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An der Polarkreis-Route

Mehr und mehr gewinnt die sogenannte Polarroute oder Eisroute für Flüchtlinge an Bedeutung, die durch den Norden Russlands nach Europa führt. Neben dem Weg über Norwegen gibt es dabei einen weiteren direkt nach Finnland, das im Unterschied zu seinem Nachbarland EU-Mitglied ist. Natalja Sanejewa hat für SNOB mit Flüchtlingen auf der Polarroute gesprochen. Sie schreibt:

Kandalakscha ist eine Stadt auf der Fluchtroute im Gebiet Murmansk. Am nächstgelegenen Grenzübergang werden Schengen-Visa, aus welchem Grund auch immer, von russischen Grenzern nicht kontrolliert. Ihre finnischen Kollegen können den Flüchtlingsstrom nicht bewältigen und vermuten hinter der Tatenlosigkeit der Russen politische Motive. Und die Einwohner Kandalakschas sind viel zu beschäftigt, um internationale Nachrichten zu verfolgen: Ihnen geht es ums Business.

Quelle Snob

„Und wenn morgen ein Schwarzer mein Nachbar wird?“ fragte ein Passant.

„Die sind so schwarz wie mein Schal“, sagte der Säufer.

„Hätte ich ein Gewehr, würde ich alle erschießen“, sagte der Hausmeister.

Der Inder sagte nichts. Der Inder war gestorben. Nachdem er zwei Wochen im Auto gelebt hatte, bei 30 Grad Kälte. In der Warteschlange an der russisch-finnischen Grenze. Er starb, und Gerüchte über die ruhige kleine Stadt Kandalakscha krochen in beide Richtungen, nach Russland und nach Finnland.

In Kandalakscha leben an die 33.000 Menschen. Sie schrauben Autos zusammen und arbeiten im Aluminiumwerk. Der Durchschnittslohn beträgt weniger als 25.000 RUB [290 EUR – dekoder], was für eine Provinzstadt nicht schlecht ist.

Aber diejenigen, die gelernt haben, an Flüchtlingen zu verdienen, machen viel mehr Geld. Jeden Tag überqueren mindestens 15 Flüchtlinge die Grenze zu Finnland. Von jedem verlangen Schleuser anderthalbtausend Dollar.

Syrer, Afghanen, Pakistaner und Afrikaner warten, bis sie an der Reihe sind und die Grenze überqueren können. Araber, Berber, Kurden, Turkmenen. Lebendiges Geld. Ein Touristenvisum für Russland kostet sie etwa 300 Dollar, auf den ersten Blick ist das der billigste Weg nach Europa.

Nach den „Sperenzchen“ mit dem Inder gaben die Stadtbehörden zu Protokoll: Alle Flüchtlinge sind in Hotels untergebracht. Mitte Januar veröffentlichte die russische Nachrichtenagentur RIA ein Interview mit einer afghanischen Familie, die angeblich im Hotel Spolochi ein Zimmer zugeteilt bekam. Allerdings ist das Hotel Spolochi seit November 2015 wegen Renovierung geschlossen. Dafür sind zwei andere Hotels proppenvoll mit Flüchtlingen, das Greenwich und das Pomotur. 1500 RUB [17 EUR – dekoder] pro Person und Nacht. Keine Sonderkonditionen.

In den Hotels sind auch Kinder und Alte. In der Schlange warten ein Afghane mit kleiner Tochter und ein Syrer mit kranker Mutter. Deren Bruder ist Arzt in Helsinki und könnte ihr helfen. Aber die Schlange kommt nur langsam vorwärts, und das Geld geht schnell zu Ende.

Der Araber Abderrahim hat zwei Tage im Greenwich verbracht. Wir sitzen in Petersburg, in einer kalten Küche mit durchgebrannter Glühbirne. Ich reiße ein gekochtes Hähnchen in Stücke als Brotbelag. Abderrahim lacht. Er ist Koch. Programmierer und Koch. In seiner Heimat konnte er weder in dem einen noch in dem anderen Beruf eine gut bezahlte Arbeit finden.

