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Bystro #4: 6 Fragen an die Verdächtigen im Fall Skripal

Sind die beiden Verdächtigen im Fall Skripal nur Touristen, die die „englische Gotik genießen“ wollten? Nachdem britische Ermittler Fotos und Namen veröffentlicht hatten, haben Ruslan Boschirow und Alexander Petrow der Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, Margarita Simonjan, ein Interview gegeben. 
Ihre Version der Geschichte: Petrow und Boschirow seien ihre richtigen Namen (die britischen Ermittler hatten dies angezweifelt), sie seien keine Geheimdienstmitarbeiter, sondern als Touristen in London gewesen. Nach Salisbury seien sie gefahren, um die „berühmte Kathedrale“ dort zu besichtigen. Wegen des extrem schlechten Wetters seien sie aber zunächst wieder nach London zurückgekehrt, um am nächsten Tag wiederum nach Salisbury zu fahren. 

Nach dem Interview wurde vielerorts im russischen Internet gemutmaßt, ob es sich bei den beiden um ein schwules Pärchen handele. Der von Simonjan selbst ins Spiel gebrachte Verdacht um die sexuelle Orientierung der beiden wurde mitunter als geschickter Schachzug gewertet, da nach traditioneller Auffassung russische Agenten generell nicht schwul sind. Der britische Geheimdienst hatte Fotos ihres Hotelzimmers veröffentlicht, auf denen ein Doppelbett zu sehen war.
Sie geben indem Interview außerdem an, im Fitnessbusiness tätig zu sein. Den Namen ihrer Firma aber wollen sie nicht nennen, um ihre Geschäftspartner zu schützen.
Als Beweis ihrer Unschuld führen sie unter anderem an, dass man an der Grenze ja auf sie aufmerksam geworden wäre, hätten sie als Männer tatsächlich Frauenparfüm bei sich gehabt (das Nowitschok, mit dem die beiden Skripals vergiftet worden waren, befand sich laut britischen Ermittlungen in einem solchen Parfümflakon).

Meduza hat nach dem Interview sechs offene Fragen gesammelt.

Quelle dekoder
  1. 1. Warum haben Petrow und Boschirow keine Fotos der Kathedrale von Salisbury gezeigt?

    Die Russen erklären ihre Reise nach Salisbury damit, dass sie örtliche Sehenswürdigkeiten und insbesondere die Kathedrale von Salisbury sehen wollten. Ihren Angaben zufolge sei es ihnen am 4. März gelungen, die Kathedrale zu besichtigen, und sie hätten dort sogar Fotos gemacht. 

    Im Interview wundern sich Petrow und Boschirow, warum die britische Polizei keine Aufnahmen von Überwachungskameras nahe der Kathedrale veröffentlicht hat (wobei Scotland Yard auch nicht behauptet hat, dass die Russen dort nie gewesen wären). Dabei haben sie aus irgendwelchen Gründen keine eigenen Fotos von der Sehenswürdigkeit gezeigt, die ihre Version über die Absicht der Reise nach Salisbury belegt hätten. Auf das direkte Angebot von Simonjan, das zu tun, sind sie kein bisschen eingegangen. 


  2. 2. Warum haben Boschirow und Petrow so wenig über sich erzählt?

    Das Hauptziel des Interviews war für Boschirow und Petrow, ihren eigenen Worten zufolge, zu zeigen, dass sie ganz gewöhnliche Russen sind. Allerdings haben sie dafür nur minimale Anstrengungen unternommen: Zum Beispiel waren sie nicht bereit, auch nur irgendwelche Details aus ihrem persönlichen Leben zu erzählen. So wirft das Gespräch nur neue Fragen auf. Wenn sie wenigstens den Namen der Firma genannt hätten, in der sie arbeiten, dann hätte man prüfen können, wann sie registriert wurde, ob sie wirklich Geschäfte machen – und ob sie mit dem Staat verbunden ist.


