Am 25. August 1991, vier Tage nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau, stimmte der Oberste Sowjet der BSSR für die Unabhängigkeit der Sowjetrepublik. Damit war die Republik Belarus geboren. Neben einer kurzen Episode der Volksrepublik im Jahr 1918 war es das erste Mal in der Geschichte, dass die Belarussen eine Eigenstaatlichkeit erlangten.
Haben die Belarussen ihre Unabhängigkeit herbeigesehnt? Warum wurde 1994 ausgerechnet Alexander Lukaschenko in weitgehend freien Wahlen zum ersten Präsidenten gewählt? Welche Bedeutung haben die Proteste des Jahres 2020 für die Unabhängigkeit? In einem Bystro in acht Fragen und Antworten erklärt der renommierte kanadische Historiker David R. Marples 30 Jahre Unabhängigkeit für Belarus.
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1. Wie war die Lage in der BSSR kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion? Gab es eine starke nationale Bewegung, die nach Unabhängigkeit strebte, wie etwa in den baltischen Staaten ?
Die nationale Bewegung war ziemlich schwach und kämpfte ums Überleben. Zwar gewann die Belarussische Volksfront (Partyja BNF) Glaubwürdigkeit durch ihr Eintreten für die nationale Kultur und Sprache, durch ihre Reaktion auf die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 und auch durch die Entdeckung der Massengräber von Stalins Opfern in Kurapaty dank des BNF-Vorsitzenden Sjanon Pasnjak. Pasnjaks übertriebene Behauptung, dort lägen bis zu 300.000 Opfer begraben, hat Aufsehen erregt. Die BNF blieb jedoch eine Randpartei und musste ihren Gründungskongress in Vilnius abhalten, da sie nicht in Minsk tagen durfte. Nach den Wahlen von 1990 war sie mit nur 26 Sitzen im kommunistisch dominierten Parlament vertreten – im Gegensatz zu einigen Volksfronten in anderen Ländern, insbesondere in den baltischen Staaten und der Ukraine. Das Endziel der BNF war zwar die Unabhängigkeit, doch ihre wichtigste Errungenschaft bestand wohl in der Anerkennung von Belarussisch als Staatssprache der Republik Anfang 1990. Diese Regelung blieb in den folgenden fünf Jahren bestehen.
2. Wie hat der Oberste Sowjet der BSSR am 27. Juli 1990 schließlich die Unabhängigkeit erklärt?
Ich möchte zwischen der Unabhängigkeitserklärung vom 25. August 1991 und der Erklärung der staatlichen Souveränität unterscheiden. Am 27. Juli erklärte die BSSR ihre Souveränität – das heißt aber nur, dass sie die Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen beanspruchte, nicht aber über den Staatshaushalt, die Außenpolitik oder Verteidigungsangelegenheiten. Auch andere Sowjetrepubliken verabschiedeten zu dieser Zeit solche Erklärungen; nur Litauen erklärte seine völlige Unabhängigkeit. Das Parlament von Belarus war zwischen den Parteien und ihren Anführern zerrissen mit besonders ausgeprägter Rivalität zwischen dem Parlamentsvorsitzenden Nikolaj Dementei und dem Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch. Zum Zeitpunkt der Souveränitätserklärung war Kebitsch die führende politische Persönlichkeit in Belarus. Das Land hatte den Ruf einer „Partisanen-Republik“: Von 1956 bis 1980 wurde die Kommunistische Partei von ehemaligen Partisanen angeführt. Von Nationalismus waren sie weit entfernt – es sei denn, man betrachtet den sowjetischen Patriotismus als eine Form des Nationalismus –, es gab aber einige Spannungen zwischen den Parteioberhäuptern in Moskau und in der Republik. Nachdem der Vorsitzende des BSSR-Zentralkomitees Pjotr Mascherow 1980 bei einem Autounfall ums Leben kam, sorgte Moskau dafür, dass seine Nachfolger keine ehemaligen Partisanen oder auch nur deren Verbündete waren.
3. Die belarussischen Kommunisten galten als besonders konservativ und loyal gegenüber Moskau. Was geschah mit ihnen, vor allem mit den wichtigsten Politikern, nach der Unabhängigkeit?
