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Bystro #42: Wie groß ist die Wirtschaftskrise in Belarus?

Im Zuge der Repressionen und der Gewalt, mit der Alexander Lukaschenko seit den historischen Protesten von 2020 gegen Medien, Zivilgesellschaft, Aktivisten und Opposition vorgeht, hat die EU sechs Sanktionspakete gegen die belarussische Führung verabschiedet. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine hat für die belarussische Wirtschaft enorme Auswirkungen, unter anderem, weil der für Belarus wichtige ukrainische Absatzmarkt weggebrochen ist oder weil Russland von massiven Sanktionen betroffen ist.  

Kann die russische Führung dennoch die wirtschaftliche Unterstützung für Lukaschenko fortsetzen? Welche Auswirkungen haben die westlichen Sanktionen auf Belarus? Ist ein Kollaps der belarussischen Wirtschaft denkbar? Diese und andere Fragen beantworten Robert Kirchner und Justina Budginaite-Froehly vom German Economic Team (GET) in einem Bystro.

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1. Wie ist es aktuell um die belarussische Wirtschaft bestellt?

Die belarussische Wirtschaft ist im letzten Jahr um 4,7 Prozent geschrumpft. Damit hat das Land den schwersten Einbruch seit den 1990er Jahren erlitten und wurde auf das Produktionsniveau von 2012 zurückgeworfen. Die Prognosen für 2023 reichen von einem weiteren – wenngleich geringeren – Rückgang bis zu einem leichten Wachstum. Alle Sektoren außer der Landwirtschaft entwickeln sich negativ. Sogar der Sektor für Informations- und Kommunikationstechnik, der traditionell als Wachstumstreiber der Wirtschaft galt, schrumpft derzeit massiv.
Die Struktur des Außenhandels hat sich ebenfalls drastisch verändert. Die Exporte in die EU sind sanktionsbedingt massiv eingebrochen (minus 75 Prozent), während die Exporte in die GUS-Staaten (hauptsächlich Russland) deutlich zugenommen haben. Auf der Import-Seite ist ein genereller Rückgang zu beobachten, was zum begrenzten Angebot an Waren und sogar zur Verknappung einiger Produkte führt.
Nach offiziellen Zahlen ist die Arbeitslosigkeit niedrig (4,5 Prozent im Jahr 2022) und geht wegen der nach Februar 2022 deutlich zugenommenen Emigration sogar zurück; allerdings sind diese Zahlen mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln.
Als Konsequenz der genannten Entwicklungen schrumpft der Lebensstandard der belarussischen Bevölkerung. Das verfügbare Einkommen sinkt aufgrund der weiterhin hohen Inflation. Die Reallöhne in einigen staatlichen Unternehmen sind zu Kriegsbeginn um rund 40 Prozent gesunken, haben sich aber später wieder stabilisiert. Auch der Konsum sinkt infolge der fallenden Einkommen.

2. Wie reagiert die belarussische Staatsführung auf die Krise?

Die belarussische Staatsführung versucht, die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren, weil davon die sozio-politische Stabilität des Landes stark abhängt. Hierbei werden aber meist administrative Maßnahmen gewählt, die häufig weitere Probleme nach sich ziehen.
Im Oktober 2022 wurden umfassende Preiskontrollen eingeführt, mit dem Ziel, die hohe Inflation einzudämmen. Die Maßnahmen haben kurzfristig geholfen, das offizielle Inflationsziel von 6 Prozent wurde jedoch nicht erreicht und bleibt auch für 2023 unrealistisch. Während die Zentralbanken weltweit auf hohe Inflation mit Zinsanhebungen reagieren, wurde dies in Belarus nicht in Betracht gezogen – der Zinssatz liegt aktuell bei 11 Prozent und wurde unlängst sogar gesenkt. Zudem hat die Regierung finanzielle Unterstützung für große staatliche Banken und staatliche Industrieunternehmen bereitgestellt. Mit Kapitalverkehrskontrollen wird versucht, die außenwirtschaftliche Stabilität zu erhalten und den Wechselkurs zu stabilisieren. Ein Kontrollmechanismus für Unternehmen mit Kapitalanteilen aus sogenannten unfreundlichen Ländern wurde eingeführt, um den Exodus von Unternehmen aus dem Land zu stoppen. 
Kürzlich wurde auch ein Importsubstitutionsprogramm gestartet, das den Kauf belarussischer Produkte vorsieht und so die Produktion im Lande zu stimulieren versucht, um ausbleibende Importe zu ersetzen. 