Er ist 22, das älteste Kind in einer großen Familie. Vor einigen Jahren hatte sein Vater einen Unfall, er kann nicht mehr arbeiten. Sie haben viele Kredite aufgenommen, fürs Haus, für medizinische Behandlungen. Die jüngste Schwester ist zehn. Ein Jahr lang hat Abderrahim ohne freien Tag gearbeitet und 1000 Dollar gespart. Weitere anderthalb Tausend hat er sich von einem Cousin geliehen.

„Was hat deine Mutter dazu gesagt, dass du weggegangen bist?“

„Sie hat mich angefleht zu bleiben. Aber ich musste weg.“

Da, wo Abderrahim herkommt, ist kein Krieg. Solche Flüchtlinge werden als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, ihnen wird Asyl oft verwehrt. Er nahm das Risiko dennoch auf sich. Der kürzeste Weg aus Afrika nach Europa führt über Marokko nach Spanien. Er wurde schon von einigen Tausend illegalen Migranten genutzt. Dann haben sie an der Grenze einen sechs Meter hohen Zaun hingestellt. Wer keine andere Möglichkeit hat und den nötigen Mut, der überquert das Mittelmeer jetzt mit Schlauchbooten. Aber diejenigen, die nicht ertrinken, werden meist festgenommen, zurückgeschickt und mit einem EU-Einreiseverbot für fünf Jahre belegt. Die Variante für Reiche: eine Scheinehe mit einer Frau aus der EU. Das kostet aber 3000 Dollar. Der Weg über Russland ist billiger und schneller. Trotz der Abzocke.

Abderrahim hatte eigentlich vor, die finnische Grenze bei Wyborg zu überqueren. Aber in Petersburg traf er seine Landsleute, die ihm erklärten: Der einzige Weg aus Russland nach Europa führt über Kandalakscha.

„Man hat mir die Telefonnummer eines Russen aus Kandalakscha gegeben, er hieß Kirill. Er erklärte mir, dass ich 1500 Dollar an den Schleuser zahlen müsse, um die Grenze zu überqueren. Sagte dann: Komm her mit dem Geld, alles andere erledigen wir. Anders kommst du nicht nach Finnland. Ich hatte nicht so viel Geld, aber ich bin gefahren, wollte zumindest Details erfahren, wie alles so läuft.“

Jeder Flüchtling in Kandalakscha hat einen eigenen Schleuser. Man darf ihn nicht wechseln, sonst gibts Probleme. Manchmal gibt es Schlägereien unter Schleusern wegen der Kundschaft. Ein Flüchtling bringt den Halbjahreslohn eines Fabrikarbeiters.

„Kirill hat mich am Bahnhof in Kandalakscha abgeholt, zusammen mit einem Polizisten. Wir sind zu einer Passstelle in der Nähe des Hotels gegangen, dort wurde ich registriert. Dann haben sie mich ins Greenwich gebracht und auf die Warteliste gesetzt. Wir waren zu zweit im Zimmer, bei mir war ein Syrer, ein Autoschlosser, aber in den anderen Zimmern waren viel mehr Menschen, bis zu sieben Personen. In den ersten Tagen lebst du unter guten Bedingungen, später kommst du in andere Zimmer. Die 1500 RUB [17 EUR – dekoder] pro Tag sind eine gigantische Summe für uns. Wenn du nicht zahlst, schmeißen sie dich raus, und das bei 30 Grad Kälte.“

Das Pomortur ist schlimmer als das Greenwich: Es wird seltener geputzt, sie pferchen mehr Menschen in einen Raum, und der Hof ist voll mit verrosteten sowjetischen Autos. Da drin wohnen die Ankömmlinge aus den ärmsten afrikanischen Staaten wie Kongo, Kamerun, Senegal. Sie haben ihren Schleusern weniger als anderthalbtausend gezahlt, deswegen müssen sie sehr lange warten.

