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Auf Kaperfahrt?

Als die Nachricht die Runde machte, dass die belarussische Ausgabe der russischen Boulevard-Zeitung Komsomalskaja Prawda geschlossen wird, überraschte dies viele Beobachter und Experten. Denn es kommt nicht alle Tage vor, dass sich die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gegenüber dem Kreml mit einer solch weitreichenden Entscheidung durchsetzen. Schließlich ist das russische Stammblatt ein einflussreiches Sprachrohr für die restaurative Politik des Kremls. Dessen Sprecher Dimitri Peskow hatte mit Bezug auf die Pressefreiheit die belarussischen Machthaber noch dazu aufgefordert, die Blockierung der Webseite wieder aufzuheben, als diese nach der Schießerei in Minsk und der entsprechenden Berichterstattung blockiert worden war.

Die Schließung war kurz darauf verkündet worden, nachdem die Zeitung über eine Wohnungsdurchsuchung in Minsk durch den KGB berichtet hatte, bei der zwei Menschen ums Leben gekommen waren, und kritische Fragen aufgeworfen hatte. Zudem wurde der Journalist Gennadi Mosheiko festgenommen, der den Artikel recherchiert und verfasst hatte. Er befindet sich zurzeit im Gefängnis von Shodino. Von der Staatsanwaltschaft wurde er aufgrund eines Paragraphen angeklagt, der rassistische, ethnische, religiöse oder andere soziale Anfeindungen unter Strafe stellt. Zudem wird ihm vorgeworfen, Repräsentanten der Silowiki beleidigt zu haben.

Wie kommt es, dass sich das System Lukaschenko mit seiner Taktik gegenüber der russischen Führung durchsetzen konnte? In seiner Analyse für die russische Online-Plattform Carnegie geht der belarussische politische Beobachter Artyom Shraibman dieser Frage auf den Grund. Dabei erklärt er auch, welche besondere Stellung die belarussische Ausgabe der Komsomolskaja Prawda in Belarus selbst hatte.

Источник Carnegie
Der Kreis der Verbündeten Lukaschenkos in Moskau schwindet schon seit Jahren / Foto © Press Service of the President of the Ukraine unter CC BY 4.0

Wie schon zu früheren Zeiten hat eine neuerliche Episode in der Eskalation der belarussischen Krise russische Interessen tangiert. Nach dem tragischen Vorfall, bei dem in einer Minsker Wohnung der KGB-Offizier Dimitri Fedossjuk und der auf Seiten der Proteste stehende IT-Fachmann Andrei Selzer bei einem Schusswechsel starben, begannen die belarussischen Behörden einen aktiven Kampf gegen alle, die öffentlich ihr Mitgefühl mit der falschen Seite ausdrückten.

Neben 200 festgenommenen Social-Media-Nutzern traf es auch die Komsomolskaja Prawda w Belarusi. Auf der Webseite der Zeitung war für wenige Minuten ein Artikel online zu lesen, in dem sich eine Klassenkameradin Selzers positiv über ihn äußerte. 

Wenige Stunden später war die Seite blockiert, und die Printausgabe wurde umgehend aus den letzten Geschäften, in denen sie noch erhältlich war, entfernt, nachdem bereits im vergangenen Jahr der Vertrieb per Post und über die staatlichen Kioske verboten worden war. Einige Tage später wurde dann der Autor des Artikels, der belarussische Staatsbürger Gennadi Mosheiko, festgenommen. Laut Angaben des Chefredakteurs der Komsomolka, Wladimir Sungorkin, geschah das in Russland, laut belarussischen Strafverfolgungsbehörden im eigenen Land.

Sungorkin bezeichnete die Geschehnisse als Willkür, andere kremlnahe Medienmanager forderten die Freilassung Mosheikos, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, kritisierte die Sperrung des Internetauftritts der Zeitung. Darüber hinaus kam es jedoch zu keinem ernsthaften Konflikt zwischen den beiden Staaten.