3. Können freie Unternehmer unter den aktuellen Bedingungen noch existieren?

Der stark steigende, repressive Einfluss des Staates auf die Wirtschaft erhöht das unternehmerische Risiko erheblich. Viele ausländische Unternehmen, die auf dem belarussischen Markt tätig waren, haben daher ihre Tätigkeit eingestellt bzw. deutlich reduziert. Generell leiden die belarussischen Unternehmen unter erheblichen Imageschäden, sie sind aus Sicht ihrer ausländischen Geschäftspartner „toxisch“ geworden. Dies verschlechtert das Geschäftsklima deutlich und führt oft zur Aufgabe bestehender oder künftiger Kooperation. Auch die Finanzsanktionen erschweren den internationalen Handel.  
Die Unternehmensgewinne sind deutlich geringer als in den Vorjahren, und die Unternehmensverschuldung ist relativ hoch. Zudem berichten private Unternehmen über einen gestiegenen Abgabendruck seitens des Fiskus. Darüber hinaus gab es im Jahr 2022 einen deutlichen Lageraufbau bei den Unternehmen aufgrund der Absatzschwierigkeiten, und einen erheblichen Abfluss von Unternehmenseinlagen bei den Banken. Insgesamt also sehr schwierige Rahmenbedingungen, die sich im Jahresverlauf verschlechterten.

4. Inwieweit zeigen die westlichen Sanktionen Wirkung?

Die westlichen Sanktionen betreffen den Handel, den Finanzbereich (Banken und Staat) sowie einzelne Personen und Unternehmen. Die Wirkung der Handelssanktionen ist sicher nicht schockartig, aber durchaus spürbar. Belarus hat seine profitabelsten Exportmärkte in den EU-Mitgliedstaaten und in der Ukraine für Kalidünger, raffinierte Ölprodukte und Holzerzeugnisse verloren. Wie viele der Güter sich umlenken lassen, und vor allem zu welchen Kosten, ist aufgrund der nicht zugänglichen Daten nicht genau erkennbar.  
Eine wichtige Rolle spielen auch die Finanzsanktionen. Einige Banken wurden vom SWIFT-System ausgeschlossen, die Goldreserven der Nationalbank und Geschäfte mit ihr wurden in der EU blockiert, wodurch letztendlich ein „Default“ von Belarus eintrat: Das Land konnte also seine vertraglich eingegangenen Verbindlichkeiten in Fremdwährung bei der Bedienung von staatlichen Schulden nicht begleichen. Hinzu kommen „over-compliance“-Effekte im Bankensektor, die Schwierigkeiten bei der Abwicklung der Transaktionen auch für diejenigen belarussischen Banken bereiten, die nicht direkt von den Sanktionen betroffen sind. Dies hat wiederum Rückwirkungen auf die zugrundeliegenden Warentransaktionen – wenn es keine Zahlung gibt, wird auch nichts geliefert.
Der durch zusätzliche Sanktionen im Logistikbereich blockierte Zugang zu den baltischen Häfen für die Exporte aus Belarus (z. B. Kalidünger) hat negative Auswirkungen auf die Industrieproduktion, die sich seit Februar 2022 im Sinkflug befindet. In der Summe ist der anfangs genannte Einbruch der Wirtschaft vor allem auf die Sanktionen zurückzuführen. 

5. Inwieweit fängt Russland die Wirkung der Sanktionen ab?

Wegen der Sanktionen hat der Handel zwischen Belarus und Russland deutlich zugenommen. Obwohl beide Länder keine Daten zu den gehandelten Warenmengen veröffentlichen, kann man sehen, dass der wertmäßige Handelsumsatz merklich zugenommen hat. Allerdings bedeutet dies für Belarus keine vollständige Kompensation der Verluste durch den Wegfall der Märkte in Europa und der Ukraine. 
Belarus ist auch auf die Hilfe Russlands bei der Reorganisation der Transporte von belarussischem Kalidünger und anderer sanktionierter Waren auf Drittmärkte angewiesen. Diese Exporte wurden durch russische Häfen und auf die russische Eisenbahninfrastruktur umgelenkt. Russland hat Minsk auch einen Kredit für Maßnahmen zur Importsubstitution gewährt. Zudem wurden Vereinbarungen mit Russland über die Beibehaltung von Sondertarifen für Energielieferungen für Belarus getroffen. 
Darüber hinaus hat Minsk ein Dokument zur Ausweitung der Integration mit Russland unterzeichnet, dass es belarussischen Produzenten ermöglicht, ihre Ölprodukte auf dem russischen Markt zu den gleichen Bedingungen zu verkaufen wie russische Unternehmen. Dadurch wird der belarussische Staatshaushalt im laufenden Jahr 600 Millionen US-Dollar an Subventionen einnehmen. Durch solche Schritte verflechtet sich Belarus wirtschaftlich immer stärker mit Russland. 

