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Verboten in Belarus: Literatur und Autoren

„Leser schreiben, dass sie meine Bücher aus Bibliotheken retten, damit sie nicht vernichtet werden. Sie bewahren sie bis zu besseren Zeiten auf. Wir schreiben das 21. Jahrhundert in Belarus: Bücher müssen aus Bibliotheken gerettet werden.“ Dies sagte Alhierd Bacharevič in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo. Gleich zwei Romane des belarussischen Schriftstellers wurden von den Behörden in Belarus für „extremistisch“ erklärt. So gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko seit den Protesten von 2020 nicht nur gegen Oppositionelle, Aktivisten, Journalisten, Medien oder NGOs vor, sondern eben auch gegen Literatur. 

Das Online-Medium Mediazona Belarus stellt Bücher und ihre Autoren vor, die auf der Liste „extremistischer Materialien“ gelandet sind, auf der sich das Medium seit 2022 selbst befindet. 

Источник Mediazona Belarus

Illustration © Taja L./MediazonaDie im Folgenden vorgestellten Bücher wurden vom belarussischen Regime als „extremistisch“ eingestuft. Wer sie besitzt oder verbreitet, kann in Belarus mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet werden.

Alhierd Bacharevič: Sabaki Europy (Die Hunde Europas)

Worum es geht: Die Hunde Europas – eine Antiutopie in sechs Einzelgeschichten. In einem der Handlungsstränge hat Belarus längst seine Souveränität verloren und gehört zu Russland.

„Mir gefällt die Idee, dass die Hunde Europas die Belarussen sind. Der Hund ist ein Wesen, das stets in der Nähe des Menschen lebt, er hat seine eigene Sprache, seine Weltsicht. Der Hund ist scheinbar immer in unserer Nähe. Er versucht uns etwas zu sagen, aber wir verstehen es nicht“, erzählt der Autor über sein Buch.

Der Autor: Der Schriftsteller Alhierd Bacharevič lebte in Deutschland, kehrte dann nach Belarus zurück und hat das Land nach den Protesten von 2020 erneut verlassen. Das Buch erschien erstmals 2017 im Verlag Lohvinau, 2021 wurde es im Verlag Januškievič neu aufgelegt. Die in Litauen gedruckte Auflage der Hunde wurde an der Grenze vom belarussischen Zoll beschlagnahmt, um eine Expertise „bezüglich Extremismus“ vorzunehmen. Am 17. Mai 2022 wurde der Roman per Gerichtsbeschluss in die Liste der extremistischen Materialien aufgenommen. 

Der Verlag Januškievič musste seine Arbeit in Belarus nach einer Razzia in der gerade erst eröffneten Buchhandlung Knihauka einstellen. Zuerst waren Mitarbeiter der Propagandaabteilung dort aufgetaucht, später Silowiki. Die Bücher wurden mitgenommen, der Verlagsgründer und eine Mitarbeiterin wurden mehrfach wegen Ordnungswidrigkeiten bestraft. Heute führt der Verlag Januškievič seine Arbeit im Ausland fort.

Alhierd Bacharevič schrieb, die beschlagnahmte Auflage der Hunde sei „mit Traktoren in die Erde gemalmt“ worden.


Alhierd Bacharevič: Aposchnjaja kniha pana A (Das letzte Buch von Herrn A.)

Das Buch wurde 2020 von den Verlagen Januškievič und Vesna gemeinsam herausgegeben. 

Worum es geht: Der Protagonist des Buches, Herr A., muss zur Begleichung einer Schuld Märchen erzählen – aus denen dieses Buch besteht. Währenddessen wird die Welt von einer Epidemie heimgesucht.

Bacharevič erläuterte, dass die Handlung erdacht wurde, „lange bevor das Wort Coronavirus auf der Welt auftauchte“. „Eine Gruppe von Intellektuellen versammelt sich in einem Minsker Haus, lauscht jeden Abend Märchen, während sich draußen etwas Unglaubliches abspielt, eine Epidemie, die Pest des 21. Jahrhunderts.“

Das Buch wurde am 6. März 2023 für extremistisch erklärt. Eine Überprüfung des Buches auf „Extremismus“ befand die Spezialkommission für „nicht zielführend, da die Formulierungen offensichtlich sind“. Der Extremismus sei offensichtlich!

