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Lukaschenko auf dem Weg zum Totalitarismus: Was kann ihn stoppen?

Im letzten Jahr hat sich die Entwicklung des autoritären Regimes von Alexander Lukaschenko in Richtung Totalitarismus zusätzlich beschleunigt. Die Regierung sieht keinen Grund, diese Entwicklung zu stoppen, und dringt in alle möglichen Bereiche vor, einschließlich des Privatlebens der Menschen, ihrer Arbeitsbeschäftigung, ihrer Auslandsreisen, ihrer Bildung oder ihres historischen Gedächtnisses.

Der belarussische Politologe Artyom Shraibman analysiert, wie die Elemente des klassischen Totalitarismus durch die einer Diktatur im digitalen Zeitalter erweitert werden und ob dieser Prozess überhaupt gestoppt werden kann.

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Lukaschenko predigt Einheit, spaltet sein Land aber weiter / Foto © president.gov.by

Ende 2022 beschrieb ich in einem dekoder-Artikel detailliert die zahlreichen Merkmale des totalitären Systems, die auf das Regime Alexander Lukaschenkos damals zutrafen. Dabei ging es nicht nur um das Ausmaß von tiefgreifenden Repressionen, wie Belarus sie seit der Stalin-Ära nicht mehr erlebt hatte, sondern auch um andere, weniger offensichtliche Merkmale. Regierungsnahe Aktivisten und professionelle Denunzianten beteiligten sich nun an den Repressionen und unterrichteten die Machthaber, auf wen sie ein Auge haben sollten.

Lukaschenko verankerte in der Verfassung ein neues, ohne Wahlen bestelltes Machtorgan, die Allbelarussische Volksversammlung – eine Art Hybrid aus dem sowjetischen Plenum des ZK der KPdSU und dem chinesischen Nationalen Volkskongress. Außerdem wurde landesweit ein System zur Überprüfung der politischen Unbedenklichkeit bei Neueinstellungen eingeführt. Mit einem Vermerk über Illoyalität oder Teilnahme an Protesten bekommt man nun keine Stelle im staatlichen Sektor mehr.

Im Verlauf des Jahres 2023 vermehrten sich die Anzeichen für eine Bewegung Richtung Totalitarismus. Dieser Trend war als Reaktion des autoritären Organismus auf die Erschütterungen von 2020 auszumachen, hatte sich dann aber nach einer ganz eigenen Logik weiterentwickelt. Der Prozess funktioniert exakt nach der Orwell’schen Formel „der Zweck der Macht ist die Macht“. Angesiedelt in einem Raum ohne Grenzen sieht die autoritäre Macht keinen Grund innezuhalten und dringt in Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein, die sie vorher nicht berührte. Hier findet der belarussische Staat neue Nischen, um Verbote einzuführen, auch im Privatleben der Menschen, in der Bildung der Kinder, dem historischen Gedächtnis sowie der Berufs- und Reisefreiheit.

Digitale Diktatur und Ausreisehindernisse

Bereits seit drei Jahren erweitern die belarussischen Geheimdienste ihren Zugriff auf alle nur möglichen Datenbanken, die persönliche Informationen enthalten. Direkt nach den Protesten 2020 ließ die Regierung die Informationen aller Videoüberwachungskameras des Landes in ein System einfließen, mit dem gesuchte Personen mithilfe von Gesichtserkennungssoftware schnell identifiziert werden können. Ende 2022 erhielten die Geheimdienste das Recht des dauerhaften Zugriffs auf faktisch jede beliebige elektronische Datenbank. Theoretisch gab dieser Erlass Lukaschenkos den Silowiki die Möglichkeit, nicht nur auf Anfrage, sondern ständig Zugriff auf die Datenbanken von Krankenhäusern, Banken, Mobilfunkanbietern, Kurier- und Speditionsdiensten zu haben – mit anderen Worten also die volle Kontrolle über den digitalen Fußabdruck jedes Einwohners von Belarus. Im August 2023 unterzeichnete Lukaschenko einen Erlass, der den Sicherheitskräften Zugriff auf das Verwaltungssystem aller Banktransaktionen im Land gewährt. Die Geheimdienste erhalten die Möglichkeit, jede Zahlung bis zu zehn Tage lang zu blockieren, wenn der Verdacht auf einen Gesetzesverstoß vorliegt. 