6. Kann Russland Belarus´ Wirtschaft auch langfristig unterstützen?

Russland unterstützt Belarus schon seit langem über vielfältige Instrumente, neben den Energiepreissubventionen zum Beispiel über langfristige Kredite. Dies wird tendenziell zunehmen, da Belarus von internationalen Finanzmärkten abgeschnitten ist und von den wichtigsten Ratingagenturen auf „Default“ herabgestuft wurde, das heißt ein Zahlungsausfall festgestellt wurde. Dementsprechend steigt auch der Einfluss Russlands, zum Beispiel wenn es um die Verschiebung von Schuldenrückzahlungen geht. Man kann davon ausgehen, dass Russland langfristige Ziele in Belarus hat. Allerdings basieren sie nicht auf der Sorge um das Wohlergehen von Belarus, sondern um die weitere – vor allem politische – Einflussnahme auf das Nachbarland.  
Die Unterstützung durch Russland ist dabei mit hohen politischen Kosten für Belarus verbunden. Die Integrationsprozesse des Unionsstaates schreiten voran. Es gibt neue Initiativen zur Vertiefung der Zusammenarbeit in den Bereichen Industrie, Landwirtschaft, Verkehr und Kernenergie. Außerdem haben sich Russland und Belarus über eine weitere Vereinheitlichung des Steuer- und Zollrechts verständigt, die der russischen Steuerverwaltung Zugang zu den Transaktionen sämtlicher belarussischer Steuerzahler verschafft. In der Praxis wird dies also die Unterordnung des belarussischen Systems unter das russische bedeuten. Manche sprechen dementsprechend von einer „schleichenden Okkupation“ von Belarus durch Russland in allen öffentlichen Bereichen. 

7. Ist ein Kollaps der belarussischen Wirtschaft denkbar?

Ich denke, der Begriff „Kollaps“ weckt falsche Erwartungen und sollte vermieden werden. Gleiches gilt zur Lage in Russland, wo nach Kriegsbeginn und den folgenden Sanktionen viele Beobachter von einem schnellen Kollaps ausgingen, der bekanntermaßen nicht eingetreten ist. Die aktuelle Lage und der Ausblick sind eher durch ein langsames „Dahinsiechen“ gekennzeichnet, also eine Situation der Stagnation ohne Aussicht auf neue Wachstumstreiber. Zunehmend hängt die belarussische Wirtschaft von der Lage der russischen Wirtschaft ab, deswegen sind die Entwicklungen in Russland von großer Bedeutung auch für Belarus. Die sich anbahnenden Probleme durch die im Vorjahr eingeführten Ölsanktionen werden sich indirekt zweifellos auch auf Belarus auswirken. 
Darüber hinaus wird die Lage der belarussischen Wirtschaft davon abhängen, ob eventuell weitere Sanktionen gegen das Land in der Zukunft verhängt werden. Andererseits zeigt die bisherige Erfahrung aber auch, dass sanktionierte Länder fähig sind, sich an Sanktionen anzupassen und sie teilweise zu umgehen. Belarus findet immer noch Käufer für seine von der EU sanktionierten Produkte wie Kalidünger und Ölprodukte zum Beispiel in China, Brasilien und Indien. Hier wird zu beobachten sein, ob der Westen stärker als bisher das Thema „Sanktionsumgehung“ auf die Tagesordnung setzt.

