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Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

 „Ich, eine Bürgerin der Republik Belarus, bin gegen die Beteiligung von Belarus beim russischen Militärangriff auf die Ukraine. Ich fordere den Abzug der russischen Truppen aus Belarus. Ich möchte, dass mein Land ein Territorium der Sicherheit ist und sich nicht an Aggressionen beteiligt.“ Dies schrieb die belarussische Lyrikerin Julia Cimafiejeva am gestrigen Sonntag wie viele andere auf Facebook. Es entwickelte sich ein Flashmob, dem sich viele Belarussen anschlossen, um auch gegenüber den Ukrainern auszudrücken, was sie von einem möglichen Einstieg Alexander Lukaschenkos mit eigenen Truppen in Russlands Krieg halten. Am Wochenende hatte es Hinweise gegeben, dass die belarussische Armee anscheinend in der Phase der Mobilmachung sei. Auch zwei Marschflugkörper waren von Belarus in Richtung Ukraine abgefeuert worden, allerdings, wie Lukaschenko selbst mitteilte, von der russischen Armee. Dennoch ist Lukaschenko bereits tief in den Krieg verstrickt. Im Land stehen mehr als 30.000 russische Soldaten und entsprechendes Gerät. Anscheinend werden verwundete russische Soldaten auch in belarussischen Krankenhäusern versorgt, zudem unterstützen die belarussischen Machthaber den Kreml hinsichtlich der Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee. Dass Lukaschenko aktiv in den Krieg eingreifen könnte, ist nach wie vor nicht ausgeschlossen. Es gibt Berichte von Truppensammlungen in der Nähe der west-belarussischen Stadt Brest.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre fand am gestrigen Sonntag das umstrittene Referendum zur Verfassungsreform statt, dessen vorläufiges Ergebnis in den frühen Morgenstunden am Montag verkündet wurde. Demnach hätten 65 Prozent der 6,8 Millionen Wahlberechtigten für die Reformvorschläge gestimmt, die sich insgesamt so zusammenfassen lassen: Es soll gewisse Machtverschiebungen auf andere staatliche Organe wie die Allbelarussische Volksversammlung geben, allerdings bleibt die zentrale Führung beim Präsidenten, also bei Lukaschenko. Der kann sich ab der nächsten Wahl, die für 2025 angekündigt ist, noch für zwei Legislaturperioden um das Amt bewerben. Was bedeutet, dass er theoretisch bis 2035 regieren kann. Eine zentrale Neuerung, die die Reform vorsieht, ist die Aufhebung des militärisch neutralen Status von Belarus, der in der Verfassung von 1994 festgeschrieben ist. Damit können ab sofort auch längerfristig russische Truppen in dem Nachbarland stationiert werden, sowie auch russische Atomwaffen, die Wladimir Putin am Sonntag in Alarmbereitschaft versetzt hat. 

Das Referendum sowie Lukaschenkos Rolle im Krieg wird von der belarussischen Opposition massiv kritisiert. „Das ist ein Hochverrat am Staat, ein Hochverrat am Volk“, urteilte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Vilnius. „Die Hauptbedrohung unserer Souveränität ist Alexander Lukaschenko“, sagte der im Exil befindliche Oppositionspolitiker Pawel Latuschko. Auch an der Echtheit des Wahlergebnisses gibt es von vielen Seiten Zweifel, da der Auszählungsprozess noch intransparenter als sonst gestaltet wurde. Die Namen der Wahlkommissionsmitglieder wurden geheim gehalten, Exit-Polls waren untersagt und in der in Belarus üblichen Vorwahl, die am vergangenen Dienstag begonnen hatte, gibt es traditionell diverse Manipulationsmöglichkeiten. Die Opposition hatte dazu aufgerufen, die Stimmzettel mit zwei Kreuzen ungültig zu machen. Viele Belarussen nutzten die Stimmzettel auch, um ihren Protest gegen den Krieg zum Ausdruck zu bringen. „Nein zum Krieg“ konnte man auf Zetteln lesen, die abfotografiert durch die sozialen Medien gingen. Zahlreiche Belarussen nahmen den Wahltag trotz der äußerst repressiven Atmosphäre zum Anlass, auf die Straße zu gehen. Hunderte versammelten sich vor allem in Minsk, in Hinterhöfen, auf Plätzen; reihten sich in Menschenketten auf, fuhren hupend durch die Stadt oder skandierten vor dem Verteidigungsministerium Losungen für die Ukraine und gegen den Krieg. An der ukrainischen Botschaft in Minsk beten die Menschen, bringen Blumen und andere Zeichen der Anteilnahme. Die Proteste wurden von der Staatsmacht auseinandergetrieben, rund 800 Personen festgenommen.