Der Autor äußerte sich dazu in einem Interview mit Zerkalo: „In dunklen Zeiten ist Literatur immer auch Politik. Und so ist auch Das letzte Buch von Herrn A. keineswegs unpolitisch. Es erschien 2020. Auf der ersten Seite lesen wir: ,Es gibt kein Ziel außer dem, deine dir gegebenen Tage würdevoll und bewusst zu erleben, bis zum Ende, was auch immer die mächtigsten Mächtigen, die brutalen Spaßmacher und Blutsauger sich ausdenken‘ [hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Alhierd Bacharevič und Andreas Rostek, edition.fototapeta, 2023 – dek]. Herr A. erzählt im Buch verschiedene Geschichten, die meisten sind direkt mit der belarussischen Wirklichkeit verknüpft. In dem Märchen Raman Burak, der Mensch konstruieren Emigranten einen Robotermenschen. Er soll in das Land reisen, das sie verlassen haben, und den Führer der Nation töten. In dem Märchen In heitere Höhen (ein Zitat aus der Hymne der BSSR) tauscht ein Arbeiter die Staatsflagge am zentralen Fahnenmast des Landes aus und sieht, dass sie mit menschlichem Blut getränkt ist ... Natürlich kann man all das als ,extremistisch‘ bezeichnen, wenn man die entstellte Sprache des Regimes verwenden möchte, die den Worten ihre ursprüngliche Bedeutung raubt.“


Igor Iljasch, Jekaterina Andrejewa: Belorusski Donbass (Der Belarussische Donbass)

Worum es geht: Das Buch ist der belarussischen Rolle im Krieg im Donbass gewidmet. Die Journalisten lassen Belarussen auf beiden Seiten der Front zu Wort kommen. 

„Wir haben versucht, alle Berührungspunkte zu beleuchten: von der Beteiligung belarussischer Bürger an den Kampfhandlungen bis hin zur Rolle der Geheimdienste in diesem Prozess, vom illegalen Handel mit DNR und LNR bis hin zur Arbeit von Freiwilligen, von der politischen Konjunktur bis zur Informationsstrategie der Regierungen“, so die Autoren.

Die Autoren: Die Journalisten Igor Iljasch und Jekaterina Andrejewa (Bachwalowa). 

Das Buch wurde am 26. März 2021 für extremistisch erklärt. Jekaterina Andrejewa befindet sich in Haft. Zunächst wurde sie für einen Livestream vom Platz des Wandels zu zwei Jahren Straflager verurteilt, kurz vor dem Ende ihrer Haftzeit fand ein zweiter Prozess statt, in dem sie wegen „Staatsverrats“ angeklagt und zu acht Jahren und drei Monaten Straflager verurteilt wurde. 


Anatoli Hatoutschyz: Adysseja kapitana BNR (Die Odyssee des BNR-Hauptmanns)

Worum es geht: Das Buch handelt von Zimoch Wostrykau, einem Mitglied des Rates der Belarussischen Volksrepublik (BNR).

„Das dramatische Schicksal eines seinem Heimatland ergebenen Belarussen unter dem Druck der bolschewistischen Kollektivierung, den Wirren der Kriegsjahre, erzwungener Emigration und schließlich der Rückkehr in die Heimat an Bord eines amerikanischen Flugzeugs, mit einem Fallschirm auf dem Rücken – zur Untermauerung der belarussischen Unabhängigkeit und Souveränität“, so heißt es im Klappentext des Buches über den Helden Zimoch Wostrykau.

Schon Wostrykaus Vater war Repressionen ausgesetzt und starb im Gulag. Zimoch Wostrykau selbst verbrachte 23 Jahre in Straflagern und starb 2007 in Homel.

Der Autor: Anatol Hatoutschyz ist Journalist in Homel und leitete die dortige Abteilung des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ). 

Das Buch wurde am 16. März 2023 für extremistisch erklärt. Der Autor wurde mehrfach von Silowiki festgenommen, seine Wohnung wiederholt durchsucht. 


Joseph Brodsky: Ballada pra malenki buksir (Die Ballade vom kleinen Schlepper), ein Kinderbuch, ins Belarussische übertragen von Alessja Aleinik

Worum es geht: Ein kleines Schleppboot schuftet und schuftet, ohne je den Heimathafen zu verlassen: es schleppt Schiffe hinein in den Hafen und wieder hinaus.

Der Autor: ist der russisch-amerikanische Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Joseph Brodsky, die Übersetzerin Alessja Aleinik. 

Das Buch erschien im Verlag Januškievič. Es wurde am 18. Oktober 2022 durch einen Beschluss des Stadtbezirksgerichtes Zentralny in Minsk für extremistisch erklärt. 

Der Herausgeber Andrei Januschkewitsch schrieb, dass er während der Razzia in seinem Buchladen Knihauka in Minsk die Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde GUBOPiK fragte, was ihnen an diesem Buch Brodskys missfalle. „Ein Kindergedicht, veröffentlicht 1962, der Text ohne jeglichen Bezug zu Belarus ... Zur Antwort bekam ich, dass die Farbgebung des Schleppbootes in den Illustrationen verdächtig sei (?!).“

Illustration aus dem Buch Die Ballade vom kleinen Schlepper / Foto  © Andrei Januschkewitsch / Facebook

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Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die  Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. 
Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.

Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl  gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert. 

Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus  als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.

Vor der politischen Krise von 2020

Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt. 

Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.

Die Entstehung der belarusischen Diaspora

Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe. 

Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.

Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung

Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.

Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich

In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch. 

Feierlichkeiten der kanadischen Diaspora zum 50. Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik / Foto © Rada BNR

Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.

Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus

Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg. 

Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert. 

Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen  Anfang 2019 und  September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.

Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt. 

Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus

Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).

Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.

Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.

Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen. 

Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden. 

ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

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