Seit Anfang Dezember 2020 befindet sich Alhierd Bacharevič zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Julia Cimafiejeva, in der steirischen Stadt Graz. Beide haben von Anfang an die Proteste in ihrer Heimat gegen das autokratische System Alexander Lukaschenkos unterstützt. In einem Interview für Radio Svaboda sagte Bacharevič, nachdem er in Österreich angekommen ist: „Ich habe Belarus psychisch gebrochen und krank verlassen, voller Hass auf den Staat, voller Schmerz und Schuld. Ich denke, diese Wunde wird niemals heilen. Aber meine persönlichen Wunden sind nichts im Vergleich zu den Wunden derer, die körperlich gefoltert und zerstört wurden … Wir leben zwischen einem schrecklichen Trauma und einer hellen Hoffnung.“
Die protestierenden Belarussen bezeichnen diejenigen, die im Namen von Lukaschenko Gewalt anwenden, als „Faschisten“. Auf der anderen Seite diffamiert Lukaschenkos Machtapparat die Protestierenden als „Faschisten“. Ein Wort also mit einer schaurigen, wechselvollen Geschichte, auch in Belarus. In einem Essay für die belarussische Wochenzeitung Swobodnyje nowosti Plus befasst sich Bacharevič mit dem Faschismus, der ihn seit seiner Kindheit begleitet.
Ihre Gesichter bleiben dir sofort in Erinnerung, du prägst sie dir förmlich ein, wider den eigenen Willen – so wie Kinder Schimpfwörter auf der Straße lernen. Ihre müden Zungen sind behäbig wie ihre staatseigenen Fahrzeuge. Dafür kennen sie die wichtigsten Wörter.
„Nicht wir sind die Faschisten“, erklärt ein hoher Polizeibeamte siegessicher in einem Interview. „Ihr seid die Faschisten!“
Punkt. Er hat alles gesagt. Etwas huscht über sein müdes Gesicht. Ein Ausdruck von . . . etwas Kindlichem, Lebendigem. Das ist doch eine Beleidigung! Eine einfache kindliche Beleidigung. Und eine genauso kindliche, sture Argumentation, eine genauso ausgefeilte Formulierung. Wie hieß es doch in der Kindheit: „Was man sagt, ist man selber!“, „Selber, selber, lachen alle Kälber.“ Kurz gesagt: „Nicht wir sind das. Ihr seid das. Selber schuld.“
Ihr, die Faschisten.
Es ist klar, an wen er sich damit wendet. An uns. Das Volk. Das ist alles, was er uns nach den zwei Monaten andauernden Straßenprotesten sagen kann. Er ist doch auch ein Teil dieser Proteste: Er nimmt daran aktiv teil, wenn auch auf der anderen Seite. Aber er weiß sehr gut, wie die Bevölkerung ihn und seine Befehlsempfänger nennt. Man nennt sie bereits offen so, ohne Angst zu haben; man schreit dieses treffende Wort, spuckt es ihnen hinterher.
„Faschisten!“
Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus
Wir riefen es ihnen in den Neunzigern zu. Ihnen, den Menschen in Uniform. Wir riefen es ihnen sechsundzwanzig Jahre lang zu. Ich rief ihnen dieses Wort zu, als ich noch ganz jung war: Und es war das erste Wort, das uns damals in den Sinn kam. Ich sang in einer Punk-Band über den Faschismus, und als ich über die „Braunen“ ins Mikrofon kreischte, meinte ich keinesfalls irgendwelche rechtsradikalen Glatzköpfe, die mir in einem Hinterhof auflauerten. Ich meinte sie – die vom Volk gewählte Staatsmacht – und auch dieses unglückselige, blinde, verachtete Volk selbst.
Faschisten.