In Belarus dominierten die Kommunisten 1991 zwar im Obersten Sowjet, doch die Lage war unbeständig. Der erste Sekretär der Kommunistischen Partei Anatoli Malofejew und der Parlamentsvorsitzende Nikolaj Dementei unterstützten 1991 den Augustputsch in Moskau. Als der Putsch gescheitert war, wurde Dementei seines Amtes enthoben und durch den Physikprofessor Stanislaw Schuschkewitsch ersetzt, der als seine erste Amtshandlung die Abspaltung der Republik von der Sowjetunion verkündete. Die Kommunistische Partei von Belarus wurde nach dem gescheiterten Moskauer Putsch verboten; ein Jahr später entstand die Partei der Kommunisten von Belarus (PKB). Die Mitglieder der ursprünglichen Kommunistischen Partei traten 1993 offiziell der PKB bei (Malofejew war zwei Monate zuvor zurückgetreten). Es entstanden auch einige kommunistische Randparteien mit progressiveren Ansichten. Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 hatten die Kommunisten noch eine beträchtliche Anzahl von Sitzen, sahen sich jedoch starkem Druck ausgesetzt, neue Parlamentswahlen abzuhalten. Kebitsch befürwortete eine Wirtschafts- und Sicherheitsunion mit Russland, wobei er sich auf die gemeinsame Geschichte und Kultur berief. Er galt jedoch als korrupt, was ihm bei der Präsidentschaftswahl von 1994 zum Verhängnis wurde.
4. In wirtschaftlicher Hinsicht hatte Belarus mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung und relativ soliden Staatsbetrieben beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation. Warum ist diese dennoch gescheitert?
Belarus funktionierte gut als BSSR, innerhalb des kommunistischen Systems, in dem seine industrielle Entwicklung eng mit der seiner Nachbarn verflochten war. Als Russland 1992 mit seiner wirtschaftlichen Schocktherapie begann, blieb Belarus allerdings auf der Strecke. Das Land litt unter mehreren Problemen: Erstens hatte es nicht genug natürliche Ressourcen und war damit stark von Energieimporten aus Russland abhängig. Zweitens fehlte auch ein Programm für Wirtschaftsreformen. Schuschkewitschs Bemühungen, dem Beispiel Russlands nachzueifern, wurden von den Kommunisten im Parlament blockiert. Drittens musste das unabhängige Belarus die Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe tragen; die Unterstützung der Union war weggefallen. Einer Schätzung zufolge beliefen sich die Kosten des Unfalls für Belarus auf 32 Jahreshaushalte. So viel Geld stand zwar nicht zur Verfügung, aber immerhin wurden in den ersten Jahren etwa 25 Prozent des Haushalts für die Gesundheitsversorgung aufgewendet. Schließlich die Privatisierungsrate – sie war eine der niedrigsten unter allen ehemaligen Sowjetrepubliken. Viele Branchen waren auf staatliche Subventionen angewiesen, um zu überleben. In den ersten Jahren wurde Belarus von Jelzins Russland subventioniert, doch diese Großzügigkeit hatte ihren Preis: Russland strebte eine engere Integration von Währung, Volkswirtschaften, Armeen und Sicherheitsdiensten an. Als dann von 1991 bis 1999 die Wirtschaftskrise Russland ereilte, die im Finanzkollaps von 1998 gipfelte, litt Belarus mit.
5. Warum wurde Lukaschenko 1994 zum ersten Präsidenten der Republik Belarus gewählt?
Lukaschenko war zwar keine ganz unbekannte Figur, als er 1994 bei der Präsidentschaftswahl antrat, aber als Favorit galt der 39-jährige Schweinezüchter sicherlich nicht. Er war zum Interimsdirektor einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Korruption berufen worden und nutzte gleich die Gelegenheit, die Führung des Landes anzugreifen. Er wurde aber schlichtweg nicht ernstgenommen – genauso wie er selbst 26 Jahre später Swetlana Tichanowskaja nicht ernst nahm. Die anderen Kandidaten argumentierten vor allem gegen Kebitsch als einen Vertreter des Establishments. Der Altkader Kebitsch selbst wiederum konzentrierte sich auf Pasnjak von der BNF, nannte ihn einen Nationalisten, der die wahren Sorgen der belarussischen Durchschnittsbürger nicht kenne. Auch Schuschkewitsch, der keine Partei hinter sich hatte, war misstrauisch gegenüber Pasnjak. Die beiden demokratischen Kandidaten, Schuschkewitsch und Pasnjak, konnten sich also nicht einigen und bekämpften sich gegenseitig. Die Bevölkerung war der alten Garde wie Kebitsch überdrüssig; Schuschkewitsch betrachtete sie als Teil derselben Hierarchie und Pasnjak als zu radikal. Damit blieb Lukaschenko übrig, eine scheinbar attraktive Alternative, unbelastet von früheren Verbindungen, ehrgeizig und leidenschaftlich prorussisch. Seine persönlichen Schwächen, wie etwa das jähzornige Temperament, wurden ignoriert.
6. Lukaschenko hat sich in den letzten 26 Jahren immer wieder als alleiniger Garant für die belarussische Souveränität positioniert. Wie ist diese Positionierung zu bewerten, auch im Hinblick auf den Unionsstaat?