Minsk wurde von der russischen Führung am Wochenende, wie schon ab 2014, für angekündigte Friedensverhandlungen mit der Ukraine ins Spiel gebracht. Eine russische Delegation war dafür bereits am Sonntag in der belarussischen Hauptstadt angekommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky lehnt es allerdings ab, nach Belarus zu reisen. Er fordert einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug der russischen Truppen. Seit Montagmittag verhandeln die Delegationen aus der Ukraine und aus Russland, an der die beiden Staatsoberhäupter allerdings nicht teilnehmen, an der belarussisch-ukrainischen Grenze. 

Der belarussische Politanalytiker Waleri Karbalewitsch diskutiert in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium SN Plus die Rolle Lukaschenkos im russischen Krieg gegen die Ukraine und analysiert, welche Folgen möglich wären.

Источник SN Plus

Belarus – das Aufmarschgelände für den Angriff

Lukaschenko hat wiederholt erklärt, dass von unserem Staatsgebiet aus nie eine militärische Gefahr für die Ukraine ausgehen würde, dass Belarus an keinem Krieg teilnehmen würde, solange es nicht angegriffen wird. Am 22. Februar sagte Lukaschenko bei einem Festakt zum [bevorstehenden – dek] Tag des Vaterlandsverteidigers: „Denken Sie immer daran: Die Staatsführung und ich als Präsident werden immer alles dafür tun, damit Belarus eine friedliche kleine Insel auf diesem verrückt gewordenen Planeten bleibt.“

Fast wie eine Verhöhnung wurde im Entwurf der neuen Verfassung folgender Punkt ergänzt: „Die Republik Belarus schließt eine militärische Aggression von seinem Gebiet gegenüber anderen Staaten aus.“

All diese hehren Wünsche werden durch den militärischen Angriff auf die Ukraine vom belarussischen Staatsgebiet aus durchkreuzt – selbst wenn die belarussischen Streitkräfte nicht selbst daran teilnehmen.

Lukaschenko hat erklärt: „Der an unserer belarussischen Südgrenze verbliebene Teil der russischen Truppen wurde – und das sage ich offen und ehrlich – natürlich vom russischen Generalstab mit hoher Wahrscheinlichkeit – das weiß ich aber nur aus den Medien – in dieser Operation eingesetzt.“

Also fragen die russischen Generäle Lukaschenko nicht nur nicht um Erlaubnis, belarussisches Gebiet in dem Krieg zu nutzen, sondern informieren ihn nicht mal darüber. Die Information muss er den Medien entnehmen. So ist Belarus jetzt zu einem Durchgangshof für die russischen Truppen geworden.

Übrigens: Laut einer Definition der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1974 gilt das Bereitstellen des Hoheitsgebiets für eine Aggression gegenüber einem Drittland ebenfalls als Aggression.

Spannungen, aber kein Krieg

Bis zum Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine, hatte das offizielle Minsk rhetorisch eine radikalere und aggressivere Position zum Westen. Das Wort Schurken erklang gegenüber Politikern der Nachbarstaaten aus Lukaschenkos Munde wie ein tägliches Pflicht-Zitat. Putin und seine Umgebung hatten sich das nicht erlaubt und die Opponenten mit unverhohlenem Zynismus „unsere westlichen Partner“ genannt. Lukaschenko hatte somit das laut gesagt, was der russische Leader aus welchen Gründen auch immer nicht aussprechen wollte, und dadurch in gewisser Hinsicht als Pressesprecher des russischen Präsidenten fungiert.