Du riefst ihnen dieses Wort im Sommer zu, als wir machtlos beobachten mussten, wie diese vermummten Wesen auf einem Platz Radfahrer festnahmen, einfach nur, weil sie Radfahrer waren. Sie schnappten sie und stießen sie in die fahrenden Blechgefängnisse hinein. Du riefst es ihnen zu, als sie wehrlose Menschen neben dem Hotel Minsk jagten und Hotelgäste diese Jagd von ihren Fenstern aus mitverfolgten. Sie schauten zu und hatten das Gefühl, als wären sie in einer Zeitmaschine gelandet. Es gibt derzeit so viele Fahrzeuge auf den Minsker Straßen . . . Panzerwagen, Wasserwerfer, Gefängnistransporter, Absperrsysteme, Kastenwagen des Militärs, unheilbringende Minibusse für die Jagd auf Menschenfleisch . . . Zeitmaschinen. Maschinen der gestohlenen Zeit.
Es schien, als hätten sie sich schon längst daran gewöhnt. Hätten schweigend zugestimmt: Ja, wir sind Faschisten, was soll's. Aber dem ist nicht so. Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus.
Hier ist ein „Faschist“ mehr als nur ein Faschist.
Manchmal ist es einfach nur ein Job, „Faschist“ zu sein. Man muss doch sein Brot verdienen. Faschisten möchten auch essen. Und Kinder von Faschisten weinen auch. Ein Faschist braucht auch seine Pension. Der Sozialstaat vergisst niemanden.
Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit?
Diejenigen, die in der UdSSR geboren und aufgewachsen sind, haben das Wort „Faschist“ bereits in ihrer frühen Kindheit zum ersten Mal gehört. Seitdem begleitet es uns wie eine Impfnarbe auf dem Oberarm. Auch in unserem Bewusstsein setzte sich dieses Wort wie eine Impfung fest. „So etwas darf nie wieder passieren“, „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen“, „Wir sind das Land, das den Faschismus besiegt hat“ – so wurden wir großgezogen. Uns wurde der ewige Hass auf den Feind anerzogen, oder genauer gesagt, auf das Wort, welches den Feind bezeichnete. Der Feind war weit weg, wir wurden aus irgendeinem Grund von niemandem bedroht, und für alle Fälle brachte man uns bei, Wörter zu hassen.
Ah, diese herrlichen Wörter . . . „USA“, „BRD“ . . . „Spione“, „Verräter“, „Militärclique“ . . . „Kapitalismus“, „Revanchismus“, „Zionismus“, „Wettrüsten“ . . . „Faschisten“ . . . Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit? Also erstens war er Deutscher. Die sinnlose Wendung „Befreiung von den deutsch-faschistischen Eroberern“ hat in unserer Kindheit niemanden erstaunt. Vom italienischen Faschismus erzählte man uns in der Schule nicht. Zweitens ist der Faschist ein Folterer, ein Sadist. Drittens muss er eine schöne Uniform tragen. Viertens ist es jemand, der nicht hier unter uns leben könnte. Unter sowjetischen Kindern und Erwachsenen. Er hat überhaupt kein Recht, unter Menschen zu leben. Und in unserem Land kann er sowieso nicht leben, da das kein Land ist, in dem Faschisten am Leben gelassen werden.
Ein guter Faschist ist ein toter Faschist.
Mit der Zeit lösten sich all diese Bedeutungen auf, wurden schwammiger und verschwanden. Bis auf eine. Ein Faschist ist zuallererst ein Sadist, der Inbegriff von Grausamkeit. Das Böse schlechthin. Ein Wort, das eines Tages aus der reinen Politik in die trübe Pfütze der sowjetischen Moral stürzte – und dann auch dortblieb.
