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„Das ist ein Teufelskreis beidseitiger Paranoia“

Viele Legenden ranken in Russland um die Diebe im Gesetz. Armin Mueller-Stahl verkörperte 2007 einen Bandenboss in dem Oscar-nominierten Film Tödliche Versprechen und steuerte damit eine weitere Verklärungsnote bei zu dem auch im Westen verbreiteten Mythos um die Welt der Diebe (worowskoi mir). 

Das 2018 erschienene Buch The Vory. Russia's Super Mafia kommt ohne Romantisierungen aus und analysiert, wie die Organisierte Kriminalität Russland geprägt hat und prägt – und umgekehrt. Der Autor Mark Galeotti gehört zu den weltweit besten Kennern der von Russland ausgehenden transnationalen Kriminalität. Der britische Historiker forscht außerdem auch zu russischen Geheimdiensten und Sicherheitspolitik. Nach seinem viel gelobten Werk über die Diebe im Gesetz hat er 2019 bereits drei weitere Bücher veröffentlicht: über Putin, hybride Kriege und den Krieg im Osten der Ukraine. 

Im Interview mit Ilja Asar von der Novaya Gazeta spricht Galeotti über die Verstrickungen der Mafia mit Politik, über den Fall Skripal und darüber, warum der Westen den russischen Präsidenten falsch wahrnimmt.

Источник Novaya Gazeta

Novaya Gazeta/Ilja Asar: Sie sagen, Russland sei kein Mafia-Staat, behaupten aber gleichzeitig, zwischen dem Staat und Kriminellen würden enge Verbindungen bestehen. Was sind das denn für Verbindungen?

Mark Galeotti: Zum einen ist offensichtlich, dass der Staat bestimmt, wie ein annehmbares Verhalten des organisierten Verbrechens auszusehen hat. Der Staat gibt deutlich zu verstehen, dass es bestimmte Aktivitäten gibt, die nicht gestattet sind, und alle Gangster wissen, wo ihre Grenzen liegen. 

Zweitens bestehen viele Verbindungen, die noch aus den 1990er Jahren stammen, als die Welten des Verbrechens, der Wirtschaft und der Politik sehr viel enger miteinander verknüpft waren. Jetzt haben sie sich wieder voneinander entfernt, aber die alten Verbindungen gibt es immer noch.

Drittens sind wir in Westeuropa Zeuge geworden, dass der Staat das organisierte Verbrechen als Instrument eingesetzt hat. Allerdings nur einige Male – ich möchte da nichts übertreiben – aber es bleibt gleichwohl ein alarmierendes Symptom. Wir müssen natürlich schauen, wie sich das im Weiteren entwickelt.

Während aber die Ermordung von Litwinenko oder der Anschlag auf Skripal, für die russische Geheimdienste verantwortlich gemacht werden, in aller Munde sind, ist von ähnlichen Operationen westlicher Geheimdienste nichts zu hören. Machen die sowas nicht?

Ich denke, hier geht es um unterschiedliche Denkweisen.

Die russischen Geheimdienste denken, dass sie in einen Krieg um Russlands Platz in der Welt verwickelt sind, dass der Westen Russland ungerechterweise in die Enge zu treiben und einzuschränken versucht.

Die russischen Geheimdienste denken, dass sie in einen Krieg um Russlands Platz in der Welt verwickelt sind

Die westlichen Geheimdienste denken anders; sie bemühen sich, vorsichtiger zu sein. Man kann allerdings nicht sagen, dass westliche Geheimdienste diese Taktik nie verfolgt hätten. Wir erinnern uns, wie die Franzosen das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior in die Luft gejagt haben. Das sind aber extreme Methoden, die nur in Notsituationen eingesetzt werden. Russland meint aber, dass es sich jetzt in einer solchen Notsituation befindet.

Russland ist derzeit, seinen Möglichkeiten nach, objektiv keine Supermacht, wie einst die UdSSR eine war und die USA jetzt eine sind. Es versucht jedoch, die bestehende Weltordnung herauszufordern und die übrige Welt zu zwingen, Russland wie eine reale Großmacht zu behandeln. Um das zu erreichen, muss man Risiken eingehen, und Russland ist dazu bereit.

Ich glaube, dass Russland sich nach der Skripal-Affäre gedacht hat: „Ok, die Antwort war heftiger als erwartet“, und daher nun sein taktisches Vorgehen ändert. Ich glaube aber nicht, dass sich an Russlands Strategie etwas ändern wird.