Außerdem redete das offizielle Minsk nicht nur, sondern tat auch viel dafür, um den westlichen Nachbarn Probleme zu bereiten: Die Landung des Flugzeugs mit Protassewitsch am Minsker Flughafen, die Migrations-Krise und so weiter. Lukaschenko initiierte auch neue belarussisch-russische Militärübungen auf dem belarussischen Staatsgebiet. So zumindest hatte er das behauptet. Eine solche politische Linie erlaubte Lukaschenko, Putin gegenüber seine Loyalität zu demonstrieren im Austausch gegen diverse Dividenden. Und es dem Westen heimzuzahlen.

Jedoch interessierte ihn nur die Verschärfung der Spannungen, die Existenz im Ausnahmezustand, die Schaffung einer belagerten Festung, die niemand angreift. Er wollte wohl kaum einen echten Krieg. Denn das bedeutet eine enorme Erschütterung für das Volk und den Staat mit unvorhersehbaren Folgen.

Ein Krieg lohnt sich nicht für Lukaschenko

Ein vollumfänglicher Krieg zwischen Russland und der Ukraine, der auch noch das Staatsgebiet von Belarus einbezieht, bereitet Lukaschenko daher sehr viele Probleme.

1. Ein Krieg – insbesondere mit der Ukraine – ist sehr unpopulär in Belarus. Davon zeugen Meinungsumfragen. Er ist darüber hinaus auch unpopulär bei Lukaschenkos Anhängern. 

2. Russlands Aggression gegen die Ukraine ist langfristig eine Bedrohung für die Unabhängigkeit von Belarus. Denn Putin akzeptiert die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion nicht. Russische Politiker machen keinen Hehl daraus, dass die Existenz eines belarussischen Staatsgebildes [für sie] nur irgendein Missverständnis ist. Lukaschenko wiederholt seit 27 Jahren, dass wir und die Russen ein Volk seien, dass Russland unser großer Bruder sei und so weiter. Und nun könnte diese ganze Politik der „brüderlichen Integration“ zu unerwarteten Konsequenzen führen. Putin könnte sagen: Wenn wir doch ein Volk sind – wozu braucht ihr dann einen eigenen Staat?  

3. Wie sehr Lukaschenko auch eine Beteiligung der belarussischen Armee an diesem Krieg vermeiden mag – für die Weltgemeinschaft bleibt es Fakt, dass Belarus der einzige Helfer des Aggressors ist. Das belarussische Staatsgebiet wird für den Angriff auf die Ukraine genutzt. Belarus und Russland haben sich praktisch gegen die ganze Welt gestellt. Dieses Brandmal lässt sich nicht mehr abwaschen. Und es ist schlimmer als das Brandmal „Diktator“. 

4. Dass sich russische Truppen (in wachsender Zahl) auf belarussischem Gebiet befinden, heißt für Lukaschenko ein Kontrollverlust über das Land, das er fast drei Jahrzehnte als sein Eigentum betrachtet hat. Das ist der Verlust der militärischen Souveränität. Russische Generäle verfügen über belarussisches Gebiet, wie sie wollen. Das ist sehr unangenehm für jeden Staatschef. Es war kein Zufall, dass der kasachische Präsident Kassim-Schomart Tokajew nicht zögerlich war mit dem Abzug der OVKS-Truppen aus seinem Land.

5. Der Krieg vereinfacht alle Beziehungen erheblich, er unterteilt die Situation in Schwarz und Weiß, ohne Schattierungen. Für Lukaschenko bedeutet das eine drastische Verengung des Handlungsspielraums in den Beziehungen zum Kreml. Für Ausweichmanöver, Balanceakte und Finten wird es immer weniger Möglichkeiten geben. So muss etwa die unangenehme Entscheidung zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik gefasst werden. Das Problem ist hier nicht nur die negative Reaktion der Weltgemeinschaft. Bald kommt die Frage nach der Eingliederung der Volksrepubliken in den „Unionsstaat von Belarus und Russland“. Dann werden womöglich auch Abchasien, Südossetien und Transnistrien beitreten wollen. Es würde dann ein Unionsstaat aus russischen Marionetten. Der Status von Belarus fiele schlagartig auf das Niveau jener nicht anerkannten, kleinen halbstaatlichen Gebilde. Das Bild als völlige Marionette Putins (und das ausgerechnet in der Zeit, in der Letzterer ein klar unangemessenes Verhalten an den Tag legt) – das wäre sicher nicht das Finale der politischen Biografie Lukaschenkos, von dem er geträumt hat.     