 

Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Text: Justina Budginaite-Froehly und Robert Kirchner
Veröffentlicht am 21.03.2023

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Der belarussische Sonderweg

Auch nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit hält die Republik Belarus überwiegend an planwirtschaftlichen Methoden der Wirtschaftslenkung fest. Marktwirtschaftliche Elemente halten nur schrittweise Einzug, ein großer Teil der Arbeitnehmer ist in staatseigenen Betrieben angestellt und die autoritäre Regierung ist nach wie vor der größte Investor des Landes. Doch obwohl das System von Krediten abhängig ist und die Betriebe teilweise massiv veraltet und nicht konkurrenzfähig sind, ist die belarussische Wirtschaft eine zentrale Stütze von Präsident Alexander Lukaschenko – der ökonomische Sonderweg ermöglicht also den politischen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unternahmen die meisten osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren Wirtschaftsreformen, die sich mit der Abschaffung der staatlichen Preis- und Mengenplanung am marktwirtschaftlichen Modell orientierten.1 Die Folge waren zunächst starke Einbrüche in Produktion und Beschäftigung. Im Unterschied dazu wandte sich die in Belarus im Amt verbliebene sowjetische Partei- und Wirtschaftsnomenklatura gegen eine „Schocktherapie“ und wählte einen schrittweisen, graduellen Transformationsweg, wodurch Produktionskapazitäten, Lieferverbindungen und Arbeitsplätze möglichst bewahrt werden sollten. Diesen Sonderweg hatte seit 1990 Ministerpräsident Wjatschaslau Kebitsch eingeschlagen, der Gorbatschows Perestroika-Politik ablehnte. Seinen Kurs setzte Alexander Lukaschenko fort, dem es 1996 gelungen war, die auf demokratische und marktwirtschaftliche Reformen dringenden Kräfte endgültig auszuschalten.2

Die großen Staatsbetriebe, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten auf sich vereinen, werden in Belarus bis heute von staatlichen Behörden kontrolliert und gelenkt.3 Sie haben Entlassungen zu vermeiden und die Löhne regelmäßig zu erhöhen. Das ihnen vorgegebene Geschäftsmodell setzt auf große Produktionsmengen. Vorprodukte müssen sie von ihnen zugewiesenen Lieferanten beziehen, bei denen es sich vorwiegend ebenfalls um Staatsbetriebe handelt. Dies gilt auch für die rund 1500 landwirtschaftlichen Großunternehmen, in denen Getreide angebaut und Viehzucht betrieben wird.4

Quellen5

Die wegen ihres nicht mehr zeitgemäßen Produktsortiments und des hohen Personalbestands überwiegend unrentablen Staatsbetriebe – Ausnahmen sind die Lieferanten von Erdölprodukten und Kalidünger – erhalten verbilligte Kredite von staatlichen und privaten Banken, für deren Kapitalausstattung wiederum der Staat sorgt. Doch nicht nur Betriebe, die sich vollständig in Staatsbesitz befinden, sondern auch halbstaatliche und rein private Unternehmen mussten bis 2007 staatlichen Stellen Bericht erstatten. Sie alle hatten staatliche Entwicklungspläne hinsichtlich Produktionsvolumen, Exporten und Lohnsteigerungen zu erfüllen.

2007: Teilweise Deregulierung der Wirtschaft

Erst als sich die Wirtschaftslage zunehmend verschlechterte, entschloss sich die Staatsführung 2007 zu einer schrittweisen Deregulierung von Teilen der Wirtschaft.6 Staatlich festgesetzte Preise wurden jetzt nur noch für Produkte aufrechterhalten, die der Staat als sozial wichtig einstufte, etwa Lebensmittel oder Medikamente. Die Registrierung neuer Unternehmen wurde vereinfacht, die Berichtspflicht für private und halbstaatliche Unternehmen abgeschafft. Die staatseigenen Großbetriebe der verarbeitenden Industrie erhalten jedoch weiter formelle staatliche Anweisungen. Auch werden bis heute Privatbetriebe – ausgenommen ist die vom Regime umworbene IT-Branche – mit Hilfe von administrativem Druck, oktroyierten Vereinbarungen und informellen Absprachen gelenkt.

Zur angespannten Wirtschaftssituation des Jahres 2007 hatte auch der russisch-belarussische Energiestreit beigetragen. Hatte Russland Belarus bis dahin Erdgas weit unter Weltmarktpreisen verkauft und das Land somit stark subventioniert, drängte Gazprom nun auf eine Verdreifachung des Gaspreises. Auch sollte ein Zoll auf Öleinfuhren nach Belarus erhoben werden. In den folgenden Verhandlungen wurde jedoch der Zwiespalt deutlich, in dem sich der Kreml gegenüber der belarussischen Führung befand: Einerseits wollte Russland seine Wirtschaftsbeziehungen zum „Nahen Ausland“ marktwirtschaftlich gestalten und somit deren Subventionierung abschaffen, andererseits wollte es die Hinwendung dieser Länder zum Westen aus militärischen und politischen Gründen nicht tolerieren. Lukaschenko verstand es damals wie auch später, diese Zwangslage für seinen Machterhalt auszunutzen. Der Gaspreis wurde lediglich verdoppelt, wodurch die Subventionen zwar reduziert, aber nicht beendet wurden, und auch in Bezug auf den Ölzoll konnte ein Kompromiss mit Moskau erzielt werden.