Die Schleuser kümmern sich um ihre Kunden. Ist das russische Visum abgelaufen, verhandeln sie mit der Polizei. Haben die finnischen Grenzer dich nicht reingelassen, gibt’s den zweiten Versuch kostenlos. Abderrahim sagte Kirill, dass er bald von Verwandten Geld überwiesen bekomme. Daher durfte er den zweiten Tag kostenlos im Hotel übernachten. Am dritten wurde er von der Warteliste gestrichen.

„Wenn du zahlst, fährst du dann am nächsten Tag?“

„Nein, etwa eine Woche muss man warten. Es gibt auch Leute, die zahlen mehr, die legen 5000 Dollar hin und kommen dafür ganz oben auf die Liste. Aber während du wartest, musst du die ganze Zeit fürs Hotel zahlen. 100–200 Dollar musst du für die Unterbringung einrechnen. Es gibt dort viele syrische Familien, aber auch genug Afrikaner. Ich verstehe, dass die Grenzen in erster Linie für syrische Flüchtlinge offen sind. Aber meine Familie hungert. Zurzeit wohnen im Greenwich 400 Menschen. Sie gehen selten auf die Straße, hocken meist in ihren Zimmern, da es jeden Moment heißen kann: Morgen gehts los. Die Leute gehen nur raus, um Essen und Zigaretten zu kaufen.

„Glaubst du, Kirill arbeitet alleine, oder teilt er das Geld mit jemandem?“

„Viele Menschen sind in das Schleusergeschäft verwickelt. Es gibt viele russische Schleuser, sie alle sind sehr reich. Es gibt Gerüchte, dass Männer aus Moskau kommen, um die Gewinne einzusammeln. Außerdem verkaufen uns die Einheimischen Autos.“

Die Einheimischen verkaufen alte Shiguli-Modelle für 500 Dollar. Zunächst hatten die Russen ihre Kunden selbst über die Grenze gebracht und sich dafür Minibusse angeschafft. Einer der Schleuser wurde von den Finnen erwischt, das Geld konfisziert, bald beginnt sein Prozess. Jetzt sitzen die Flüchtlinge selbst am Steuer – die Autos lassen sie später in Finnland am Straßenrand liegen.

„Die Schleuser setzen fünf Flüchtlinge ins Auto, lassen sie vorfahren und fahren hinterher. An der Grenze zu Finnland halten sie Abstand und warten ab, ob sie durchkommen oder nicht.“

„Sind schon mal welche zurückgekommen?“

„Ja, viele. Das Wichtigste ist, sich ein gutes Märchen für den Grenzer auszudenken. Sie fragen nach den Reisegründen. Warum darfst du nicht in deine Heimat zurück? Warum ist dort die Situation schlecht? Ein junger Mann aus dem Jemen hat mal erklärt: Ich will in Finnland arbeiten. Stellen Sie sich vor, so hat er das gesagt! Klar, hat man ihn zurückgeschickt.“

Einmal hat sich eine Schar solcher Flüchtlinge in das entlegene Dorf Kajraly verirrt. Dort wohnen 19 Menschen. Ein paar Kilometer weiter ist die finnische Grenze, aber das interessiert niemanden. Hier wird Holz gefällt, und man sieht sich wochenlang nicht. Und auf einmal tauchen diese merkwürdigen Menschen auf: mit dunkler Haut, halb erfroren, mit farbigen Decken über leichten Jacken. In Kajraly befindet sich das einzige Lokal im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Normalerweise schauen drei Menschen pro Tag hier vorbei. Die Einheimischen haben noch nichts über das Geschäft mit den Flüchtlingen gehört, sie sehen überhaupt zum ersten Mal so viele dunkelhäutige Menschen. Das ganze kleine Dorf ist gekommen, um sie sich anzuschauen, man gibt ihnen Kleidung, lässt sie sich aufwärmen, hilft, Autos zu reparieren. Danach sind die Flüchtlinge wieder Richtung Kandalakscha aufgebrochen, für den zweiten Versuch, die Grenze nach Finnland zu überqueren.

