht für alle Verluste entschädigen. Russland ist für Belarus inzwischen mehr zu einer Problemquelle als einer Quelle der Hilfe geworden. Die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation könnte infolgedessen sehr unerwartete Formen annehmen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Waleri Karbalewitsch
Übersetzerin: Jennie Seitz
Veröffentlicht am: 09. August 2022