„Wenn es einen Preis für das Buch des Jahres gäbe“, schrieb die große Sowjethistorikerin Sheila Fitzpatrick 2006 in ihrer Besprechung über Alexei Yurchaks (geb. 1960) Everything was Forever, Until it was no More: The Last Soviet Generation, „dieses Buch hätte ihn verdient.“1 Ironischerweise beruhte Fitzpatricks positive Rezension auf einer Fehlinterpretation von zentralen Annahmen des Buches, die Yurchak wiederum in einer Replik richtigzustellen versuchte.2 Rückblickend kann zudem festgestellt werden, dass Fitzpatrick auch die Bedeutung von Yurchaks Last Soviet Generation unterschätzte. Es war das Buch des Jahrzehnts. 2014 erschien eine russische Übersetzung,3 die weiterhin viel Wirkung hervorruft.4
Worin lag und liegt die Bedeutung von Yurchaks Buch? Zunächst darin, dass er bestehende Denkgewohnheiten aufbricht. Yurchak bescheinigte den zwei vorherrschenden Schulen der westlichen Forschung zur Sowjetunion und zur nachsowjetischen Zeit – Totalitarismustheorie und Revisionismus-Hypothese5 – dem gleichen methodischen Dilemma verhaftet zu sein. Nämlich einer stark verkürzten Wiedergabe der sowjetischen Vergangenheit durch die Verwendung binärer Kategorien: das Politische und das Private, die Repression und die Freiheit, die Ökonomie und die Schattenwirtschaft, die Moral und die Korruption und so weiter. Eine solche dichotomische Sichtweise, so Yurchak, helfe weder, die Verhältnisse differenziert zu beschreiben noch habe sie der Eigenwahrnehmung der Sowjetbürger in der Zeit entsprochen.6
Yurchaks akademischer Werdegang hatte ihn für solche Probleme sensibilisiert. Nach einer zeitweisen Unterbrechung seines Studiums in Leningrad bewarb er sich 1990 für ein Doktorandenprogramm an der Duke University in Durham, North Carolina. Dort sah er sich mit extrem vereinfachten Vorstellungen über das Leben in der eben untergegangenen Sowjetunion konfrontiert.
Diskurserstarrung
Interessanterweise war es die Linguistik, die dem Ethnologen Yurchak half, eine neue Perspektive zu entwickeln. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war der Wandel des diskursiven Raumes in der Sowjetunion. Stalin, so Yurchak, sei in den 1930er bis 1950er Jahren ein außerhalb des ideologischen Metadiskurses stehender „Meisterinterpret“ gewesen. Er habe dafür gesorgt, dass dieser Diskurs alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens durchdrang, zugleich blieb dessen Interpretation für die Menschen in der UdSSR, einschließlich der Parteimitglieder, willkürlich und unberechenbar. Nach Stalins Tod gab es niemanden mehr, der diese absolute Deutungshoheit besaß. Dennoch sei die „Grammatik“ des Metadiskurses unverändert geblieben und gab weiterhin die Struktur aller anderen Diskurse vor. Es sei immer unwichtiger geworden, die buchstäbliche Bedeutung des Diskurses zu verstehen. Vielmehr habe es nun genügt, die Form zu reproduzieren.
Nischen im Diskurs
Man wird dem Befund, dass Diskurse und Rituale in der späten Sowjetunion erstarrten, kaum widersprechen wollen. Für Yurchak schuf aber gerade diese Erstarrung die Möglichkeiten, sich innerhalb dieser Strukturen neue Dimensionen des Sprechens oder Handelns zu erschließen. So seien Nischen für individuelle, „eigensinnige“ Aneignungen entstanden, also für nicht antizipierte Botschaften im Kontext strikt formelhafter Sprechweisen und Rituale.
Damit konzeptualisierte Yurchak das Untersuchungsfeld spätsowjetische Gesellschaft neu. Im Mittelpunkt standen nun, in durchaus anthropologischem Sinn, die Lebensweisen der Menschen in der UdSSR. Mit dem Begriff der wnenachodimost – nur notdürftig zu übersetzen als Außerhalbsein oder Exotopie – versuchte Yurchak zu fassen, wie diese sich innerhalb und zugleich jenseits der erstarrten ideologischen Floskeln und Rituale bewegten.7 Er führte Beispiele aus dem Leben junger Mitglieder des Komsomol an, um zu zeigen, dass der innerlich distanzierte Mitvollzug von ritualisierten Handlungen die Schaffung von Freiräumen ermöglichte. Dies wusste Yurchak aus erster Hand, er hatte nämlich 1987 seine akademische Karriere unterbrochen, um die Rockband AVIA und mehrere Theatergruppen zu managen. Der Leningrader Komsomol bot damals einer alternativen, aber nicht unbedingt dissidenten Subkultur Obdach, die er zugleich verbal verdammte. Beschreibungen der Alltagspraktiken von Mitgliedern dieser Leningrader Subkultur nahmen dann auch einen breiten Raum in The Last Soviet Generation ein. Die breitere Anwendbarkeit seines Denkschemas über die Leningrader Szene hinaus konnte Yurchak dagegen empirisch nur in Ansätzen untermauern.
Die Anregungen, die Yurchak vermittelte, sind allerdings inzwischen von der Forschung breit angenommen und weitergeführt worden. Insbesondere bei der Untersuchung von Räumen und Mechanismen der Interaktion und Kommunikation in der späten Sowjetunion hat sich der Ansatz als fruchtbar erwiesen. Hier wäre an die Entstehung von Lese-, Theater- oder Wissenschaftszirkeln zu denken und deren „eigensinnige“ Aneignung durch die Teilnehmer.8 Auch die Forschung zu staatlich geförderten Projekten der späten Sowjetära, wie etwa dem Tourismus oder der individuellen Mobilität, hat von Yurchaks Pionierstudie profitiert.9