Einmal, als ich ungefähr fünfzehn war, musste ich einen ganzen Tag auf einen kleinen Jungen aufpassen, der viel jünger war als ich. Er war ein verwöhntes, lautes Bürschlein. Er dachte, ich habe ihm nichts zu sagen, und wollte das Haus verlassen. Ich verbot es ihm, immerhin war ich verantwortlich für ihn. Er schrie und zappelte mit den Beinen, ich hielt ihn an den Armen fest. Er fing an zu schreien: „Du bist ein Faschist! Faschist! Umbringen sollte man dich!“ Trotzdem ließ ich ihn nicht hinaus. So wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben Faschist genannt. Damals erschrak ich. Weil ich außer Empörung und Ärger noch etwas spürte. Eine seltsame Freude, eine Aufregung und – eine Befreiung. Für ein paar Minuten war ich ein echter Faschist; und sei es nur für diesen einen Lümmel. Also stark und mit Macht ausgestattet. Ich bin über mich selbst hinausgewachsen. Ich stand über allen anderen. Über allen Moralvorstellungen, über den Menschen. Das einzige Gesetz war meine Macht. Ich verachtete dieses plärrende Kind, und ich hatte große Lust, es zu schlagen. Genau in diesem Augenblick, als er mich zum Faschisten erklärt hatte, wusste ich, dass ich – ein gewöhnlicher Teenager – alles darf.
Alles innerhalb der Grenzen meiner kleinen Welt.
Tatsächlich gab es in der Kindheit eine Menge „Faschisten“ rund um uns. Filme und Bücher, Zeitungen und Museen, unsere Spiele und sogar unsere sadomasochistischen Träume, in denen sich Eros, Thanatos und Geschichtsstunden so wonnig vereinten, waren voll mit ihnen. Sogar das Wort „Faschist“ war eindrucksvoll in seinem Klang und Aussehen: Es war kurz, widerwärtig und schön. Es ist interessant, dass das Recht auf gendergerechte Sprache hier nie infrage gestellt wurde. Eine strenge Lehrerin, eine hysterische Direktorin, eine ungeliebte Verwandte, einfach ein böses Weib auf der Straße konnte eine „Faschistin“ sein. Vor allem aber besitzt ein Faschist: Macht und Uniform. Man erkennt ihn sofort. Und er muss Waffen haben – seien es auch nur das Alter, die Stimme, das Dienstalter oder die Amtsbezeichnung.
Es waren die Erwachsenen, die uns den Faschismus beibrachten. Sie vergaßen dabei allerdings, was das ist. Und wiederholten, wie einen Zauberspruch, dass der Faschismus nie zurückkommen würde.
Nein, nein, nein, er kommt nicht zurück. Schlaf ein.
Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert
Ja, ein Faschist in meinem Land ist nicht dasselbe wie ein „Fascist“.
Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie man dieses Wort in andere Sprachen übersetzt. Wahrscheinlich sollte es in Übersetzungen nur kyrillisch geschrieben werden. Faschismus auf Kyrillisch ist nicht das gleiche wie Faschismus in lateinischen Buchstaben mit seinen nostalgischen Erinnerungen an schwarze Hemden, staatlichen Korporatismus und den römischen Gruß. Nein, es ist kein Fascism. Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert, die glänzenden Titelblätter des neuen Völkischen Beobachters, die eleganten Anzüge und einheitlichen Köpfe der Staatsbediensteten, der Schrecken, der im Netz Kreise zieht, die täglichen Lügen wie vom Fließband und die in der EU erstandenen Gummigeschosse für Andersdenkende. Er ist nah, man kann sogar Tickets dafür bestellen. Er ist irgendwo unweit der Wörter Unesco und UNO. Faschisten – das sind die, die man gestern noch Geschäftspartner nannte. Das sind die, die man de facto anerkannte und deren Hände geschüttelt wurden. Der Faschismus ist autonom und abergläubisch – wie ihr, unsere europäischen Freunde.
Aber westlich und nördlich von Belarus liest kaum jemand fließend Kyrillisch. Dort meint man, dass der „Faschismus“ (in lateinischen Buchstaben) in Europa zurzeit undenkbar ist. Und der kyrillischen Schrift im Osten darf man ohnehin nicht glauben. Dort ist alles verdreht und verzerrt: Schaut euch nur ihre Buchstaben an, das sind Parodien auf die anmutigen Buchstaben des lateinischen Alphabets.