Meinen Sie, dass die Verbindungen zwischen Staat und Mafia Auswirkungen auf die Gesellschaft in Russland haben, oder werden kriminelle Elemente nur für internationale Angelegenheiten eingesetzt?

Ich glaube nicht, dass sich das auf den Straßen abspielt. Deshalb gefällt mir auch der Begriff „Mafiastaat“ nicht, der impliziert ja vieles.

Die Zeiten, als es eine reale Nähe zwischen dem Regime und der Welt des Verbrechens gab, sind im Großen und Ganzen vorbei, die 1990er Jahre sind Vergangenheit. Doch ist der Status quo zu lange aufrechterhalten worden, und nachdem er verletzt wurde, ist etwas in Gang gekommen, insbesondere mit der Ermordung von Ded Hassan. Das könnte einen größeren Konflikt provozieren. Allerdings sind alle bemüht, ihn einzudämmen. Ich denke, die Gefahr einer Explosion in der Unterwelt besteht deshalb, weil der Staat den so lang schon bestehenden Status Quo verletzt hat.

Und die Ermordung Nemzows?

Wenn der Staat etwas machen will, dann tut er das auch. Ich glaube aber nicht, dass die Ermordung Nemzows eine Operation auf Staatsebene war. Sie kam für den Kreml überraschend.

Ich glaube nicht, dass die Ermordung Nemzows eine Operation auf Staatsebene war. Sie kam für den Kreml überraschend

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Putin auf den Straßen Leningrads großgeworden ist, die Sprache der Straße mag, und oft nach den ungeschriebenen Regeln der Ponjatija handelt.

Er verwendet diese Wörter, um zu betonen, was er für ein cooler Typ ist; oder was will er sonst noch? Und wenn er nach den Ponjatija handelt, dann macht das vor allem deutlich, wie stark die Gewohnheiten und die Sprache des Gulag und der Verbrecher an die gesamte russische Gesellschaft weitergegeben wurden.

Die Art und Weise, wie der Kreml vorgeht – das hat Sygar gut beschrieben – bedeutet nicht, dass die Nation per Handsteuerung regiert wird.

Putin und der Kreml walten mit Hilfe von Andeutungen, damit die Leute selbst erraten, was von ihnen erwartet wird. So ist auch die Welt des Verbrechens gestrickt. 

Putin und der Kreml walten mit Hilfe von Andeutungen, damit die Leute selbst erraten, was von ihnen erwartet wird

Das kommt aber nicht daher, weil diese Leute Gangster wären, sondern weil in der Gesellschaft der Sowjetunion und Russlands alles so funktioniert hat; so hat sich das nun mal entwickelt.

Meinen Sie auch, dass Russland Einfluss auf die Wahlen in den USA und anderen Ländern genommen hat?

Es gibt viele Belege, dass russische Geheimdienste mit Hacker-Operationen in Verbindung standen. Das bedeutet nicht, dass sie hinter allen Hacker-Angriffen stehen. Mittlerweile aber ist es so, dass nach jedem derartigen Fall jemand die Russen beschuldigt. Manchmal zurecht, manchmal nicht. Was die Geschichte mit den US-Wahlen betrifft, denke ich jedoch, dass die russischen Geheimdienste beteiligt waren.

Im Kreml war man überzeugt, dass Clinton siegen würde, und man wollte ihr einfach zusätzliche Probleme bereiten

Ich denke nicht, dass die russische Regierung geglaubt hat, dass Trump gewählt werden könnte, oder dass sie unbedingt wollten, dass er gewählt wird. Im Kreml war man überzeugt, dass Clinton siegen würde, und man wollte ihr einfach zusätzliche Probleme bereiten, weil davon ausgegangen wurde, dass sie einen Kreuzzug gegen Russland anführen wird. Leute vom Fach, mit denen ich sprach, haben eingeräumt, dass es sie völlig kalt erwischt hat.

Das bringt uns zu einem anderen Ihrer neuesten Bücher. Es geht darum, wie Putin vom Westen falsch wahrgenommen wird und dass der Westen Putin nutzt, um die eigenen Fehlschläge zu erklären. Funktioniert diese Strategie und wird sie von allen geglaubt?