  3. 3. Boschirow und Petrow sind nach London gefahren, um „zu relaxen“. Zwei von drei Tagen haben sie in Salisbury verbracht. Ist das ihre Vorstellung von „Relaxen“?

    Das ruhige 45.000-Einwohner-Städtchen Salisbury liegt über 100 Kilometer von der britischen Hauptstadt London entfernt. Zu Beginn des Interviews sagen Boschirow und Petrow, dass sie nach Großbritannien nicht zum Arbeiten gekommen seien, sondern zum „Relaxen“. Anscheinend bedeutet „Relaxen“ für sie, zwei von drei Urlaubstagen auf dem Weg nach Salisbury und zurück zu verbringen.

    Vielleicht sind Boschirow und Petrow große Architektur-Liebhaber und beschäftigen sich tatsächlich mit Gotik. Aber dennoch, aus dem Interview wird ein solch besonderes Interesse nicht erkenntlich.


  4. 4. Hat das Wetter Petrow und Boschirow wirklich gestört?

    Die britische Polizei sagt, dass Petrow und Boschirow an zwei Tagen in Salisbury waren: Am ersten Tag „zur Erkundung“, am zweiten, um das Verbrechen zu begehen. Im RT-Interview betonen Petrow und Boschirow, dass sie die Stadt beide Male als Touristen besucht hätten: Am 3. März fuhren sie nach Salisbury, aber dort sei alles „voller Schneematsch“ und sie selbst völlig durchnässt gewesen, so seien sie wieder gefahren, um am nächsten Tag wiederzukommen. 
    Fotos in Sozialen Medien belegen, dass am 3. März durchaus Touristen in Salisbury waren, die nichts daran hinderte, die Kirche zu besichtigen. Hier ein Beispiel:


     
    „So sah die Kathedrale von Salisbury am 3. März aus. Wie man sieht, das Wetter ist nicht zu ertragen.“


  5. 5. Wie haben Boschirow und Petrow Kontakt zu Margarita Simonjan hergestellt?

    Wie die Chefredakteurin von RT sagte, haben die mutmaßlichen Vergifter sie selbst um ein Interview gebeten, indem sie sie auf ihrem Mobiltelefon anriefen. Dabei, so Simonjan, kennen ihre Nummer „alle, sogar Kuriere, die Blumen zum 8. März ausfahren“. In Wirklichkeit ist Simonjans Telefonnummer auf keiner ihrer Profilseiten in Sozialen Netzwerken zu finden, auch auf der Website von RT steht sie nicht. Standardanfragen auf Suchmaschinen spucken ihre Nummer ebenfalls nicht aus. Die Männer haben sich laut eigenen Angaben erst nach dem Vorschlag von Wladimir Putin zu einem Gespräch mit den Medien entschlossen: „Ich möchte mich an sie wenden, damit sie uns heute zuhören. Sie sollen kommen [...] zu den Medien“, erklärte Putin tagsüber am 12. September, und abends war das Interview schon gedreht. Sie müssen die Nummer Simonjans also buchstäblich innerhalb von ein paar Stunden herausgefunden haben.

    [Ergänzung von Meduza: Am Abend des 13. September verlinkte die Yandex-Suche unter den ersten Rängen einen Eintrag aus dem Steuerregister, wo tatsächlich Simonjans Telefonnummer steht. Google gibt diese Seite unter analogen Suchanfragen nach wie vor auf den ersten Seiten nicht aus. Simonjan selbst sagte, dass sie nicht ausschließe, dass Putin ihre Nummer an Baschirow und Petrow gegeben habe.] 


  6. 6. Warum hat Simonjan ihnen einige wichtige Fragen nicht gestellt?