Von der kyrillischen Schrift geht immer eine Bedrohung aus. Ständig ist bei denen irgendetwas nicht in Ordnung. Weil sie . . . Weil dort drüben einfach nicht Europa ist.
Und jetzt schon wieder.
Jedes Mal, wenn wir jemanden Faschist nennen, stehlen wir dieses Wort von jenen, die darauf einmal stolz waren.
Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer
Natürlich ist „Faschist“ ein Wort aus dem Arsenal der Propagandisten. Es ist immer bei der Hand. Wie ein auf der Straße herumliegender Pflasterstein. Heb ihn auf und wirf! Schmeiß ihn auf die Faschisten, da triffst du auf jeden Fall jemanden. Du hast schon getroffen – in dem Augenblick, in dem du deinen Feind erfunden hast.
Faschist – das ist ein Passwort aus acht Buchstaben. Wie oft du es auch eingibst, es wird jedes Mal passen. Der Zugang zum Feind ist gewährt. Auch wenn du ein paar Buchstaben auslässt.
Die antifaschistische Propaganda ist gewiss auch Propaganda. Aber wenn unbewaffnete Menschen bis an die Zähne Bewaffneten gegenüberstehen und Worte in die Hand nehmen – ist das schon etwas Größeres. Eine Anschuldigung. Denn Worte sind unsere einzigen Waffen. Der Terror der Bewaffneten gegen die Unbewaffneten – ist das denn nicht Faschismus? Wie viele Opfer braucht es noch, damit das Wort aufhört, ein einfaches Lexem zu sein? Wie viel Schmerz und Grauen, Entführungen und Folter, damit „Faschismus“ das Gewicht und die Form seiner echten Bedeutung erlangt?
Ein Faschist, das ist einer, der alles Menschliche hinter sich gelassen hat. Ein Übermensch. Einer, der nicht mehr zu uns zurückkommen kann. Wir, wir leben doch zwischen Tod und Leben. Der Faschist aber – zwischen Tod und Rache. Zwischen sich – und sich. Einen Weg zurück zu den Lebenden gibt es nicht mehr. Wenn Faschisten an der Macht sind, musst du es ihnen unbedingt sagen. Aber zuerst musst du es dir selbst eingestehen.
Da gibt es einen Augenblick, in dem alle Farbspektren verblassen und nur zwei Farben bleiben. Sie nicht zu unterscheiden ist eine lebensbedrohende Krankheit. Nur zwei: Schauder und Hoffnung. Das Schwarz der Faschisten und unser Weiß. Ein schwarz-weißer Film über die Faschisten von damals, die quälen und töten, schwarz-weiße Aufnahmen der Kriegsjahre, von Okkupanten gemacht – all das ist jetzt, 2020, wieder Realität geworden. Aufnahmen von 1942 und 2020, nebeneinandergestellt, erschüttern uns in Belarus.
Wie sehr sie sich ähneln – die, die damals quälten, und die, die jetzt quälen. Fast Zwillinge. Und wie sehr sind wir uns nahe, als hätten wir uns auf einer historischen Brücke zufällig getroffen: die, die damals gequält wurden, und die, die heute gequält werden. Deine Vorfahren, das sind vermutlich jene, die dir einmal auf so einer Brücke begegnet sind. Und du hast dabei nicht weggeschaut.
Die Revolution ist eine Kampfansage an den Faschismus, die Revolution ist die Zeit der Einfachheit. Leider ist das so, sage ich, weil Kunst nicht einfach gestrickt sein kann. In der Kunst locken ja viele Versuchungen, eine davon – zugänglich zu werden. Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer. Die Kunst spielt damit, wie mit einem Ball. Denn der Faschismus bietet klare und eingängige Bilder, die Künstler von der Verpflichtung zur Komplexität befreien. Die Literatur mag dieses Wort auch. Wenn du „Faschismus“ schreibst, musst du gar nichts mehr erklären. Gewalt und Macht sind ein endgültiges, universelles und auch das zugänglichste Bild.