Ich denke nicht, dass es sich um eine Strategie handelt. Aber es gibt dieses Phänomen, weil man in Russland bestrebt war, ein Image von Putin als Mann der Tat und weisem Führer zu schaffen, der über alles im Bilde ist, was vor sich geht. Im Westen wurde er so zu einem modernen Widersacher von James Bond, der hinter allem steckt, was faul ist …

Im Westen wurde Putin zu einem modernen Widersacher von James Bond

Das ist sehr menschlich: Wir suchen immer jemanden, dem wir für alles die Schuld geben können. Der Westen erlebt gerade eine Legitimitätskrise – es gibt Trump, den Aufschwung der Populisten, den Brexit. Viele haben Fragen zum derzeitigen Status Quo, und in einer solchen Situation wird ein Buhmann gebraucht, auf der anderen Seite des Abgrunds.

Das Gefährliche an der derzeitigen Krise zwischen Russland und dem Westen liegt darin, dass es zu vielen verpassten Möglichkeiten kommt. Es gibt nahezu keine Bereiche, in denen Russland und Europa offen zusammenarbeiten. Dabei ist Russland doch ein europäisches Land und kein eurasisches Imperium, wie Dugin meint.

Die Probleme werden sich nur sehr schwer überwinden lassen, wenn Sie glauben, dass Putin ein böses Genie ist, das ständig neue Pläne zur Vernichtung des Westens und der gesamten Weltordnung ersinnt. Jedwede Initiative Russlands wird als Teil eines gerissenen Planes aufgefasst. Für den Westen wird es dann schwierig, konstruktiv mit Russland umzugehen.

Sie ziehen sich ihren eigenen Putin heran ...

Ja, aber wenn wir von der Paranoia des Westens sprechen, dürfen wir auch nicht die Paranoia in der russischen Regierung vergessen. Dort gibt es Leute, die der Ansicht sind, dass der Westen Russland vernichten will. Das ist ein Teufelskreis beidseitiger Paranoia.

Russland will als Weltmacht wahrgenommen werden. Zwar ist nicht die gesamte übrige Welt damit einverstanden, doch Russland versucht, dies zu erzwingen. In diesem Kontext ist es nicht gut, wenn du als finstere Macht aufgefasst wirst, die hinter allem Schlechten steckt, das geschieht.

Und die Krim einzunehmen ist für eine solche Strategie förderlich?

Nein. Ich verstehe zwar, warum die Krim erobert wurde, ich verstehe aber nicht die Art, wie das gemacht wurde, unter Verletzung des Völkerrechts, illegitim.

Hätte es denn einen legitimen Weg gegeben?

Wenn Russland wirklich geglaubt hat, es müsse die Krim schützen, so hätte es Möglichkeiten gegeben. Man hätte zum Beispiel Kiew zwingen können, ein legitimes Referendum unter internationaler Beobachtung abzuhalten. Und ich bezweifle nicht, dass die Bevölkerung der Krim Russland sowieso unterstützt hätte. 

Wenn Russland wirklich geglaubt hat, es müsse die Krim schützen, so hätte es Möglichkeiten gegeben

Das Referendum aber, das abgehalten wurde, sowie auch die Beteiligung am Konflikt im Donbass haben Moskau die Möglichkeit genommen, dass die Krim auf legitime Weise nach Russland zurückkehrt. Und das ist eine Tragödie, weil Moskau dadurch selbst die internationale Gemeinschaft von sich stößt und dafür sorgt, dass kaum jemand auf Russland hört.

Der Effekt der Krim nach außen ist klar. Es gab jedoch eine Wirkung nach innen, die die Umfragewerte Putins himmelhoch ansteigen ließ. Vielleicht war das wichtiger?

Es gibt hier einen Unterschied zwischen Politiker und Staatsmann. Für einen Politiker war die Aneignung der Krim ein absolut richtiger Schritt. Ich war damals in Moskau und erinnere mich an die riesige Begeisterung der Bevölkerung. Für einen Staatsmann aber, der an sein Land und an dessen langfristige Zukunft zu denken hat, [war dieser Schritt falsch].

Sie haben in Ihren Interviews gesagt, dass Putin sich selbst eher als Staatsmann wahrnimmt, denn als Politiker, dass er an seine historische Rolle denkt, an die historische Rolle Russlands. Also ist er ein schlechter Staatsmann?

Ich denke, er versteht nicht bis ins Letzte, was Russland in der Zukunft erwartet. Russland kann seine Zukunft nicht einfach als ein Land aufbauen, das in Opposition zum Westen steht.

Russland kann seine Zukunft nicht einfach als ein Land aufbauen, das in Opposition zum Westen steht

Das würde Russland jenen Ländern entgegenstellen, die seine natürlichen kulturellen Verbündeten sind, die über jene Technologien und Investitionsmittel verfügen, die Russland für seine Entwicklung benötigt.