6. Ein ganz realer Konflikt mit der Ukraine, also nicht mehr auf der Ebene der Rhetorik – das ist für das offizielle Minsk in jeglicher Hinsicht unvorteilhaft. Nehmen wir allein den ökonomischen Aspekt. Der Handelsbilanzüberschuss zwischen Belarus und der Ukraine beträgt 4,5 Milliarden US-Dollar. Wenn dieser Handel wegfällt, entstehen für Belarus größere Einbußen als durch westliche Sanktionen.

7. Die USA und Großbritannien haben neue Wirtschaftssanktionen gegen Belarus verhängt, ausdrücklich wegen der Beteiligung an der Aggression gegen die Ukraine. Offensichtlich hat die EU vor, genau das gleiche zu tun. Zudem werden die Sanktionen gegen Russland zum Teil auch Belarus treffen.

8. Der Krieg hat die wirtschaftlichen Probleme in Belarus deutlich verschärft. Der Rubelkurs ist nach unten gesaust. Das Fehlen von Fremdwährungen bei den Banken, in den Wechselstuben, an den Bankautomaten, die sich davor bildenden Schlangen – all das könnte ein Vorbote für noch viel ernstere Probleme und sogar unkontrollierbarer Prozesse werden.

Genau deswegen versucht Lukaschenko, irgendwelche Erklärungen zu vermeiden, und tut so, als ob gar nichts los wäre und die Ereignisse im Süden die Belarussen nichts angingen. Doch im Informationszeitalter ist das unmöglich.

 

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Alexander Lukaschenko

Alexander Lukaschenko (geb. 1954, belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) ist seit 1994 Präsident der Republik Belarus. Er wurde in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des seit 1991 souveränen Staates gewählt. Seither baute er systematisch die Gewaltenteilung ab, sein Regime unterdrückt freie Medien sowie die Opposition des Landes. 

Alexander Lukaschenko (belaruss. Aljaxandr Lukaschenka) wurde 1954 in der Ortschaft Kopys im Osten der belarussischen sowjetischen Teilrepublik geboren. Er regiert seit 1994 ununterbrochen als Präsident der seit 1991 unabhängigen Republik Belarus. Für viele osteuropäische Beobachter hatte das von ihm seit seiner Wahl installierte politische System eine Vorbildfunktion in Osteuropa, unter anderem auch für die Errichtung der sogenannten Machtvertikale in Russland.1 Die verabschiedeten Verfassungsänderungen stärkten die Macht des Präsidenten und hoben die Gewaltenteilung nach und nach weitgehend auf.

Trotz des vollständig auf seine Person ausgerichteten Systems verzichtet Lukaschenko nicht auf seine formelle Legitimierung durch Wahlen. Er lässt sich alle fünf Jahre durch den verfassungsmäßigen Souverän, das belarussische Volk, im Amt bestätigen. Diese Wahlen sind jedoch weder frei noch fair. Die Ergebnisse werden ebenso stark durch die konsequente Ausgrenzung der politischen Opposition beeinflusst wie durch die Gleichtaktung staatlicher und die Einschüchterung freier Medien. Um ein besonders hohes Wahlergebnis abzusichern, organisiert die zentrale Wahlkommission regelmäßig gezielte Manipulationen bei der Auszählung der Stimmen.2

Bisherige Strategien des Machterhalts

Maßgebliche Gründe für den bis Ende 2019 anhaltenden Erfolg des Modells Lukaschenko sind:

1) Lukaschenko war von Anfang an ein populärer Herrscher, der die „Sprache des Volkes“ sprach. Er griff Stimmungen in „seiner“ Bevölkerung auf und ließ sie in dem ihm eigenen Präsidialstil in populistische Verordnungen einfließen. Während ihm die Opposition vorwarf, weder Russisch noch Belarussisch korrekt zu sprechen, sprach er die „Sprache des einfachen Mannes“3 – so wie die Mehrheit der Bevölkerung. Diese symbolische Nähe zum Volk wurde ökonomisch abgesichert durch eine Klientelpolitik, die wichtigen sozialen Gruppen ein stabiles Einkommen über dem regionalen Durchschnitt sicherte: Beamten in Verwaltung und Staatsbetrieben, Angehörigen von Militär, Miliz und Geheimdiensten, Bewohnern ländlicher Regionen sowie Rentnern.

2) Die relative Stabilität von Lukaschenkos Wirtschaftssystem beruhte bis Anfang 2020 auf einer konsequenten Umverteilung indirekter russischer Subventionen. Diese bestanden vor allem darin, dass Belarus bisher für russisches Rohöl hohe Ermäßigungen erhielt. Die im Land hergestellten Erdölprodukte wurden aber zu Weltmarktpreisen abgesetzt. Mit solchen indirekten Subventionen aus Russland wurde die petrochemische Industrie zum größten Devisenbringer des Landes.4 Eine weitere wichtige Einnahmequelle war das Kalisalz aus Soligorsk (Salihorsk), dessen Förderstätten zu den weltweit größten Produzenten dieses Minerals gehören. Darüber hinaus verfügt Belarus nur über Holz als nennenswerten Rohstoff.

Die strukturelle Abhängigkeit von der russischen Wirtschaft führt immer wieder zu finanziellen Engpässen in der Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Lukaschenko gleicht diese bisher zum Teil durch internationale Kredite aus, insbesondere durch Eurobonds, die für Belarus günstiger sind als die Kredite der russischen Seite.

3) Alexander Lukaschenko war ein indirekter Profiteur des Kriegs im Osten der Ukraine. Er war bereits 2015 durch die Etablierung von Minsk als Treffpunkt für die Gespräche im Normandie-Format wieder zum Verhandlungspartner für die Europäische Union geworden. Im Februar 2016 hob die EU ihre Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko und hohe Beamte seiner Administration auf. Bedingung dafür war die zuvor erfolgte Freilassung von politischen Gefangenen. Auch diese Entscheidung ermöglichte es Lukaschenko, sich wieder als Gesprächspartner der Europäischen Union zu etablieren. Auf diese Weise konnte Lukaschenko weiterhin seinen einzigen geopolitischen Trumpf ausspielen: Die Lage der Republik Belarus zwischen Russland und der EU. 

Neben dem systematischen Machterhalt bestand der rationale Kern von Lukaschenkos Herrschaft bis zum Beginn des Jahres 2020 vor allem in der Gewinnmaximierung aus dem taktischen Lavieren zwischen Russland und der EU. Daraus resultierten immer wieder politische und wirtschaftliche Krisen – sowohl im Verhältnis zum Westen als auch zum Osten des Kontinents.

Was hat sich 2020 verändert?

Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Im Wesentlichen haben folgende sechs Faktoren dazu beigetragen:

Das wirtschaftspolitische Modell von Belarus funktioniert vor allem aufgrund eines verstärkten Drucks aus Moskau nicht mehr. Die Russische Föderation verlangt im Gegenzug für die Fortsetzung indirekter Subventionen weitreichende politische Zugeständnisse zu einer vertieften Integration. Alle Einwohner der Republik Belarus zahlen den Preis für die derzeitige Wirtschaftskrise, da sie im Alltag die stetig sinkenden Realeinkünfte spüren.

Lukaschenko spricht vor Anhängern in Minsk, August 2020 / Foto © Jewgeni Jertschak, Kommersant

Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass das klassische Umverteilungsmodell der belarussischen Wirtschaft an seine Grenzen stößt, weil die Produkte vieler Staatsbetriebe im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verlieren. Es besteht dringender Reformbedarf in der Wirtschaft, um die Arbeitsplätze in diesen Industriebetrieben zu retten. Symptomatisch ist vor diesem Hintergrund auch der beginnende Verlust der Unterstützung des Lukaschenko-Regimes durch die klassische Wählergruppe der Arbeiter.

Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen gingen einher mit gravierenden Fehlern im Seuchenmanagement: Lukaschenkos Weigerung, die Folgen der Covid-19-Pandemie für Belarus anzuerkennen, hat eine neue Form zivilgesellschaftlichen Selbstschutzes aktiviert – die Bürger vernetzten sich, begaben sich in die selbst verhängte Quarantäne, während die Unternehmer mit eigenen Ressourcen Masken zum Schutz des medizinischen Personals in öffentlichen Krankenhäusern produzierten. Folge war ein Vertrauensverlust in weiten Teilen der Gesellschaft, die Angst vor Covid-19 haben und gezwungen waren, aus eigener Kraft gegen die Folgen zu kämpfen.

Zu den offensichtlichen Fehlern von Lukaschenko gehört auch das Ausmaß der Wahlfälschungen und die willkürliche Festlegung des Wahlergebnisses auf 80,11 Prozent. Viele Menschen im Land bewerten diesen Schritt als einen Schlag ins Gesicht jener Bürger der Republik, die nicht eng mit dem Sicherheits- und Verwaltungsapparat des Präsidenten Lukaschenko verbunden sind. Viele Beobachter sind sich einig, dass ein gefälschtes Ergebnis von etwa 53 Prozent weitaus weniger Menschen aufgebracht hätte. Doch nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der zuvor als apolitisch geltenden Gesellschaft wollten offenbar nicht in diesem Ausmaß und in dieser Unverfrorenheit belogen werden. 

Einige Beobachter argumentieren vor diesem Hintergrund, dass Lukaschenko in einer anderen Wirklichkeit lebe als Millionen von Belarussen: Während der Präsident immer noch glaube, bei den Protesten mit den Methoden aus den analogen 1990er Jahren weiter durchregieren zu können, hätten sich nicht nur junge Menschen längst in einer digitalen Wirklichkeit wiedergefunden, in der sie sowohl lokal, als auch global vernetzt sind. Die Geheimdienste haben der horizontalen Mobilisierung in den sozialen Netzwerken, allen voran in Telegram, kaum etwas entgegen zu setzen. 

Die Gewalt gegen die Protestierenden unmittelbar nach der Wahl schmälert Lukaschenkos Rückhalt und Legitimität in der Gesellschaft genauso wie die systematische Folter in den Untersuchungsgefängnissen.
So sind die Arbeiter in den Staatsbetrieben nicht in den Streik getreten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, sondern weil für sie eine rote Linie überschritten war: Viele von ihnen glauben, dass Lukaschenko Krieg gegen das eigene Volk führt.

Aus diesen Gründen kam es in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 zu den größten Protesten in der Geschichte der Republik. Lukaschenkos Weigerung, die Wirklichkeit eines großen Teils der Gesellschaft auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn auf diese einzugehen, hatte aber noch eine nicht intendierte Nebenwirkung: Mit dieser Weigerung einigte der Präsident ungewollt landesweit breite Gesellschaftsschichten, die sich bei den Protesten zum ersten Mal unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen den Präsidenten versammelten – Ärzte, Arbeiter, Künstler, Programmierer, Jugendliche, Rentner und dies nicht nur in Minsk, sondern in vielen Bezirks- und Kreisstädten. Für sie alle ist klar, dass die Verantwortung für den Ausbruch staatlicher Gewalt in der Republik Belarus bei Alexander Lukaschenko liegt.

Aktualisiert: 24.08.2020


1.Belarusskij Žurnal: «Belarusprovinilaspered vsem postsovetskim prostranstvom»
2.osce.org: International Election Observation Mission: Republic of Belarus – Presidential Election, 11. October 2015
3.Belorusskij Partizan: Pavel Znavec: Lukašenko i belorusskij jazyk
4.Germany Trade & Invest: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2016 – Belarus
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Motherland, © Таццяна Ткачова (All rights reserved)