Lukaschenko hatte verschiedene Phasen. In seinen Anfangsjahren versuchte er, sich Russland kontinuierlich anzunähern, von einer Gemeinschaft bis zur Gründung der Union (1999). Er verstand sich gut mit Jelzin, der seine späteren Jahre abwechselnd in Sanatorien und im Kampf mit wirtschaftlichen Problemen verbrachte. Aber Putin war ein ganz anderer Präsident: Er stellte die Öl- und Gassubventionen in Frage, ebenso wie die Logik einer gleichberechtigten Partnerschaft mit einem Staat, der leicht in die Russische Föderation integriert werden könnte. Auch persönlich mochten sich die beiden Staatschefs nicht. Die Jahre von 2008 bis 2020 waren geprägt von Spannungen und Handelsstreitigkeiten, von Belarus’ Unwillen, Anweisungen aus Russland zu befolgen; von Russlands Versuchen, profitable belarussische Industrien zu übernehmen, von gemeinsamen militärischen und sicherheitspolitischen Maßnahmen, und immer wieder von Versuchen Lukaschenkos, die russische Kontrolle zu begrenzen. Seine Hauptmethode bestand dabei darin, den Westen zu umwerben und die EU zu überzeugen, dass er ein zuverlässiger Partner sei. Kredite des IWF und Chinas bildeten eine Alternative zu denen aus Russland, das sie nur zu harten Konditionen gewährte. In dieser Zeit entwickelte sich auch eine Art „sanfter Nationalismus“ in Belarus, als Lukaschenko nationale Gefühle nutzte, um seine persönliche Macht zu sichern und zu fördern. Auf diese Art verband er den Staat unmittelbar mit seiner Präsidentschaft.
7. Warum war die demokratische Bewegung im unabhängigen Belarus immer relativ schwach und bis 2020 chancenlos?
Von 2001 an kontrollierte der Staat den Wahlprozess über zentrale und lokale Wahlkommissionen sowie über Registrierungsverfahren. Lukaschenkos erster Schritt bestand darin, Zeitungsredakteure zu ersetzen, die seine Autorität in Frage stellten. Auch das Fernsehen wurde zum Teil der Staatspropaganda. Die Opposition suchte den traditionellen Weg zur Macht – in der Regel über politische Parteien, die weder genug Mitglieder noch genug Mittel hatten und dazu noch innerlich gespalten waren. So existierten zeitweise drei Ableger der Sozialdemokratischen Partei und zwei der Volksfront. Zwar gab es Bemühungen, die Wahlkampagnen zu vereinheitlichen, aber diese fruchteten erst 2001, und auch da nur bedingt. Belarus hatte also nie eine oppositionelle Partei mit bedeutendem Rückhalt in der Bevölkerung, im Gegensatz beispielsweise zu Viktor Juschtschenkos Unsere Ukraine (ab 2000). Lukaschenko erklärte die Oppositionsparteien geschickt zu ausländischen Kräften, zu Blutsaugern, die mit westlichen Geldern ihre persönlichen Ausschweifungen finanzierten. Über längere Zeit wurden Geldstrafen, Verhaftungen und Schikanen zur Einschüchterung eingesetzt. Dies führte dazu, dass einige führende Oppositionelle das Land verließen und die Wählerschaft bis 2020 Passivität und Apathie an den Tag legte.
8. Was bedeuten die Proteste von 2020 und die anschließende Repressionswelle für die belarussische Unabhängigkeit?
Die Proteste und Repressionen haben alle Illusionen über Lukaschenko endgültig zerstört. Für die meisten Belarussen ist er als Präsident nicht mehr akzeptabel. Aber die Proteste waren friedlich und hatten keine Chance, einen Regimewechsel herbeizuführen, vor allem weil die Sicherheitskräfte und das Kabinett dem Präsidenten gegenüber loyal blieben und zu extremen Maßnahmen bereit waren. Vor den Repressionen sind Tausende von (vor allem jungen) Menschen aus Belarus ins Ausland geflohen. Andere sitzen in Gefängnissen und Arbeitslagern. Westliche Sanktionen, insbesondere nach der Zwangslandung des Ryanair-Fluges im Mai, haben Belarus noch stabiler in die russische Umlaufbahn geschubst. Der sehr geschwächte Lukaschenko machte Zugeständnisse an Russland, die früher undenkbar gewesen wären. Die belarussische Außenpolitik ist nicht mehr von der russischen zu unterscheiden. Die offiziellen Medien werden von Russland betrieben; auch die Sicherheits- und Militärpolitik ist koordiniert. Lukaschenkos einziger (symbolischer) Widerstand besteht in der Hoffnung auf eine Verfassungsänderung im nächsten Frühjahr durch die unrechtmäßige Volksversammlung. Kurzum, die belarussische Unabhängigkeit hängt am seidenen Faden. Aber die belarussische Bevölkerung hat letztes Jahr ihre Meinung sehr deutlich gemacht. Es kann keine Rückkehr zu der Situation vor 2020 geben, keinen Gesellschaftsvertrag zwischen diesem Präsidenten und dem Volk.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: David R. Marples Übersetzung: Alexandra Berlina Veröffentlicht am: 24. August 2021
Der Streit zwischen Belarus und Russland gleiche einem Ehekrach, meint Artyom Shraibman. Nach Lukaschenkos jüngstem Ausbrecher fragt er auf Carnegie.ru: Ist es mit der Romantik nun endgültig vorbei? Eine Analyse aus Minsk.