Wenn sie uns sagen, dass wir Faschisten sind, ist das ein Verfahren, das aus der alten sowjetischen Propaganda stammt. Für Tausende Menschen wurde dies zu einer Erinnerung, die sie sich selbst ausgedacht haben.
Wenn wir ihnen sagen, dass sie die Faschisten sind, ist es ein von Millionen von Menschen geschriebenes Urteil.
Wenn die Macht jemanden einen Faschisten nennt, dann ist es eine faschistische Macht.
Das Recht zu entscheiden, wo Faschismus ist und wo nicht, darf nie der Macht gehören.
Alles ganz einfach.
Es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten
In meinen fünfundvierzig (nur fünfundvierzig!) Jahren habe ich mehrere Regime erlebt. Ich bin unter dem Totalitarismus geboren und aufgewachsen, geriet dann in die Perestroika. Ich sah die Ratlosigkeit der Erwachsenen, die nie in einer anderen Epoche gelebt hatten. Dann gab es die Unabhängigkeit und vereinzelte zaghafte Blicke der neuen-alten Machthaber in Richtung demokratischer Ordnung. Das war noch keine Freiheit. Das war der Anfang der 1990er Jahre, und es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten – aber es war zumindest ein Versuch, zumindest die Hoffnung auf Freiheit. Und dann begann die Diktatur. Und ich zog los nach Hamburg. Die sechs Jahre, die ich dort verbrachte, sind die einzigen Jahre in meinem Leben in einer Demokratie. Dann kehrte ich nach Minsk zurück. Und jetzt leben wir beide hier unter dem Faschismus.
Gratuliere.
Ebenfalls.
Wir werden sterben. Solche, wie wir, werden unter dem Faschismus nicht überleben. Sie ersticken.
Aber ist das tatsächlich Faschismus?
Damals wie jetzt: Angst und Brutalität
„Die Kunst der Dichtung erfordert Wörter“, meinte Brodsky. Aber pfeif auf die Dichtung. Wir brauchen doch immer Wörter. Wir Menschen sind zu Wörtern verdammt. Wir können dem Tod nicht ruhig entgegenschreiten, uns dem Tod nicht nähern, wenn wir nicht wissen, wie unser Leben heißt. Wir fragen uns immer: Wer sind wir? Wo sind wir? Wohin gehen wir? Wir ahnen, dass es keine Antworten gibt. Aber anstatt der Antworten gibt es Wörter. Es gibt Namen, und wir suchen sie. Das kann uns nicht einmal der Faschismus verbieten. Diskussionen darüber, wohin Belarus 2020 gekommen ist, fingen noch vor der Wahl am 9. August an. Was ist das für ein System, wie kann man es nennen, klassifizieren? Die Antwort hängt natürlich von vielen Faktoren ab, und einer davon ist, wo sich der Klassifizierende befindet. Internationale Analytiker sind stolz auf ihre Unparteilichkeit. Nein, das ist noch kein Faschismus, sagen sie. Viele formale Merkmale fehlen. Seltsam, aber mir scheint, sie würden ihre Meinung ändern, wenn sie nur für ein, zwei Wochen hier leben würden.
Das ist eine Junta aus Armee und Polizei, sagen die einen. Eine typische lateinamerikanische Erscheinung, die plötzlich in Osteuropa aufgetaucht ist. Nein, das ist gewöhnlicher Autoritarismus im Stadium der Agonie, sagen die anderen. Das ist ein hybrides Regime, erklären wieder andere. Mir kam einmal folgende Definition in den Sinn: Es ist wie im Jahre 1937, aber mit Internet. Damals, 1937, gab es Telegramme, die vom Staat genau unter die Lupe genommen wurden; für verdächtige Telegramme konnte man erschossen werden oder in Straflagern enden. Jetzt haben fast alle Telegram, und dafür, dass man „falsche“ Kanäle abonniert, kann man auch strafrechtlich verfolgt werden. Damals wie jetzt: Angst und Brutalität, Polizei-Einsatzwagen neben den Hauseingängen und Menschen, die mit Schrecken auf die Schritte im Treppenhaus hören. Gehst du auf die Straße, kann es sein, dass du einfach nicht mehr zurückkommst. Menschen verschwinden am helllichten Tag und werden erst später wiedergefunden. Man findet sie im Gefängnis – und freut sich noch: Er ist am Leben, sie ist am Leben. Gott sei Dank!