Die russische Komsomolka entschied sich schlicht für eine Schließung des belarussischen Ablegers. In den folgenden Stellungnahmen sagte Peskow, dass der Kreml die Schließung der Zeitung bedaure, man sich aber nicht in die Minsker Angelegenheiten mit belarussischen Massenmedien und einem belarussischen Staatsbürger einmischen könne. 

Im Affekt

Die Schließung der belarussischen Komsomolka und die Festnahme des Journalisten beschloss Minsk im Affekt in den ersten Tagen, wenn nicht Stunden nach der Schießerei. Die belarussischen Machthaber waren schockiert, dass es nach monatelanger Unterdrückung der Proteste jemand erstmalig gewagt hatte, den Sicherheitskräften bewaffnet entgegenzutreten, wofür er von vielen zum Helden erhoben wurde.

Den am Tatort erschossenen Selzer konnte man nicht mehr bestrafen, aber es stellte sich ein offensichtliches Bedürfnis nach Vergeltung ein. Also begannen Massenfestnahmen, weil viele Kritik an dem getöteten Sicherheitsoffizier äußerten und der Familie des IT-Fachmanns ihre Anteilnahme bekundeten – 200 Menschen wurden festgenommen und angeklagt, viele wurden gezwungen, sich vor laufender Kamera öffentlich zu entschuldigen. 

Fernsehmoderatoren und regierungsnahe Personen, darunter Parlamentsabgeordnete, riefen zu Vergeltungsmaßnahmen auf: Man solle die Führer der Oppositionsbewegung aus dem Ausland zurückholen, sie nach Mossad-Methoden liquidieren oder „für jeden [Silowik – dek] 20 oder 100 in die Scheiße tunken, damit sich das nicht wiederholt“.

In solch einer Atmosphäre ist die Veröffentlichung jeder noch so kleinen positiven Information über Selzer in Lukaschenkos Augen eine Todsünde für jedes Medium; und deshalb wurde die Komsomolka umgehend geschlossen, ohne Bedenken und Rücksprache mit Moskau. 

An dieser Stelle ist wichtig zu erwähnen, dass die belarussische KP mit dem russischen Mutterblatt nicht vergleichbar war – weder agitierte sie gegen den Westen, noch unterstützte sie offen die belarussische oder die russische Führung. Sie war ein neutrales Medium mit einer recht liberal eingestellten Redaktion. 

Die Zeitung hatte offen und ehrlich über die Proteste berichtet und wurde dafür mit einem Druck- und Verbreitungsverbot belegt. Sie überstand den erzwungenen Austausch des Chefredakteurs und zog sich dann von politischen Themen zurück, um sich vor dem Hintergrund der Zerstörung der letzten unabhängigen Medien im Land das eigene Überleben sichern zu können. 

Daher war die belarussische Komsomolka für Minsk eine Art Hybrid – einerseits verfügte sie über eine schützende Verbindung nach Moskau, und damit, wie einige meinen, zu Putins Lieblingszeitung, andererseits aber bestand ihre Redaktion aus Belarussen, die offensichtlich nicht mit der eigenen Regierung sympathisierten. Eine Schließung hatte schon länger in den Fingern gejuckt. Nun hatten die Finger ihren Vorwand gefunden, der stärker war als die Besorgnis, damit jemanden in Moskau zu verärgern. 

Autoritäre Souveränität

Viele waren überrascht, dass Moskau nur so verhalten auf die Schließung eines bedeutenden Medienbetriebs in einem verbündeten Staat und die Festnahme seines Journalisten reagierte. Hätte einer der prowestlichen Nachbarn – die baltischen Staaten, Georgien oder die Ukraine – eine vergleichbare Ohrfeige geliefert, wäre Russlands Reaktion vollkommen anders ausgefallen. Doch Verbündeten, besonders den autoritären, verzeiht man weitaus mehr als den Gegnern. 

Der Kreml versteht unter Souveränität das Recht, auf dem eigenen Territorium mit den von der Regierung als notwendig erachteten Mitteln für Ordnung zu sorgen, und respektiert dieses Recht auch bei verbündeten Autokraten. Daher rührt die größere Toleranz gegenüber deren Handlungen, selbst wenn sie russischen Interessen schaden könnten. Vorausgesetzt natürlich, es handelt sich nicht um vorrangige Interessen wie beispielsweise Sicherheitsfragen.