    Warum unterscheiden sich ihre Reisepassnummern nur um eine Ziffer? Warum sind sie sich so sicher, dass sie an der Grenze angehalten worden wären, wenn man Frauenparfüm bei ihnen entdeckt hätte? Wie reagieren ihre Verwandten, Nahestehende, Bekannte und Geschäftspartner auf das Aufsehen um sie? 
    Wladimir Putin sagte: „Wir haben uns natürlich angeschaut, was es für Leute sind. Wir wissen, wer sie sind, wir haben sie gefunden.“ Wer hat sie denn genau gefunden? Haben sich die beiden mit Geheimdiensten unterhalten?
    Und zuletzt ganz banale Fragen: Wo haben sie ihre Ausbildung gemacht? Wer sind ihre Eltern? Was für einen Lebenslauf haben sie? 
    Im Grunde weiß man nach dem Interview nicht mehr über sie, als davor.



*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

Russisches Original: Meduza
Übersetzung: dekoder-Redaktion
veröffentlicht am 14.09.2018

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Sergej Lawrow

Auf kaum einen russischen Politiker wird so unterschiedlich reagiert wie auf den Außenminister Sergej Lawrow. Die ehemalige Sprecherin des US State Department Jennifer Psaki überschritt geradezu eine rote Linie des diplomatischen guten Tons, als sie in harscher Manier im April 2014 Lawrows Vorwurf kommentierte, die USA würden Handlungen der ukrainischen Regierung steuern – dies sei, sagte sie, lächerlich.

Wie ist dieser Affront zusammenzubringen mit den Elogen, die sonst auch von westlicher Seite oft auf Lawrow gesungen werden?

Der britische Historiker Mark Galeotti etwa schrieb in der US-Zeitschrift Foreign Policy, Lawrow sei „einer der weltweit härtesten, klügsten und erfahrensten Außenminister“, eine „enorme Ressource des Kreml“ – die leider einfach nicht genügend eingesetzt werde.1 Auch der deutsche Historiker Michael Stürmer brach für ihn eine Lanze2, und sogar unter den russischen Regimekritikern finden sich einige, die etwas für Lawrow übrig haben. Es scheint, Lawrow ist eine durchaus widersprüchliche Figur.

Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

Für den Studenten des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) – der Kaderschmiede der sowjetischen und später russischen Diplomatie – war die diplomatische Karriere vorgezeichnet. Sie führte den 22-jährigen Lawrow (geb. 1950), der seitdem durchgehend im diplomatischen Dienst tätig ist, erst in die sowjetische Botschaft auf Sri Lanka, vier Jahre später in die Abteilung für internationale Wirtschaftsorganisationen beim Außenministerium und von 1981 bis 1988 zur sowjetischen Vertretung bei der UNO. Nach einem Intermezzo im Außenministerium der  UdSSR beziehungsweise Russlands kam er 1994 zurück nach New York, wo er ein Jahrzehnt lang als UN-Botschafter agierte. Seit 2004 ist Lawrow Außenminister. Neben den UNO-Sprachen Englisch und Französisch spricht er Singhalesisch und Dhivehi.3

Ein distinguierter „Mister Njet“

Mit seiner geschliffenen Ausdrucksweise und seinen tadellosen maßgeschneiderten Anzügen umweht den hochgewachsenen Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans. Ihm wird ein kluger – zuweilen herber – Humor nachgesagt. Er habe, heißt es außerdem, Sinn für guten Whisky, sei mit seiner Rafting-Leidenschaft risikofreudig und im Umgang mit Damen betont charmant. Sein Pokerface und der Spitzname „Mister Njet“ („Mister Nein“) tun das Übrige für den Nimbus eines Mannes, der sich stets tatkräftig und perfekt informiert gibt und in Verhandlungen äußerst durchsetzungsstark ist.  