Ergebnisse des wirtschaftlichen Sonderwegs

Obwohl die politische Führung insbesondere bei der Privatisierung der Staatsbetriebe und bis Mitte der 2000er Jahre auch bei der Preisliberalisierung eine andere Wirtschaftspolitik betrieb als Russland, folgte die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung in Belarus in den vergangenen 30 Jahren weitgehend derjenigen seines östlichen Nachbarn. Zwischen 1991 und 1995 verzeichnete Belarus wie nahezu alle Staaten des postsowjetischen Raums einen starken Produktionseinbruch. Allerdings gelang in Belarus, früher als in Russland, zwischen 1996 und 2000 eine deutliche Erholung mit durchschnittlichen Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts von sieben Prozent pro Jahr. Zwischen 2000 und 2008 erlebte Belarus dann – parallel zu Russland – ein stürmisches Wirtschaftswachstum und ab 2011 ebenfalls im Gleichschritt mit Russland nahezu eine Stagnation der gesamtwirtschaftlichen Produktion.

Als sich im Jahr 2007/2008 eine weltweite Finanzkrise abzuzeichnen begann, setzte die Regierung auf die Erhöhung der Investitionen in Maschinen und Gebäude. So wurde der Anteil der Investitionen zwischen 2007 und 2014 auf über 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert. Doch diese Maßnahmen konnten den Rückgang der Wachstumsraten nicht verhindern. Bezahlt wurde das Manöver durch niedrig verzinste Kredite inländischer Banken sowie durch Kreditaufnahme im Ausland, was zu einer erheblichen Steigerung der Außenverschuldung führte. Die Kredite kamen vor allem aus Russland, der Eurasischen Wirtschaftsunion und China. Auch niedrige Preise für Energielieferungen aus Russland sowie der Verkauf der Gastransitleitungen an Russland fingen die Finanznöte des Landes auf; allein der Preisnachlass auf Öl- und Gasimporte aus Russland summierte sich zwischen 2001 und 2016 auf etwa 100 Milliarden US-Dollar.

Doch der Staatskapitalismus führte das Land in eine institutionelle Falle, weil er die überkommene Wirtschaftsstruktur konservierte. Die Orientierung an der Erfüllung zentraler Anweisungen und die Stärkung der Kontroll- und Strafverfolgungsbefugnisse der staatlichen Verwaltung schränkten die wirtschaftliche Flexibilität ein. Die Folge war eine Vergrößerung des Rückstands gegenüber Ländern mit funktionierenden Marktmechanismen, die sich schneller an die Herausforderungen und Realitäten der globalen Wirtschaft anpassen konnten.7



*Polen: 2018
**Je höher der Index, desto geringer ist die wahrgenommene Korruption
Quellen8

Sonderweg: Das Herrschaftssystem

In Belarus existiert wie in Russland und in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken ein neopatrimoniales politisches System, was bedeutet, dass Herrschaft durch eine Kombination von persönlicher Macht und bürokratischer Regelung ausgeübt wird.Der oberste Patron – hier Lukaschenko – steht an der Spitze einer Pyramide von Netzwerken, die von untergeordneten Patronen kontrolliert werden.10 Die Machtelite schöpft ökonomische Renten vorzugsweise aus dem Rohstoff- und Energiegeschäft ab. Das patrimoniale Herrschaftsmodell in Belarus beruht aber anders als jenes in Russland nicht auf einem Arrangement des obersten Patrons mit Oligarchen, noch wie jenes in Zentralasien auf informellen Abkommen zwischen der Staatsführung und regionalen Clanstrukturen. Lukaschenko bedient sich vielmehr einer Schicht hoher Funktionäre, die er in Behörden und Betrieben eingesetzt hat und nach Belieben austauscht.