Lukaschenko hat sich diese Herangehensweise des Kreml zunutze gemacht, ohne irgendwelche Folgen. Als 2013 der Generaldirektor von Uralkali, Wladislaw Baumgertner, zu Gesprächen nach Minsk eingeladen war, wurde er beim Verlassen des Regierungsgebäudes festgenommen und war einen Monat im Untersuchungsgefängnis des KGB sowie im Anschluss noch mehrere Monate in Hausarrest. 2015 lehnte Lukaschenko die Errichtung eines russischen Luftwaffenstützpunktes [in Belarus – dek] ab, 2019 die Vollendung des belarussisch-russischen Unionsstaates. 2017 wurden mehrere allzu prorussische Publizisten inhaftiert. 2020 ließ die Staatsführung drei Dutzend Kämpfer einer privaten russischen Militäreinheit festnehmen, und es wurde ihre Auslieferung an die Ukraine in Erwägung gezogen. Zur selben Zeit wurde die Belgazprombank durchsucht, die von russischer Seite eingesetzte Führung abgesetzt und einige Funktionäre inhaftiert.

Doch nicht nur Belarus pflegt dieses Know-how, auch Kasachstan verhaftete problemlos prorussische Autoren für den Aufruf zum Separatismus und setzte die Latinisierung der Schriftsprache durch – natürlich zur Unzufriedenheit Moskaus, aber doch unter stillschweigender Hinnahme des Kremls.
Moskau kann unliebsame Handlungen seiner Verbündeten auf dem Verhandlungsweg abmildern, jedoch geschah dies selten zeitnah und im offenen Konflikt. Lukaschenko wurde häufig verziehen oder es wurde ihm gestattet, sich langsam aus der Situation herauszuwinden, um einen Skandal zu vermeiden. 

Letztlich zeigt sich hier aber, wie wesensfremd Menschenrechtsrhetorik wirkt, wenn sie von der russischen Regierung kommt. Peskows Erklärung, die belarussische Regierung schränke die Meinungsfreiheit ein, klingt angesichts dessen, was der Kreml in den letzten Monaten bezüglich der Meinungsfreiheit in Russland angestellt hat, wie Selbst-Trolling. 

Der schwindende Freundeskreis

Setzt sich die Geschichte mit der Komsomolskaja Prawda nach dem gleichen Muster fort, wie es bei ähnlichen Fällen in der Vergangenheit vorherrschte, dann wird die belarussische Regierung in ihrer Haltung bestärkt, dass man sich durchaus nicht zurückhalten muss, auch wenn es gegen russische Interessen geht. Zum Schutz der Union ist Moskau bereit, vieles zu schlucken. 

Wichtig ist, die richtigen Schmerzpunkte zu drücken, den Kampf gegen gemeinsame Feinde zu erklären, schnell und rücksichtslos zu handeln und damit das russische Gegenüber vor die Wahl zu stellen: zwischen einem lauten Skandal und einem stillen, wenn auch leicht demütigendem Kompromiss. 

Die Folgen sind zwar weniger offensichtlich, aber in der langfristigen Perspektive durchaus bedeutsam. Lukaschenko ist schon länger sehr unbeliebt bei einigen Gruppen innerhalb der russischen Führungskader und den ihr nahestehenden Kräften. 

Die radikalen Nationalpatrioten können Lukaschenko seine multivektorale Außenpolitik nicht verzeihen, etwa die Nichtanerkennung der Krim und die seichte Belarusifizierung innerhalb seines Landes. Im Rohstoffsektor hat man genug von den ständigen Energiekriegen mit Minsk, die jedes Mal mit politischen Vergünstigungen enden, welche dann wiederum mit Komplimenten wie der Zerschlagung der Belgazprombank beantwortet werden. 