Einmal, damals noch im früheren Leben, sagte ein Freund von mir, ein Deutscher: Ihr habt in Belarus eine postmoderne Diktatur. Um die Gefahr, die von ihr ausgeht, zu verstehen, muss man erstens wissen, was die Postmoderne eigentlich ist. Zweitens braucht man einen guten Sinn für Humor und eine die Kapazitäten eines Menschen übersteigende Ironie. Drittens darf man nicht nach den Gesetzen der traditionellen Logik leben.
Heute schlagen wir schlaue Bücher auf und suchen nach Definitionen für das, was bei uns passiert. Wir suchen nach Parallelen. Geschichtsliebhaber und ältere Menschen wurden an die haitianischen Tontons Macoutes, an Pinochet, Salazar, Paraguay und vieles mehr erinnert. Wir tauschen im Netz gefundene Definitionen des Faschismus untereinander aus. Faschismus nach Nolte und nach Arendt, nach Payne oder nach Griffin . . . Nicht alle Punkte sind gleich. Wir streiten. Politologen runzeln die Stirn. Sie können Dilettanten nicht ausstehen. Nein, das kann nicht sein. Wie soll es im Jahr 2020 Faschismus geben? Wir aber lesen und erkennen unsere Realität wieder. Genau die Realität, die nicht nur draußen vor dem Fenster ist, nein, sie befindet sich sogar gleich unter dem Schädeldach. Ja, das ist Faschismus. Ganz besonders, wenn du über ihn liest und dich dabei mitten in ihm befindest. Ein Mensch mit einem Buch in einer durchsichtigen Kugel, aus der es keinen Ausweg gibt. Wir stehen vor dem Gefängnis in Schodsina, rauchen und warten auf jemanden.
„Faschisten! Deutsche Schweine! Ihr vergast uns! Juden und Freimaurer! Umbringen sollte man euch!“, ruft uns eine nette alte Frau an die 90 zu, die direkt gegenüber dem Gefängnis wohnt.
Unterstreichen Sie bitte die Wörter und Ausdrücke, die aus der bekannten Assoziationskette fallen.
Unsere Texte bedeuten nichts. Es gibt nur die Kugel. Durch ihre Wände hört man alles, sieht aber nichts.
Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert
Was Faschismus ist, wussten wir hauptsächlich aus Büchern und Filmen. Die Massenkultur verschlang und verdaute den Faschismus schon vor so langer Zeit, dass wir glaubten, alles darüber zu wissen. Das Einzige, was uns überraschte: Wie man unter dem Faschismus überhaupt leben konnte. Ein menschliches Wesen zu sein und normale Bedürfnisse, Träume, Wünsche, Emotionen zu haben. In Zeit und Raum zu existieren. Konnte man sich so etwas unter dem Faschismus denn leisten? Der Protagonist in Nabokovs Erzählung Wolke, Burg, See gibt zu, dass er „keine Kraft mehr hat, Mensch zu sein“. Er lebt unter dem Faschismus, dem deutschen Nationalsozialismus der 1930er Jahre, aber in dieser Erzählung spricht Nabokov weder über die totale politische Kontrolle noch über die Gestapo. Der Faschismus zeigt sich über den Alltag, das sind die einfachen Menschen rund um uns – und das ist das Schrecklichste am Faschismus.
