Dank des Staatsfernsehens ist heute jeder in Russland auf dem Laufenden darüber, wieviele Raketen während der letzten 24 Stunden in Syrien abgefeuert worden sind. Geopolitik ist zum Partygespräch geworden, schafft nationale Identität und hebt das Selbstwertgefühl. Jedenfalls kurzfristig, sagt Juri Saprykin in seinem Kommentar. Denn die globale Machtverteilung wird längst nicht mehr von den Schachzügen der Militärs bestimmt: Wer sich in strategische Planspiele verrennt, stellt sich schnell selbst ins Abseits.
In Zeiten wie diesen sind wir alle ein bisschen Geopolitiker. Noch vor einem Monat sah es so aus, als ob unsere Kenntnisse über Syrien sich auf dem Niveau der sprichwörtlichen Blondine bewegen, die fragt, wie man denn richtig schreibt: Iran oder Irak. Jetzt hingegen kann man jeden Schüler nachts um drei aus dem Bett holen, und wenn er vor dem Schlafengehen die Nachrichtensendung Wremja gesehen hat, wird er munter drauflosreden: über Hama und Homs, die Militärbasen in Latakia und Tartus, was die Saudis damit zu tun haben und was der Iran darüber denkt, und vor allem – welche Bedeutung das alles im Kontext des Großen Kriegs der Kontinente hat. Natürlich sind die Militärschläge auf die Stellungen des IS aus Sicht dieser schülerhaften Geopolitik nicht etwa deshalb wichtig, weil sie den Stellungen des IS schaden, sondern vielmehr, weil wir es denen gezeigt haben, weil man uns deshalb wieder beachtet, weil jetzt ohne uns nichts mehr geht. Und die Beachtung steigt nach dieser Logik mit der Anzahl der Bombardements: So hat etwa der Schriftsteller German Sadulajew bereits verkündet, dass der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch den Schiffen der Kaspischen Flottille zu verdanken sei – „nur 26 Marschflugkörper – und schon interessierte sich die ganze Welt wieder dafür, was sich in der Welt der russischen Sprache und der russischen Literatur tut.“ (Ich sehe direkt vor mir, wie die Mitglieder der Schwedischen Akademie in einer außerordentlichen Sitzung panikartig slawische Namen in die Kandidatenliste eintragen und dabei aus den Augenwinkeln die Nachrichten im CNN verfolgen).
Die schon rein rechnerischen Unstimmigkeiten dieser Interpretation (wie etwa der Umstand, dass die Kräfte der Anti-IS-Koalition im Laufe des letzten Jahres hundertmal mehr Angriffe gegen den IS unternommen hat als dies Russland bisher gelungen ist) brauchen unseren Geopolitiker nicht weiter zu kümmern – schließlich gilt: Wer im Besitz der Wahrheit ist, ist auch der Stärkere. Und er muss sich auch nicht daran erinnern, dass wir noch vor ein paar Monaten die gleichen geopolitischen Ziele (dass man uns beachten, mit uns rechnen, sich mit uns verständigen soll) in den Regionen Donezk und Lugansk verfolgt haben: Geopolitiker, auch wenn sie in die Tiefe der Jahrhunderte blicken, haben heute ein kurzes Gedächtnis. Aber stellen wir uns einmal auf den von unseren Protagonisten schmerzvoll erkämpften weltanschaulichen Standpunkt, zumal dieser ja richtig ist: Russland ist in der Tat ein zu großer und bedeutender Faktor auf der Weltkarte, als dass Fragen der globalen Weltordnung ohne seine Beteiligung entschieden werden könnten. Bringen Bombensalven auf Hama und Homs das Land diesem Status näher?
Wer die Mitte der 80er Jahre bewusst miterlebt hat, wird es bezeugen: Gegen Ende der Sowjetzeit wurden ähnliche Ziele verfolgt (allerdings von einer ungleich eindrucksvolleren Ausgangsposition aus) – dass man uns respektieren, uns nicht bedrohen, unsere vitalen Interessen nicht verletzen, sich mit uns verständigen soll. Und in den Jahren vor der Perestroika war sehr klar, wie man diese Ziele erreichen kann: Wenn die Amerikaner anfangen, in einer für uns wichtigen Region Unruhe zu stiften, werden Waffen, im Notfall auch Truppen, dorthin geschickt; wenn Europa auf unerfreuliche Ideen verfällt, werden die Atomraketen an die äußersten Grenzen verlegt; wenn plötzlich Waffen in den Weltraum geschafft werden sollen, muss eine asymmetrische, aber gleich starke Reaktion im interstellaren Raum gefunden werden. In letzter Zeit herrscht die Ansicht vor, dass der Fall des Ölpreises der Wirtschaftskraft der UdSSR den entscheidenden Schlag versetzt hat. Dabei ist ein anderer Faktor in Vergessenheit geraten, der in dieser Zeit eine Rolle spielte: das Wettrüsten, dem die zunehmend schwächere Sowjetunion weder finanziell noch technologisch standhalten konnte. Die Erinnerung daran ist peinlich, weil das Programm „Star Wars“ ein grandioser Bluff war – die Reagan-Regierung zwang die Sowjetunion zum Wettbewerb auf einem Feld, auf dem sie gar nicht erst vorhatte, selbst anzutreten. Man hat auch deshalb keine große Lust, die Vergangenheit wieder hervorzukramen, weil unsere bereits eingetretene Zukunft zeigt: Im Wettbewerb zwischen den beiden Systemen waren letztlich nicht mehr die Pläne entscheidend, die im Generalstab oder im Pentagon entworfen wurden, sondern die Mikrochips, die bärtige junge Männer im Silicon Valley zusammenlöten. Der Gedanke, dass ausgerechnet diese leicht verpeilte Division die maßgebliche geopolitische Vormacht sichern würde, lag jenseits der Vorstellungskraft der Patriarchen im Kreml.
Auch Sofa-Geopolitik hat ihre Zyklen, die so unerbittlich sind wie der Wechsel der Jahreszeiten: Der Begeisterungsrausch über die Stärke, die das Land plötzlich zeigt, die Überzeugung, dass Marschflugkörper absolut alle Probleme lösen, die in den sozialen Netzwerken geteilten Agitationsberichte darüber, wie Tausende von IS-Kämpfern schon beim Anblick eines russischen Flugzeugs entsetzt auseinanderrennen – all dies ist nur das erste Stadium. Am Ende wird zwangsläufig das Gefühl stehen, dass wir global übertölpelt worden sind, dass man uns in eine Sackgasse gelockt hat, aus der es keinen Ausweg gibt und uns veranlasst hat, Zeit und Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Und das wäre im Prinzip noch in Ordnung und man könnte es ruhig abwarten, wenn der Preis für diesen Weg sich nicht, wie immer in der Geschichte, in Hunderten von Leben nichtsahnender Menschen bemessen würde.