Wird Russland in Belarus militärisch eingreifen? Diese Frage wurde in den vergangenen Tagen immer wieder diskutiert. Artyom Shraibman nennt zehn Gründe, warum dies nicht passieren wird.
Lukaschenko steht mit dem Rücken zur Wand und hat nur noch einen Verbündeten – Russland. Doch auch der Kreml steht vor einem Dilemma, denn er hat viel zu verlieren: Kippt die prorussische Stimmung in Belarus, droht weitere Destabilisierung. Artyom Shraibman kommentiert auf Carnegie.ru.
Im Öl- und Gasstreit zwischen Russland und Belarus werden Befürchtungen laut: Droht hier eine Art zweite Krim, eine Eingliederung von Belarus in Russland? Artyom Shraibman kommentiert auf Carnegie.ru und beginnt mit der Prämisse: Alles ist möglich. Aber …
Nach der TV-Sendung mit Roman Protassewitsch auf dem Staatssender ONT flieht der bekannte Analyst Artyom Shraibman in die Ukraine. Auf Telegram begründet er diesen Schritt – und auch, weshalb er Protassewitsch keine Vorwürfe macht.
Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2
Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus.
Der Weg zur Macht
Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3
Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“
Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.
Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.
Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.
Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren.
Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht.
Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.
Machthunger und Gewaltenteilung
Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko.
Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.
Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt.
An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9
Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.
Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.
Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt.
Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren.
Gründe für die lange Herrschaft
Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.
Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt.
Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.
Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.
Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD“11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12
Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.
Der Ego-Kult
Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15
Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.
Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.
Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.
Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.
Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus.
Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.
Im Sommer 2020 protestierten die Belarussen für Neuwahlen und für ihre Grundrechte – friedlich, kreativ und äußerst wandlungsfähig. Wir lassen die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in diesem visuellen Rückblick Revue passieren.
Die belarussischen Machthaber haben mittlerweile alle Oppositionsparteien verboten. Darunter auch die Belarussische Volksfront (BNF), eine der ältesten Parteien des Landes, die für die Geschichte des Landes eine wichtige Rolle gespielt hat. Das belarussische Medium Zerkalo hat die Geschichte der Bewegung und Partei aufgeschrieben.
Verleiht Alexander Lukaschenko seinem autoritären System immer mehr ein sowjetisches und totalitäres Antlitz? Darauf deutet vor allem die Radikalisierung des Machtapparats seit 2020 hin. Igor Lenkewitsch analysiert die machtstrukturelle Verpuppung.
Die Repressionen in Belarus werden immer wieder mit denen unter Putin in Russland verglichen. Artyom Shraibman erklärt detailliert, mit welchen Mitteln das System Lukaschenko gegen Opposition, Medien und Zivilgesellschaft vorgeht und was der russischen Gesellschaft noch bevorstehen könnte.
Ist der belarussische Protest tot? Hat Alexander Lukaschenko immer noch Angst vor Protesten? Welchen Einfluss hat die neue Diaspora? Waleri Karbalewitsch beleuchtete im August die aktuelle Lage zwei Jahre nach dem Beginn der historischen Proteste in Belarus – seine Analyse ist 2022 einer der meistgelesenen Texte im Belarus-dekoder (Platz 3).
Im Krieg gegen die Ukraine steht der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko an der Seite des russischen Präsidenten Putin. Doch bislang sind keine seiner Truppen beteiligt. Warum hilft er Putin? Was hat er zu gewinnen, was zu verlieren? Und was bedeutet das für seinen eigenen Machterhalt?
Maria Kolesnikowa war eines der Gesichter der Proteste in Belarus im Jahr 2020, sie wurde verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Wer ist diese scheinbar unerschrockene Frau, und wie wurde sie zur Oppositionspolitikerin? Zerkalo zeichnet ihren Lebensweg nach.
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