Unter Systemliberalen und Regierungstechnokraten gibt es eine Art ästhetische Ablehnung Lukaschenkos und seines Stils, aber auch eine Verdrossenheit ob ständig neuer Kredite im Austausch gegen wohl portionierte Integrationsversprechen. Einzelne Oligarchen und Wirtschaftsgruppen, wie etwa Uralkali oder die Agrarlobby, hegen eine völlig eigennützige Abneigung gegen Minsk, das auf den gemeinsamen Märkten als direkter Konkurrent Russlands oft die Preise kaputt macht. 

Und nun demoliert Lukaschenko auch noch sein Verhältnis zum schützenswerten Teil des russischen Mediensektors und dadurch auch zu den Förderern dieser Medien im Kreml. Das russische Machtsystem ist zwar vertikal aufgestellt, besteht aber doch aus einem Konglomerat unterschiedlicher Gruppen. Niemand kann voraussagen, wann die Zahl der minskkritischen Kräfte in Putins Umgebung in Qualität umschlagen wird, doch der Trend ist eindeutig. Der Kreis der Verbündeten Lukaschenkos in Moskau schwindet schon seit Jahren, während die Zahl derer wächst, die von ihm genervt sind

Für Minsk wird es daher immer schwieriger, in Moskau Geld zu erpressen. Die reale Unterstützung wächst nicht, ungeachtet der völligen Isolation Lukaschenkos im Westen, ungeachtet seiner rhetorischen Kehrtwende in eine prorussische Richtung, der Annäherung im militärischen Bereich und der Unterzeichnung des Unionsprogramms.   

Selbst wenn Putins Konservatismus, seine sowjetische Nostalgie und sein Unwillen zum Konflikt mit Verbündeten genügen, um die Forderung der russischen herrschenden Elite nach einem härteren Kurs gegen Minsk zu besänftigen, sollte Lukaschenko doch die Daumen drücken und hoffen, dass Putin 2024 auf seiner Position bleibt.

Jede, selbst die kasachische, Version eines Machtwechsels in Russland wird dazu führen, dass Lukaschenko, egal welchen Posten er dann in Minsk bekleidet, mit denen zurückbleibt, die er all die Jahre nicht zu verärgern fürchtete. Diejenigen, die ihm frühere Vergehen vielleicht verzeihen würden, könnten weit weniger Schlange stehen, als diejenigen, wie aktuell die Führung der Komsomolskaja Prawda, die noch eine Rechnung mit Lukaschenko offen haben.

 

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Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

Die Hoffnung, Präsident des Unionsstaates zu werden, war wohl einst der geheime Wunsch Alexander Lukaschenkos, als er im Dezember 1999 den Vertrag über die Gründung einer Staatenunion mit Russland unterzeichnete. Doch bislang hat das Unionstaat-Modell für Belarus wenige Früchte getragen. Präsident Lukaschenko selbst ist heute mehr denn je in der Position des Bittstellers und Junior-Partners gegenüber Russland. 

Anders als andere postsowjetische Staaten konnte die Republik Belarus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nicht auf eine prägende historische Erfahrung als unabhängiger Staat zurückgreifen. Sie verfolgte auch keine Ambitionen, sich als solcher zu definieren und auf Abstand zum einstigen sowjetischen Zentrum in Moskau zu gehen. Im Gegenteil wurden in der ersten Zeit zahlreiche Kooperationen, vor allem militärischer Natur, mit der Russischen Föderation vereinbart, obwohl die belarusische Verfassung von 1991 die Regierung eigentlich zu außenpolitischer Neutralität verpflichtete. Die wenigsten dieser Abkommen wurden formalisiert und damit für die Öffentlichkeit transparent gemacht.