Ein kürzlich geführtes Interview mit Ihnen trug die Überschrift: „Wir müssen mehr über Russland lachen“. Denken Sie wirklich, dass sich bei uns etwas Lustiges abspielt?

Die Überschriften für unsere Interviews denken wir uns ja nicht selbst aus. Ich hatte damit gemeint, dass es insbesondere in politischen Kreisen derzeit eine Hysterie um Russland gibt; und alles, was das Land unternimmt, wird als Teil eines albtraumartigen Plans wahrgenommen.

Insbesondere in politischen Kreisen gibt es derzeit eine Hysterie um Russland 

Was ich sagen möchte, ist, dass man damit aufhören sollte, in Hysterie zu verfallen und mit Russland umzugehen, als ob es das Reich des Bösen oder Mordor wäre.

Manchmal muss man, anstatt enttäuscht zu sein, lachen und weitergehen.

In der russischen Opposition gibt es einen populären Schlachtruf zu Putin, den wir hier wegen des Gesetzes über Missachtung oder Beleidigung der Staatsmacht nicht wiedergeben dürfen …

Das ist ein blödsinniges Gesetz, aus dem die Ängste des Regimes sprechen: Wenn Sie Kritik verbieten, dann heißt das, dass sie viel Kritik erwarten, und dass Sie keinen besseren Ausweg wissen. Selbstsicherheit ist besser als die Kriminalisierung von Kritik. 

Zwei Zitate von Ihnen: „Russland befindet sich in einem Transformationsprozess. Es bewegt sich, wenn auch langsam, auf ein westlicheres Modell zu“, und: „In 20 Jahren wird Russland dort stehen, wo sich Ungarn oder Bulgarien jetzt befinden“. 
Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

Ich nehme bei der Bevölkerung den Wunsch nach einem normalen Leben wahr. Selbst Menschen, die sagen, dass sie Putin unterstützen, nennen bei der Frage, was für ein Land sie sich wünschen, Rechtsstaatlichkeit, freies Reisen ins Ausland, die Möglichkeit, ein Unternehmen zu gründen, ohne dass man Gefahr läuft, dass es einem von Bürokraten wieder genommen wird. Sie beschreiben also Freiheiten, die wir im Westen als unabdingbar sehen. Kulturell liegt Russland in Europa.

Selbst wenn man nicht wegen der jungen Generation sentimental wäre, glaube ich zumindest an den Pragmatismus der Kleptokraten. Es gibt eine Generation, die in den 1990er Jahren mit beiden Händen geraubt hat, die meisten konnten ihr Vermögen bewahren. Jetzt aber bereiten sie sich darauf vor, diese Gelder an die nächste Generation weiterzugeben. 

Das wird der größte generationenübergreifende Geldtransfer, den es je gab

Das wird der größte generationenübergreifende Geldtransfer, den es je gab. Genau wie Mafiosi, die wollen, dass ihre Kinder Ärzte und Juristen werden, wollen die, die Geld gestohlen und alle möglichen Fiesheiten begangen haben, dass ihre Kinder in Einklang mit dem Gesetz und sicher leben und dass ihr Vermögen nicht in Frage gestellt wird. Es sind nicht die heldenhaften Proteste auf der Straße, die dem Land neue Gesetze bringen. So etwas geschieht, weil unangenehme Leute innerhalb des Systems sich klar werden, dass dies in ihrem Interesse ist. Und das wird auch geschehen.

Wird Putin abtreten, und wenn ja, wie?

Putin scheint selbst einen Nachfolger zu suchen, oder einen potentiellen Mechanismus zur Machtübergabe. 
Es wird viel darüber geredet, ob ein Szenario a la Nasarbajew in Russland funktionieren würde. Ich denke, für Putin wäre es super, die Frage der Diversifizierung der Wirtschaft und der Renten jemand anderem zu überlassen. Er hat aber Leute um sich, die er schützen will, und zwar nicht nur seine Familie. Daher wird er wohl eine Position anstreben, die ihm Sicherheit verschafft, und die Möglichkeit, sich einzumischen. 

Ganz subjektiv sieht es für mich nicht so aus, als ob Putin ewig regieren wolle.

Wie unterscheiden Sie jemanden, der 30 Jahre regieren möchte, von einem der ewig herrschen will?