Korruption wird in Belarus weniger geduldet als in anderen neopatrimonialen Herrschaftssystemen des postsowjetischen Raums. Häufige Antikorruptionsprozesse dienen der Kontrolle der Eliten. Wenn hochrangige Funktionäre entlassen werden, kann Lukaschenko sich als Kämpfer für den Volkswillen und gegen die „habgierige Elite“ profilieren. Jedoch werden die in Ungnade gefallenen Akteure später oft auf andere gutbezahlte Posten versetzt.11

Lukaschenko muss keine Rücksicht auf Interessengruppen nehmen und kann politische und wirtschaftliche Entscheidungen unter dem alleinigen Gesichtspunkt des Machterhalts treffen.12 Dank dieser Methode ist der im internationalen Vergleich extrem große Sektor der Staatsbetriebe neben dem Sicherheitsapparat sein wichtigstes Herrschaftsinstrument. Gerade in der Provinz kann über Staatsbetriebe besonders effektiv politische Kontrolle ausgeübt werden, da sie dort mitunter die einzigen Arbeitgeber sind. Auch aus diesem Grund sind keine tiefgreifenden Reformen der belarussischen Wirtschaft zu erwarten, solange Lukaschenko an der Macht ist.


Anmerkung der Redaktion:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 

Zum Weiterlesen
Osteuropa, Heft 10-11, 2020, insbesondere mit den Beiträgen von Astrid Sahm, Petra Stykow, Fabian Burkhardt/Maryia Rohava, Valerij Karbalevič und Roland Götz.

1.Dieser Text beruht in Teilen auf Götz, Roland (2020): Staatskapitalismus à la Belarus: Sonderweg, Umweg oder Sackgasse, in: Osteuropa, 10-11, 2020, S. 35–60 
2.Timmermann, Heinz (1997): Belarus: eine Diktatur im Herzen Europas?, in: Berichte des BIOst, 10/1997, Köln, S. 17–21 
3.International Monetary Fund: IMF Country report 17/384, Washington D.C. 2017, S. 33 ff.. Unter Staatsbetrieben werden hier Betriebe verstanden, die entweder vollständig oder mehrheitlich in Staatseigentum stehen. Die amtliche belarussische Statistik zählt dagegen Beschäftigte in Betrieben, an denen Privatpersonen oder private Firmen Anteile halten, als Beschäftigte im privaten Sektor, und nennt daher nur einen Anteil der staatlich Beschäftigten von 39 %, siehe das Statistische Jahrbuch zu Arbeit und Beschäftigung in Belarus, Minsk 2020, S. 61. Ebenso verfährt die amtliche Statistik beim Ausweis der industriellen Produktion. Sie rechnet nur 13 % der staatlichen Industrie zu, nicht jedoch die Produktion in Industriebetrieben, die auch private Anteilseigner haben. Addiert man beide Werte, so erhält man einen staatlichen Anteil von 66 % an der Industrieproduktion, siehe das Statistische Jahrbuch der Republik Belarus, Minsk 2020, S. 240 
4.Takun, Anatoli (2018): Agricultural sector in Belarus 
5.Quelle: Wikipedia; für Zahlen für 2019 vgl. Zautra.by 
6.Lindner, Rainer (2007): Blockaden der „Freundschaft“: Der Russland-Belarus-Konflikt als Zeitenwende im postsowjetischen Raum, in: SWP-Aktuell 3/2007, Berlin 
7.Havrylyshyn, Oleh (2007): Fifteen Years of Transformation in the Post-Communist World: Rapid Reformers Outperformed Gradualists, Washington D.C. 
8.The World Bank: Indicators; Belstat: Vybrosy parnikovych gazovUmweltbundesamt; Transparency International: Corruption perceptions index 
9.Der Regimetyp des Neopatrimonialismus wurde, ausgehend von Max Webers Unterscheidung von patrimonialer und bürokratischer Herrschaft, 1973 von Shmuel Eisenstadt eingeführt und zunächst zur Charakterisierung lateinamerikanischer und afrikanischer Regime verwendet. Neopatrimoniale Strukturen im postsowjetischen Raum erläutert Hale, Henry (2015): Patronal Politics: Eurasian regime dynamics in comparitive perspective, New York, S. 95 ff. 
10.Leukavets, Alla (2016): Machtgruppen in der belarussischen Politik, in: Belarus-Analysen 29, 20.12.2016, S. 2–5 
11.ebd. 
12.Frear, Matthew (2018): Belarus under Lukashenka: Adaptive Authoritarianism, London/New York, insbesondere S. 49–62 
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