Gewandte Syrien-Diplomatie

Ein Beispiel seiner diplomatischen Rafinesse präsentierte der erfahrene Politiker im September 2013 im Rahmen des Syrienkonflikts. Geschickt zog er aus einem – möglicherweise recht unbedachten – rhetorischen Argument seines amerikanischen Amtskollegen John Kerry Nutzen und schuf politische Fakten. Kerry hatte bei einer Pressekonferenz gesagt, die syrische Führung könne nur dann einem bevorstehenden Militärschlag entgehen, wenn sie alle Chemiewaffen an die internationale Staatengemeinschaft übergebe – davon ausgehend, dass ein solches Szenario sowieso gänzlich außerhalb des Möglichen liege. Lawrow machte aus Kerrys Worten jedoch umgehend bare Münze: „Wir greifen den Vorschlag von Kerry auf. Wenn sich damit ein Militärschlag abwenden lässt, wollen wir helfen, dass Damaskus die Chemiewaffen abgibt“4, ließ er in einer eilig einberufenen Pressekonferenz verlauten. Und in der Tat begann kurz darauf eine von Russland überwachte Aktion zur Vernichtung syrischer Chemiewaffen. Nach einiger Zeit wurde jedoch klar, dass sie nur zu einer teilweisen chemischen Entwaffnung Syriens führte. Zugleich wurde so der Grundstein für Russlands militärisches Engagement in Syrien gelegt. Mit diesem Coup ließ Lawrow den US-Außenminister wie einen Schuljungen dastehen.

Münchner Sicherheitskonferenz: fast ein Eklat

Es bleibt verborgen, weshalb Kerry seinen russischen Partner schon wenige Tage nach dem Vorfall „my friend Sergey“ nannte5 – die diplomatische Welt hat ihre eigenen Codes. Sicherlich gehört jedoch eines nicht dazu: dass man über einen Diplomaten öffentlich lacht. Diesem Skandal wurde Lawrow bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 ausgesetzt. Es war zunächst wie üblich bei solchen Veranstaltungen: Der Außenminister stimmte ein US-kritisches Lamento über die Hegemonie-Bestrebung und den Revolutionsexport an, ganz im Einklang mit dem Whataboutismus der sowjetischen Diplomatenschmiede. Als er aber darauf kam, die Angliederung der Krim als UN-Charta-konform zu erklären und darauf verwies, dass im ähnlichen Fall der deutschen Wiedervereinigung nicht einmal ein Referendum stattgefunden habe, brachen viele Diplomaten in offenes Lachen aus. Ein unerhörter Vorgang in der diplomatischen Welt, die sich meistens hinter der Fassade der Höflichkeit verbirgt.

Souveräne Verkörperung der politischen Unberechenbarkeit

In dieser Situation trafen gleich mehrere Unberechenbarkeiten aufeinander: Die des Publikums, das seine diplomatische contenance verlor, und die der russischen Außenpolitik selbst, von der es oft heißt, sie schlage – vor allem seit der Angliederung der Krim – immer wieder gezielt taktische Volten.6 Ihr Gesicht Sergej Lawrow verkörpert dies: Mal gibt er sich weltmännisch, mal – wie bei einer Pressekonferenz im August 2015, bei der er leise Unflätiges ins Mikro fluchte – hemdsärmelig, mal konziliant und dann – wie im Fall Lisa – aufwieglerisch. Lawrows souveräner Umgang mit diesen Wandlungen macht vermutlich auch sein Faszinosum aus.


1.Foreignpolicy.com: Free Sergey Lavrov!
2.Die Welt: Die Sphinx in der eiskalten Luft des Kreml
3.Singhalesich ist eine der Amtssprachen auf Sri Lanka. Dhivehi ist Amtssprache auf den Malediven, mit denen die sowjetische Botschaft auf Sri Lanka Kontakte unterhielt.
4.zitiert nach: Tagesanzeiger: Der Manipulator
5.State.gov: Remarks With Russian Foreign Minister Sergey Lavrov
6.Stiftung Wissenschaft und Politik: Denkbare Überraschungen. Elf Entwicklungen, die Russlands Außenpolitik nehmen könnte

 

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