Alexander Lukaschenko rühmte sich immer wieder damit, als einziges Mitglied des Belarusischen Obersten Sowjets 1991 gegen die Auflösung der UdSSR und ihre Ersetzung durch die GUS gestimmt zu haben. Ensprechend setzte er sich nach seiner Wahl zum Präsidenten 1994 nicht für ein westlich orientiertes Belarus ein, sondern band sich eng an den sogenannten „slawischen Bruderstaat“: 1995 wurde ein Freundschaftsvertrag mit Russland abgeschlossen, im Jahr darauf folgte ein Abkommen zur Schaffung einer russisch-belarusischen Gemeinschaft, das 1999 in einen „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ mündete, den Lukaschenko mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin unterzeichnete. Aus russischer Sicht sollte die Staatenunion mit Belarus vor allem als Impuls für weitere Integrationsprozesse im postsowjetischen Raum dienen. Diese sollten das Auseinanderdriften der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aufhalten und die eigene Einflusssphäre mithilfe neuer regionaler Bündnisse, wie der GUS und der OVKS, sichern. Für Belarus ging es bei der Anlehnung an Russland um wirtschaftlich-soziale Unterstützung, politische Orientierung und einen starken militärischen Verbündeten.

Russisch-Belarusischer Unionsstaat

Der Vertrag über die Russisch-Belarusische Union von 1999 sah eine Integration in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Handel, Finanzen, Soziales und Verteidigung vor. Im Sinne des Vertragstextes sollten dazu mehrere gemeinsame Staatsorgane, eine Währungsunion sowie eine Wirtschafts- und Zollunion geschaffen werden. Die meisten dieser Integrationsvorhaben verloren jedoch schnell an Dynamik und zahlreiche Differenzen traten zutage: Ein wiederkehrender Streitpunkt war zum Beispiel die Frage, welche Zentralbank die gemeinsame Währung ausgeben solle. Dass bislang nur sehr wenige der ehrgeizigen Ziele umgesetzt wurden, lag nicht zuletzt an Wladimir Putin, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde. Anders als der väterliche Jelzin machte er kein Hehl daraus, persönlich keine Sympathien für Lukaschenko zu hegen und in Belarus keinen ebenbürtigen Partner zu sehen.

Das Haupthindernis für eine vertiefte politische und wirtschaftliche Integration ist bis heute letztlich das Ungleichgewicht zwischen den beiden Nationalökonomien – Putin stellte ehedem fest, dass die belarusische Wirtschaft in etwa drei Prozent der russischen entsprechen würde.1 Russland begann zudem, anderen Integrationsprojekten wie der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft mehr Bedeutung zuzumessen. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine kam Belarus ab 2014 wiederum eine neue Rolle als Vermittler in den Verhandlungen um das Minsker Abkommen und als Brückenkopf zwischen Ost und West zu, welche sich in vielerlei Hinsicht für das Land als günstig erweisen sollte, aber auch Russland immer mehr vergrämte. Erst als der russische Premierminister Dimitri Medwedew Ende 2018 die Staatenunion als Druckmittel in den Verhandlungen über Öl- und Gaslieferungen wiederentdeckt hatte, kam erneut Bewegung in die Diskussionen um eine vertiefte Integration. 2019 wurden diesbezüglich konkrete Roadmaps ausgearbeitet. Als relativ erfolgreich können lediglich die Zoll- und Verteidigungsunion angesehen werden, sowie die Visafreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern.

Wirtschaftsbeziehungen

Russland ist seit jeher Belarus‘ wichtigster Handelspartner, Abnehmer von 45 Prozent der belarusischen Exporte (82 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte)2 sowie Hauptlieferant für Rohöl und Erdgas. Viele Jahre fuhr Belarus gut damit, von den Erträgen der erdölverarbeitenden Industrie zu leben, doch in letzten Jahren dominieren die Unsicherheiten über die Zukunft russischer Energie-Subventionen. Bislang war Belarus von den russischen Ölexportzöllen befreit, diese sollen nun aber bis 2024 durch eine Förderabgabe ersetzt werden, was für Belarus erhebliche Auswirkungen haben wird. So hofft Belarus weiterhin auf einen Ausgleich für die zu erwartenden Verluste aus dem sogenannten russischen Steuermanöver.