Das ist vollkommen subjektiv. Ich schaue mir den Direkten Draht an, und da sieht er nicht so aus, als ob er es genießen würde. Er fährt jetzt weniger in die Regionen, um dort Probleme anzugehen; er ist weniger sichtbar.

Putin versucht, dem Text der Verfassung zu folgen, wenn auch nicht ihrem Geist, was wir ja bei der Rochade mit Medwedew beobachten konnten. Er könnte 2024 mit einem verfassungsrechtlichen Schachzug aufwarten und das Spiel neu eröffnen, doch sieht es derzeit eher danach aus, als werde an einer neuen Funktion für ihn gearbeitet …

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Der Geist der Korruption

Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, Administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.

Das Phänomen der Korruption in Russland ist komplex und bisher nur unzureichend erforscht. Illegale Bereicherung wird in der Gesellschaft auf beinahe allen Ebenen als akzeptable, legitime Form betrachtet, um den Lebensunterhalt zu sichern. Die Verwurzelung im Alltagsleben sowie die Mannigfaltigkeit der Korruptionsformen drücken sich auch in der Sprache aus. Im offiziellen Diskurs wird oft das Fremdwort Korrupzija gebraucht.

Ein Phänomen mit vielen Namen

In der Umgangssprache finden sich zahlreiche, teils duldsame Jargon-Ausdrücke: die Substantive wsjatka oder wsjatotschnitschestwo (von wsjat, dt. nehmen), sanos, otkat und Ausdrücke wie sanesti (dt. etwas vorbeibringen), otkatit (dt. etwa zurückschaffen, im Sinne von Korrputionsgegenleistung), dat na lapu (dt. auf die Pfote geben), podmasat (dt. einschmieren) und viele andere. Literarische und traditionelle Wörter wie kasnokradstwo (dt. etwa Veruntreuung, wörtlich Haushaltsklau) oder msdoimstwo (dt. Bestechung), die in Wörterbüchern und klassischen Werken noch vorkommen, sind fast völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden.

Außerdem kommen sowohl in der offiziellen wie in der alltäglichen Sprachpraxis Euphemismen zum Einsatz, durch die von Seiten der Sprecher zum Ausdruck kommt, dass mafiöse Praktiken oder die Verflechtung von Staat und Unterwelt legitimiert sind. Der wichtigste dieser Ausdrücke ist der halboffizielle Terminus Administrative Ressource. Dieser meint die Ausnutzung einer Stellung in der staatlichen Hierarchie, um sich Teile der öffentlichen Mittel anzueignen oder Familienangehörigen lukrative Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen.

Hier werden zwar Gegenleistungen nicht unmittelbar erkauft, aber es wird doch in einem korrumpierenden Sinne der Vorgang der Ressourcenverteilung manipuliert – was Korruptionsnetzwerke weiter wachsen lässt.

Ehrlich verdientes Geld galt als verwerflich

Die Ursache wird verständlich, wenn man die sozialen Praktiken und Einstellungen aus der sowjetischen Epoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems miteinander vergleicht.

Mit Marx kann kann man die sowjetische Ära als Epoche der asiatischen Produktionsweise begreifen. Dies meint Ausbeutung ohne die Bildung von Eigentum. In der UdSSR war nicht nur das Privateigentum an „Werkzeugen und Produktionsmitteln” verboten, auch der gewöhnliche Besitz, die persönlichen Habseligkeiten, wurden beschränkt.

Eine aggressive Form der Uneigennützigkeit wurde dagegen verherrlicht. Ein Arbeiter, der weniger erhielt als den Gegenwert seiner Arbeit und keine Gehaltserhöhung forderte, wurde als „selbstlos“ gepriesen, und sogar ehrlich verdientes Geld galt im sowjetischen Diskurs als verwerflich.

Die Korruption, die in der UdSSR blühte, betraf nicht so sehr finanzielle Eigentumsverhältnisse (also die Möglichkeiten des Privateigentums) als vielmehr die Anhäufung von Einfluss und die Fähigkeit, mit Staatsbesitz so umzugehen, als sei es der eigene.

Immobilien und Geld häuften sich zu Sowjetzeiten nur in einem sehr engen Kreis an. Traditionell hatte (in Russland) dabei nur der oberste Herrscher das Recht, Bürgern Eigentum zuzuteilen: Vor der Revolution war der Zar der einzige rechtmäßige Eigentümer überhaupt. Im sowjetischen Russland war es hingegen das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und seine Führung.