Aber Abderrahim ist in Petersburg geblieben. Arbeit hat er noch keine gefunden. Sein russisches Visum ist abgelaufen. Er hat sich auf einer Couchsurfing-Site angemeldet und übernachtet kostenlos bei verschiedenen Menschen. Nach Hause zurück kann er nicht, er hat ja seiner Mutter versprochen, die Familie von ihren Schulden zu erlösen. Die Polizei hat ihn noch nicht erwischt.

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Walenki

Walenki sind nahtlose, in einem Stück gefertigte Filzstiefel aus Schafswolle. Sie halten auch bei großer Kälte warm und gelten deshalb als ideales Winterschuhwerk für die trockenen russischen Winter. Walenki werden als ein Symbol traditioneller russischer Kultur betrachtet, heute aber in erster Linie mit dem Landleben assoziiert.

Der Begriff Walenki ist abgeleitet vom russischen Verb waljat (dt. walzen, walken) und bezieht sich auf die Herstellungsmethode der Stiefel. Neben ihrem Vorteil, vor extremer Kälte zu schützen, haben sie allerdings den Nachteil, empfindlich auf Nässe zu reagieren. Bei feuchtem Wetter und Schneematsch benutzt man deshalb zusätzlich Oberschuhe, früher aus Leder, heute aus Gummi (Galoschen). In verschiedenen Regionen Russlands wurden Walenki unterschiedlich bezeichnet, in Sibirien etwa als pima.

Vorläufer der Walenki lassen sich bei den nomadischen Völkern Eurasiens finden. Sie gelangten mit dem Einmarsch der Goldenen Horde im 13. und 14. Jahrhundert in die Rus. Walenki waren zunächst kurz, der Schaft wurde separat aus Tuch gefertigt. Die Herstellung von Stiefeln aus einem ganzen, nahtlosen Stück gefilzter Wolle wird erst seit Ende des 18. Jahrhunderts praktiziert. Als Geburtsort dieser Methode gilt die Stadt Myschkin im Gebiet Jaroslawl. Weite Verbreitung fanden die Filzstiefel in Russland aber erst im 19. Jahrhundert mit dem Beginn ihrer industriellen Herstellung – vorher waren die handgefertigten Stiefel teuer, und nur wohlhabende Personen konnten sie sich leisten. Eine Familie mit einem Paar galt bereits als vermögend. Als besonderer Wertgegenstand wurden sie deshalb auch entsprechend gehütet und weiter vererbt.

 

https://www.youtube.com/watch?v=EKuEbEnbpGU

 

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Walenki, gerade in den Städten, immer weniger genutzt und vor allem mit einer rückständigen dörflichen Lebensweise in Verbindung gebracht. In den letzten Jahren wurden sie jedoch von russischen Designern als Modeobjekt wiederentdeckt und sind inzwischen sogar außerhalb Russlands erhältlich.1


1.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die Rückkehr der Filzstiefel
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Samogon

Als Samogon bezeichnet man einen in häuslicher Eigenproduktion und für den Eigenbedarf hergestellten Schnaps. Grundlage bildet eine Maische, die in der Regel aus Kartoffeln, Früchten, Zucker oder Getreideprodukten besteht und in selbstgebauten Anlagen destilliert wird. Vor allem in den Übergangsphasen vom Zarenreich zur Sowjetunion und später während der Perestroika war der Samogon, der inzwischen fest zur russischen Alltagskultur zählt, weit verbreitet.

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Tag des Sieges

Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen.

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Schwarzer Delfin

Der Schwarze Delfin ist eine Haftanstalt für lebenslängliche Strafen in der Stadt Sol-Ilezk in der Oblast Orenburg. Die inoffizielle Bezeichnung stammt von der Skulptur eines Springbrunnens, der am Haupteingang der Anstalt aufgestellt ist. Die Strafkolonie gilt als eine der härtesten Russlands.

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Ermittlungskomitee

Das Ermittlungskomitee (Sledstwenny komitet/SK) ist eine russische Strafverfolgungsbehörde. Sie gilt als politisch überaus einflussreich und wird häufig mit dem US-amerikanischen FBI verglichen.

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