Belarus ist als Transportland für russische Rohstoffe nach Europa zentral und die Transportrouten kürzer als jene durch die Ukraine. Doch gab es immer wieder Uneinigkeiten über Lieferkonditionen und Transitgebühren. Diese kumulierten beispielsweise im Energiestreit im Winter 2003/04, als Gazprom aufgrund der ausbleibenden Einigung seine Gaslieferungen stark reduzierte, schließlich gänzlich einstellte und Lieferengpässe bei den Endabnehmern in Europa drohten. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2007, aber dieses Mal in Bezug auf Öllieferungen und mit dem Ausgang, dass 50 Prozent von Beltransgaz, dem Betreiber des belarusischen Pipeline-Netzwerks, von Gazprom gekauft wurden. Bis heute ist die Angst vor weiteren Übernahmen belarusischer Staatsunternehmen durch Russland sehr präsent. 

Weitere Handelskonflikte, wie der sogenannte Milchkrieg 2009, verdeutlichten, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern auch immer wieder als politisches Druckmittel Anwendung finden. Doch während die wirtschaftlichen Beziehungen immer wieder von Spannungen und die Integrationsvorhaben von Rückschlägen geprägt waren, hat sich die Staatenunion vor allem in einem Bereich bewährt: in der militärischen und sicherheitspolitischen Kooperation.

Militärische Beziehungen

Der militärische Charakter der Staatenunion war sicher nicht Teil einer bewussten Strategie in der Ausrichtung der russisch-belarusischen Beziehungen. Er kann eher als kleinster gemeinsamer Nenner gesehen werden, bei dem sich eine Kooperation für beide Seiten als gleichermaßen vorteilhaft erwiesen hat. Schon in den frühen 1990er Jahren band sich Belarus militärpolitisch eng an Russland und ermöglichte unter anderem seit 1994 den Betrieb eines Frühwarnradars gegen Raketenangriffe in Baranawitschy und eines Kommunikationszentrums für die Kriegsmarine in Wileika.

Doch während Belarus lange Zeit einen strikt antiwestlichen Kurs verfolgte und sich im Rahmen der Verteidigungsunion militärstrategisch an Russland orientierte, versuchte es sich seit 2014 nicht nur politisch, sondern auch militärisch von Russland zu emanzipieren. Infolge einschneidender Ereignisse, wie dem Russisch-Georgischen-Krieg 2008, der Aufnahme Belarus‘ in die Östliche Partnerschaft der EU 2009 und der Nichtanerkennung der Krim-Annexion 2014, begann sich Belarus zunehmend gen Westen zu öffnen. Darüber hinaus unternahm es Bestrebungen, sich aus dem militärisch-industriellen Komplex mit Russland zu lösen. So baut Belarus seit dem letzten Jahrzehnt eine eigene Rüstungsindustrie auf, geht vermehrt Kooperationen mit China ein und baut Handelsbeziehungen, beispielsweise mit Aserbaidshan, aus.

Für Russland nimmt Belarus jedoch nach wie vor eine entscheidene Funktion als strategische Pufferzone zwischen Moskau und der NATO sowie als Verbindung zur Oblast Kaliningrad ein. Auch in frostigen Zeiten hielten beide Seiten an turnusmäßigen gemeinsamen Militärübungen, wie der Großübung Zapad fest, die im September 2021 erneut abgehalten werden soll. Zudem sind derzeit drei gemeinsame militärische Ausbildungszentren in Belarus und Russland geplant.3

Gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und Status quo

Infolge der politischen und gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020, brachte sich die belarusische Führung zunehmend in eine innen- und außenpolitische Isolation. Die Abhängigkeit von Russland wurde wieder sehr real und bestimmt die derzeitigen Entwicklungen im Land maßgeblich mit. Besonders ein Treffen von Lukaschenko und Putin in Sotschi im Februar 2021 verdeutlichte, dass die Abhängigkeit Belarus‘ von Russland trotz aller Emanzipationsversuche sowohl in finanzieller Hinsicht, aber auch im Hinblick auf die politischen Beziehungen eine neue Dimension erreicht hat. Damit hat der belarusische Präsident die Bemühungen des Staatsapparates der letzten Jahre – allen voran des ehedem liberaler ausgerichteten Außenministeriums –, das Land aus der russischen Einflusssphäre herauszuholen und Vertrauen im Westen zurückzugewinnen, zunichtegemacht. Auch entspricht diese Abhängigkeit nicht den Wünschen der Bevölkerung:

Im Rahmen einer vor kurzem realisierten ZOiS-Umfrage in Belarus4 gab eine Mehrheit an, dass sie eine Kooperation zwischen den beiden Ländern in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne politische Union bevorzugen würden (35 Prozent der Befragten). 23 Prozent wünschten sich lediglich eine Handelskooperation. Engere politische und militärische Beziehungen wurden nur noch von rund 12 Prozent der Befragten befürwortet und die Staatenunion von 7 Prozent (siehe Grafik). Dabei korrelierten Vertrauen in Tichanowskaja und die Beteiligung an Protesten mit der unverbindlichsten Beziehung einer Handelskooperation, während hohes Vertrauen in Lukaschenko mit einer Präferenz für eine engere politische Integration zusammengeht. 21 Prozent der Befragten blieben in dieser Frage unentschieden, was auch auf eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern hindeutet.


Die Daten stammen aus einer Umfrage des ZOiS vom Dezember 2020, bei der 2000 Belarusen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren befragt wurden.

Russland forciert in Folge der Wahlfälschung in Belarus und der anschließenden Proteste den Prozess einer Reform der belarusischen Verfassung. Dem Kreml geht es dabei um die „Wahrung der Verfassungskontinuität“5, was eine klare Anspielung darauf ist, dass man vor allem „Verhältnisse wie in der Ukraine“ verhindern möchte. Russland ist nach wie vor auf die Stabilität in Belarus angewiesen und hofft, dass Lukaschenko während einer Transitionsphase die Angelegenheiten im Land weiter zu steuern vermag. Das Land bleibt der zentrale regionale Verbündete Russlands und ist strategisch gesehen für Russland überlebenswichtig. Die belarusische Bevölkerung ist eine der wenigen im postsowjetischen Raum, die Russland gegenüber nach wie vor relativ wohlwollend gesonnen ist. Bei den landesweiten Protesten wurde eine klare geopolitische Positionierung vermieden. Doch Moskau muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die organisierte belarusische Opposition, deren führende Köpfe sich größtenteils im Ausland aufhalten, sich – nach mehreren gescheiterten Versuchen der Kontaktaufnahme mit dem Kreml – explizit mit der Bitte um Unterstützung an den Westen gewandt hat. Auch innenpolitisch könnte die Situation in Belarus zu einem Problem in Russland selbst werden. Denn Lewada-Umfragen zufolge ist es zwar keine Mehrheit, aber auch ein nicht geringer Teil der Russen, welcher die Anliegen der Protestierenden in Belarus nachvollziehen kann – ein wesentlicher Unterschied zur Wahrnehmung des Euromaidans in der Ukraine 2013/14.6 Auch die innerrussische Protestbewegung, die seit Monaten gegen die Verhaftung des Gouverneurs der Region Chabarowsk demonstriert oder auch in zahlreichen Städten für die Freilassung Alexej Nawalnys auf die Straße geht, hat sich immer wieder solidarisch mit der Opposition in Belarus gezeigt.7


 

ANMERKUNG DER REDAKTION:


Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

 



1.RFE/RL Poland (2002): Belarus and Ukraine Report, Vol. 4 (24) 
2.German Economic Team Belarus: Wirtschaftsausblick Ausgabe 13 
3.RBK: Šojgu dogovorilsja s Minskom sozdat' učebno-boevye centry dlja voennych 
4.Die ZOiS Umfrage wurde im Dezember 2020 unter 2.000 Belarusen im Alter zwischen 16 und 64 durchgeführt. Die landesweite Umfrage wurde durch eine Finanzierung des Auswärtigen Amts ermöglicht. Der Text spiegelt die Meinung der Autorin wider. 
5.Socor, Vladimir (2020): Russia Poised to Arbitrate Regime Change in Belarus, in: Eurasia Daily Monitor, Jamestown Foundation, Vol. 17, Issue 124 
6.Levada-Center: Protests in Belarus 
7.RFE/RL (2021): Minsk, Moscow, And Beyond: Belarus Protests Reverberate On Russian Streets 
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