Ein weiteres klassisches Merkmal totalitärer Systeme ist die Ausreisebeschränkung der Bürger. Das belarussische System hat bislang keine Auslandsreisepässe und Ausreisevisa, wie es sie beispielsweise in der UdSSR gab. Dennoch werden die Auslandsreisen der Belarussen sehr viel gewissenhafter kontrolliert. Seit Frühjahr 2023 nach einer Drohnenattacke auf ein russisches Flugzeug auf dem belarussischen Flugplatz Matschulischtschi überprüfen die Silowiki stichprobenartig die Mobiltelefone einreisender und ausreisender Menschen an den Grenzübergängen. Finden sie etwas Verbotenes, verhaften sie die Person. Vorrangig unterliegen diesen verstärkten Kontrolle diejenigen, die bereits einmal aus politischen Gründen verhaftet wurden, sowie Bürger, die eine Verbindung zur Ukraine haben: die häufig  dorthin reisen, einen ukrainischen Pass oder eine Aufenthaltserlaubnis haben. 

Im Mai 2023 wurde ein Gesetz beschlossen, das den KGB berechtigt, die Ausreise einer Person „im Interesse der nationalen Sicherheit“ für die Dauer eines halben Jahres einzuschränken. Seit November dürfen einige Staatsbedienstete, Leiter staatlicher Betriebe und alle Silowiki Belarus nur mit dem Einverständnis ihres Vorgesetzten verlassen. 

Geschichtsrevision als Teil der ideologischen Doktrin

Vor einem Jahr noch schrieben wir, dass die Entwicklung des belarussischen Regimes zum Totalitarismus unvollständig bleibt, da eine Schlüsselkomponente fehlt: eine mobilisierende Ideologie, die den gesamten öffentlichen Raum, den Bildungssektor und die Propaganda durchdringt. Diese Einschätzung ist weiterhin aktuell. Doch werden einzelne Komponenten eines vollwertigen ideologischen Fundaments immer deutlicher, zumindest in der Schaffung eines offiziellen historischen Narrativs und, mit dessen Hilfe, in der Indoktrinierung der Schüler. 

In dieser Mischung aus sowjetischem und prorussischem Geschichtsbild wurde die belarussische Staatlichkeit nur dank des antiwestlichen Bündnisses mit Moskau möglich. Die Helden der belarussischen Geschichte, die gegen das Russische Imperium kämpften und die bis vor Kurzem noch offiziell geehrt wurden, wurden nun zu Feinden erklärt. Dazu gehören zum Beispiel die Anführer der antirussischen Aufstände im 18. und 19. Jahrhundert, Tadeusz Kościuszko und Kastus Kalinouski. Im Mai 2023 schlug der Chef der Präsidialadministration Igor Sergejenko vor, diese Personen aus dem Pantheon der Nationalhelden zu streichen, ebenso die Magnaten aus dem Geschlecht der Radsiwill, unter denen die belarussischen Gebiete im Großfürstentum Litauen vom 15.–17. Jahrhundert eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte erlebten. Igor Sergejenko verglich Kalinouski mit Stepan Bandera, dem zentralen Antihelden des historischen Narrativs des Kreml. 