Wir lasen diesen Text als eine Warnung. Und jetzt hat es sich herausgestellt, dass wir in ihm leben. Es war plötzlich klar, dass man auch unter Faschismus Sushi essen oder Wein trinken, Sex haben, Kinder großziehen, etwas arbeiten, vor dem Einschlafen lesen oder spazierengehen kann. Unter Faschismus gibt es auch Musik. Man kann alles. Nichts ist erlaubt. Es gibt kein Gesetz, es gibt nur physische Bedürfnisse, Hass, Rebellion, Hoffnung – und das, was Czesław Miłosz „eine glühende Kugel der Angst“ nannte. Er erinnert sich an seine Jugend im besetzten Warschau und schreibt, dass er zu jener Zeit viel arbeitete, Gedichte schrieb, verliebt war, sogar manchmal tanzte, sich versteckte, anderen half, sich über das Essen freute, Wodka trank . . . Aber jeden einzelnen Augenblick, schreibt Miłosz, sah und spürte er diese „glühende Kugel“ gleich in seiner Nähe. Nichts konnte sie verjagen.
Wir spüren dasselbe. Außer dass manche Grenzen noch offen sind. Noch kann man die Kugel einpacken – und mitnehmen.
Die belarussische Dichterin Julia Cimafiejeva schreibt in ihrem Gedicht Der Stein der Angst über die Angst, die wie ein Edelstein von Generation zu Generation weitergegeben wird. In diesem Text wird unsere belarussische Angst zu einem seltsamen Schmuckstück, das man wie eine Halskette trägt. Ein Erbstück, mit dem man achtsam umgeht. Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert. Das Land trug ihn immer bei sich. Warum? Wahrscheinlich aus Angst. Angst aufzuhören, man selbst zu sein.
„Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten“
Belarus ist das erste europäische Land geworden, in das der Faschismus zurückgekehrt ist. Schwein gehabt. Nun sind wir wieder ein Teil der europäischen Geschichte. Warum kam es dazu?
Weil wir vorher nicht dort waren. Irgendwie wollten wir nicht. Wir hofften, heil davonzukommen.
„Menschen, seid wachsam!“, schrieb in seinem Buch Reportage unter dem Strang geschrieben der tschechische Journalist Julius Fučík kurz vor seinem Tod. Er wurde 1942 von Faschisten gefangengenommen und hingerichtet. Als ich in Westeuropa lebte, habe ich mit Erstaunen festgestellt, dass nur ganz wenige Menschen wissen, wer das war. Fast gar niemand.
Manchmal scheint es, dass sich nur die sowjetischen Kinder, die einst „Faschisten“ und „Russen“ spielten – so wie die belarussischen Kinder heutzutage „Menschen“ und „Schlägertrupps“ spielen –, noch an ihn erinnern. Und eigentlich können sich nur die sowjetischen Kinder, die gut in der Schule waren, an ihn erinnern. Den Namen von Fučík – gemeinsam mit einigen anderen – verwendete die sowjetische Propaganda ohne Ende. Aber niemand glaubte an Propaganda, und niemand nahm diesen geheimnisvollen Fučík ernst. Ja, er hatte da etwas gesagt. Von mir aus unter dem Strang. Diese Fučíks haben doch schon alle satt. Diese Geschichte, die niemand braucht . . . Sie bringt nur noch mehr Verwirrung.
Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten. Ich höre förmlich die Stimme des Ermittlers, der das zu Fučík sagt – ruhig, bestimmt, müde, etwas gekränkt.
Julius Fučík wurde im Berliner Gefängnis guillotiniert. Nach geltendem Recht. Nach einem Gerichtsurteil. Unter Beachtung aller vom Gesetz vorgeschriebenen Abläufe. Die Schuld war bewiesen. Der Staat hat keinen Fehler gemacht. Der Staat muss sich doch schützen. Fučík war sein Feind und hat dafür bezahlt.
Man sagt, er hatte sogar einen Anwalt.
Alhierd Bacharevič ist aktuell im Rahmen des Programms Writer in Exile zu Gast in Graz, das in Kooperation von der Stadt Graz (Kulturressort) und der Kulturvermittlung Steiermark seit 1997 kontinuierlich bespielt wird. Die deutsche Übersetzung des Textes erschien am 24. Dezember 2020 erstmals in Die Presse.