Postsowjetische Massen-Korruption

Die Propagierung der Uneigennützigkeit hatte in der UdSSR fast schon religiösen Charakter. Und die Angst wegen Unternehmertums zu sterben1 war ein Teil der ideologischen Indoktrination. Nach dem Zerfall des sozialistischen Systems verbanden sich daher drei gedankliche Linien, die ein festes Programm bildeten:

  • einerseits Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit 
  • andererseits ein praktisches Verlangen, endlich ein eigenes Haus, eine eigene Wohnung oder ein eigenes Stück Land zu besitzen
  • und schließlich ein fester Glaube daran, dass alles vom Chef abhängt.

Dadurch kam es im Folgenden zu dem verblüffenden historischen Phänomen der postsowjetischen Massen-Korruption.

Die nach dem Zerfall der UdSSR gesetzlich erlaubte allgemeine Bereicherung wurde von den meisten Leuten geradezu als Erlaubnis von oben aufgefasst. Stillschweigend akzeptierte die Gesellschaft die Bedingungen, unter denen das sogenannte Volkseigentum in Privateigentum umgewandelt wurde. Allerdings erfolgte die Privatisierung größtenteils nach dem Motto „jeder nimmt, was er kann“.

Ein traditionelles Mittel der Staatsführung

Dass die ehemaligen Chefs und Geheimdienstmitarbeiter am meisten abbekamen, hat niemanden verwundert. Als die Ära des späten Jelzin in die Ära Putin überging, herrschte ein Konsens bezüglich der nun folgenden Umverteilungen. Der oberste Chef und Eigentümer hatte nach Auffassung der meisten Russen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, persönlich die Verteilung aller Ressourcen sicherzustellen und dabei alle drei Aspekte des Eigentums zu legitimieren: Besitz, Handhabung und Verteilung.

Die massiven Proteste gegen Korruption im März 2017 deuteten zwar einen zaghaften Wertewandel an, doch insgesamt bleibt das Protestpotential eher gering: Veruntreuung von Staatseigentum und Bestechlichkeit werden nicht als Exzess oder Verletzung des geschriebenen Gesetzes gesehen, sondern als traditionelles Mittel der Staatsführung.

Auf Korruptionsenthüllungen von ausländischen oder russischen Organisationen (wie dem Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, Transparency International, ICIJ etc.) reagiert nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft mit Protestaktionen: Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews brachten am 26. März 2017 zwar landesweit einige zehntausende Menschen auf die Straße, die große Mehrheit der Gesellschaft quittierte diese Enthüllung aber mit Schweigen. Die krassesten Veruntreuungen von staatlichem Eigentum, die zum Teil mit der russischen Staatsspitze verbunden sind, werden als legitim aufgefasst. Und jeglicher Versuch, etwas dagegen zu unternehmen, wird schon innerfamiliär unterbunden: Die Familienmitglieder wissen, dass sie ihr gesamtes Eigentum verlieren können, wenn einem Kettenglied in der gegenwärtigen Machtvertikale danach ist.


1.Es ist bemerkenswert, dass Versuche einer selbständigen unternehmerischen Tätigkeit ohne die Genehmigung der politischen Führung stets verhindert wurden – auch mit der Todesstrafe. Im Jahr 1984 wurde Juri Sokolow, der Direktor des Feinkostladens Jelissejew, in Moskau wegen „Diebstahls sozialistischen Eigentums in besonders hohem Ausmaß” erschossen. Im Jahr 1987 traf es den Chef eines Gemüselagers: Mchitar Ambarzumjan. Da die Sowjetunion ein Land des ständigen Mangels war, wurden besondere Handelsketten eingerichtet, über die nur besonders nah an der politischen Führung stehende Personen mit Waren versorgt werden sollten. Versuche der Mitarbeiter, dabei über die gesteckten Grenzen hinauszugehen, wurden zur „ungesetzlichen unternehmerischen Tätigkeit” erklärt – ungesetzlich dabei war der Charakter der „Blat-Aufteilung”. Von hier aus verbreitete sich der Korruptionssumpf, der nach Ansicht einiger Ökonomen die gesamte Wirtschaft der Sowjetunion in den Ruin trieb.
Weiterführende Literatur:
Passarge, Malte/Behringer, Stefan/Babeck, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Handbuch Compliance international: Recht und Praxis der Korruptionsprävention, Berlin; [Russland: S.445-480]
Dawisha, Karen (2014): Putin's kleptocracy: who owns Russia? New York
Golunov, Sergey (2014): The elephant in the room: corruption and cheating in Russian universities, Stuttgart
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