Jeder historische Diskurs, der an politischen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, braucht einen äußeren Feind

Seit September 2023 finden diese Ansichten Niederschlag in den neuen Instruktionen des Bildungsministeriums für Geschichtslehrer an belarussischen Schulen. Literarische Werke belarussischer Klassiker, die den Kampf gegen den russischen Imperialismus preisen, werden als „extremistisch“ bezeichnet und verboten. Romane, die ein positives Bild von Kalinouski zeichnen, werden aus dem Lehrplan verbannt. Die Regierung änderte auch die Regelungen für Touristenführer und die Organisation von Ausstellungen in Museen. Museumsmitarbeiter geraten unter anderem bei Führungen in Konflikt mit dem Gesetz, wenn sie vom offiziellen Geschichtsnarrativ abweichen. 

Jeder historische Diskurs, der an politischen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, braucht einen äußeren Feind. Für Lukaschenkos Regime ist Polen ein solcher Feind, ein ewiger Kolonisierer belarussischer Erde und Unterdrücker der belarussischen Kultur. Die Regierung ließ sogar einen Spielfilm produzieren, Auf der anderen Seite des Flusses (russ. Na drugom beregu) – über das Leiden der Bewohner von Westbelarus unter polnischer Herrschaft in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Im Herbst 2023 wurde dieser Film als Pflichtveranstaltung Schülern und Studenten im ganzen Land vorgeführt. 

Der Mensch ist Ressource, Wünsche zählen nicht

Durch das demografische Tief – also die geringe Anzahl junger Menschen im arbeitsfähigen Alter – und die massenhafte Abwanderung von Fachkräften ins Ausland in den letzten Jahren steht die belarussische Regierung vor dem Problem eines ernstzunehmenden Arbeitskräftemangels, vor allem im medizinischen Bereich. Die totalitäre Logik der Weiterentwicklung des Regimes diktiert ein Verhältnis zum Menschen als ökonomische Ressource, für deren Lenkung nicht unbedingt die Berücksichtigung persönlicher Prioritäten der Bürger nötig ist. 

Ein weiterer Teil im Kampf gegen das demografische Problem ist die konservative Wende im Umgang mit Familie, LGBT und Gender

Im September 2023 wies Lukaschenko an, den Universitätsabsolventen verstärkt Arbeitsplätze zuzuweisen. Bis heute müssen belarussische Studenten, die auf Staatskosten studiert haben, nach dem Abschluss zwei Jahre lang an einem vom Staat zugewiesenen Ort ihr Studium abarbeiten (sog. raspredelenije). Häufig werden die Absolventen an Orte auf dem Land verteilt, um dort das Problem des Fachkräftemangels zu lösen. Es ist möglich, sich von dieser Zuweisung zu befreien, indem man eine hohe Ausgleichssumme an den Staat zahlt, die die Kosten des Studiums übersteigt.

Nun hat Lukaschenko festgelegt, dass die Dauer der Pflichtzuweisung verlängert wird und die Regel für alle Absolventen gilt, unabhängig davon, ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben. Junge Ärzte müssen seit Oktober 2023 nun nach Abschluss der Facharztausbildung fünf Jahre lang ihr Studium abarbeiten. 

Ein weiterer Teil im Kampf gegen das demografische Problem ist die konservative Wende im Umgang mit Familie, LGBT und Gender. Die belarussische Regierung hatte, im Unterschied zum Kreml, diesen Themen nie große Bedeutung beigemessen, nun aber beschäftigt sie sich damit. An Schulen soll ein Kurs zu traditionellen Familienwerten eingeführt werden, den die Generalstaatsanwaltschaft ausarbeitet. Das Regime teilte zudem mit, dass bald „Propaganda“ für LGBT und Kinderlosigkeit verboten werden soll. Die Silowiki haben begonnen, Ausprägungen „nichttraditioneller“ Werte in den Medien aufzuspüren und zu verfolgen – es traf eine Reklame mit einem Mann im Kleid, oder einen Blogger und Sänger, der rosafarbene Kleidung trägt. Belarussische Staatsbeamtinnen rufen eine nach der anderen die Frauen dazu auf, mehr Kinder zu gebären und früher damit zu beginnen. 

Ist ein Rückgang der Repressionen vorstellbar?

Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, in welche Richtung sich ein Regime wie das belarussische in Zukunft entwickeln wird. Personalistische Regime sind stark vom Schicksal ihres Herrschers abhängig. Und auch wenn die Geschichte erfolgreiche Fälle kennt, in denen sich das Regimes unter einem Nachfolger repliziert hat (Venezuela, Nordkorea, Iran, Syrien), gibt es auch zahlreiche Gegenbeispiele, wie Stalins UdSSR oder das maoistische China. Der institutionelle Rahmen dieser Regime blieb nach dem Tod des Führers erhalten, aber die Brutalität der Repressionen und die Totalität der staatlichen Kontrolle ließen entscheidend nach. Der belarussische Fall sticht zudem noch dadurch heraus, dass die Stabilität des Minsker Regimes von der Unterstützung des Moskauer Schutzherren abhängt. Der Krieg und Putins Alter erhöhen hier den Grad der Unberechenbarkeit. 

Dabei ist durchaus ein Rückgang der Repressionen auch unter Lukaschenkos Führung  vorstellbar. Immerhin hat er das in der Vergangenheit bereits getan, um die Beziehungen zum Westen zu reaktivieren. Heute allerdings wäre eine Freilassung der politischen Gefangenen wohl kaum ausreichend für eine vollständige Normalisierung, berücksichtigt man den Nachgang von 2020, die künstlich hervorgerufene Migrationskrise an den EU-Außengrenzen, die Zwangslandung der Ryanair-Maschine 2021 und die Beteiligung am russischen Krieg. Im Falle eines für Russland ungünstigen Kriegsausgangs in der Ukraine oder einer Krise im belarussisch-russischen Verhältnis könnte Lukaschenko durchaus wieder eine Bereitschaft zum Dialog mit dem Westen signalisieren, und dafür auch die Repressionen im Land reduzieren.  

Die Silowiki könnten an einem gewissen Punkt außer Kontrolle geraten und wichtige Interessen der zivilen Bürokratie antasten

Ein zweiter Weg zum selben Ergebnis könnte sein, dass die Repressionen die für das System tragbaren Grenzen überschreiten. Ende der 1930er Jahre endete Stalins Großer Terror in der UdSSR nicht, weil Stalin den Dialog mit dem Westen suchte, sondern weil es für die Parteinomenklatura unerträglich geworden war, in Angst zu leben; die Repressionen hatten zu viele der eigenen Leute vernichtet. Dieses Szenario ist für Belarus nicht ausgeschlossen, die Silowiki könnten an einem gewissen Punkt außer Kontrolle geraten und wichtige Interessen der zivilen Bürokratie antasten.

Allerdings ist der Grad der Repressionen, der aus taktischen Gründen reguliert werden kann, bei Weitem nicht die einzige Komponente dieses Systems. Stalins Regime blieb auch nach dem Großen Terror eine totalitäre Diktatur. Sie blieb erhalten, weil sie maximal auf die Psychologie des kommunistischen Führers ausgerichtet war und ihm die verständlichste Art der Regierung war. Leider kann man dasselbe über die Elemente des Totalitarismus sagen, die Lukaschenko wiedererweckt hat. Für ihn ist es bequem, genau solch einen Staat zu regieren, der immer mehr an das sowjetische System erinnert, in dem er aufgewachsen ist.   

Es ist schwierig, sich einen Anreiz vorzustellen, der Lukaschenko dazu bringen würde, diesen Prozess umzukehren: die von niemandem gewählte Allbelarussische Volksversammlung aufzulösen, den Geheimdiensten die Vollmachten zur totalitären Überwachung der Gesellschaft zu entziehen, das prorussische historische Narrativ aufzugeben, die Pflichtzuweisung der Absolventen oder die Überprüfung der politischen Loyalität bei der Arbeitsaufnahme abzuschaffen. All diese Attribute des Regimes zu demontieren, wird wohl die Aufgabe der nächsten belarussischen Regierung sein.

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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