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Karriere in Uniform

„In der ganzen Welt wünschen sich Eltern für ihre Kinder eine Karriere als Arzt“, schreibt Jewgeni Karassjuk auf Republic. In Russland, so legt er dar, steht daneben noch etwas anderes hoch im Kurs: der Dienst beim Militär oder bei Sicherheitsorganen.

Wie kommt das? Gerade die Armee hatte eine Mehrheit laut einer Umfrage noch vor sechs Jahren als Zukunft für ihre Kinder abgelehnt, zu viel Angst vor Gewalt, Willkür und politischer Verantwortungslosigkeit gaben die Befragten als Gründe an. Das hat sich geändert. Es sind heute meist Eltern ärmerer Schichten, die für ihren Nachwuchs eine Karriere in der Armee oder bei den Sicherheitskräften erträumen. Wo Jobs fehlen, wo Perspektiven ausbleiben, bietet sich hier zumindest die Aussicht auf ein stabiles Gehalt: Je nach Dienstgrad und -jahren kann zum Beispiel ein Berufssoldat rund 1000 Euro im Monat verdienen. Ärzte bekommen Umfragen zufolge oft nur rund 310 Euro. Entsprechend legendär sind die Wsjatki, Bestechungsgelder, die Patienten oft an Ärzte zahlen.

Karassjuk erklärt auf Republic, weshalb es nicht nur an Propaganda, Ukraine und Syrien liegt, dass viele Russen ihren Kindern eine Karriere ausgerechnet dort wünschen – und verdeutlicht das mit anschaulichen Infografiken.

Источник Republic

„Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto ©  Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0

Vergangenen Herbst hielt Wladimir Mau, Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst, einen Vortrag an der privaten Wirtschaftshochschule Skolkowo. Dort sprach er über die Zukunft der Bildung in Russland und zeigte dem Publikum erneut auf, welche Zukunft sich die Russen für ihre Kinder wünschen: Reichere Familien erwägen eine Karriere als Manager in einem staatlichen Unternehmen, ärmere Familien eine Laufbahn beim Militär oder bei den Sicherheitsbehörden.

„Eine unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“

Die Armut im Land nimmt weiter zu, dem entsprechen auch die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM: Über die Hälfte der Bürger (53 Prozent) ziehen als zukünftigen Arbeitsplatz für ihre Kinder die Polizei-, Justiz- oder andere Sicherheitsbehörden in Betracht. Den Staat mit seiner jetzigen Beschäftigungsstruktur – eine „unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“ – nennt Alexander Idrissow, Chef der Strategy Partners Group, eine Katastrophe. Doch das Interessanteste steht womöglich erst noch bevor. Denn die kommende Generation von Russen folgt vielleicht dem elterlichen Rat und schlüpft massenhaft in Uniformen. Warum halten die Russen eine Karriere als Militärangehöriger, Polizist oder Mitarbeiter der Geheimdienste für eine gute Idee?

In ihren Präferenzen unterscheiden sich russische Eltern gar nicht so sehr von Eltern in anderen Ländern. Fast alle Untersuchungsergebnisse sind mit den Daten ähnlicher internationaler Erhebungen vergleichbar – einzige Ausnahme: der Wunsch nach einer Karriere in den Sicherheitsbehörden.



 * Die Angaben zu den Berufswünschen Ärzte, Unternehmer, Lehrer und Wissenschaftler sind einer Studie entnommen, die die Higher School of Economics 2013 durchgeführt hat. In der Umfrage waren mehrere Antworten möglich. Laut dieser Studie haben 14 Prozent der Befragten eine Karriere bei der Armee als bevorzugt angegeben. Quelle: Republic (WZIOM, HSE)


Quelle: Republic (WZIOM)

Assoziation einer längst vergessenen Stabilität

Eltern aus 16 Ländern, die von der [weltweit agierenden Bank] HSBC im Rahmen der Studie Learning for Life befragt wurden, wollten im Schnitt, dass ihre Kinder Ärzte (19 Prozent), Ingenieure (11 Prozent) oder Programmierer/Software-Entwickler (8 Prozent) werden. Die russischen Daten zu diesen Berufswünschen fallen ähnlich aus: 21, 13 und 14 Prozent. Doch spielen das Innenministerium (MWD), der Inlandsgeheimdienst FSB und die Armee heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle, wenn es um die Prioritäten geht, die in Familien gesetzt werden.

In den letzten Jahren wecken Menschen in Uniform bei Russen Assoziationen einer fast vergessenen Stabilität. Die monatliche Vergütung für Militärangehörige steigt. 2015 betrug sie im Schnitt 62.200 Rubel [rund 1000 EUR – dek], was mehr als das Doppelte des Durchschnittslohns ist.

Außerdem steigen die Renten und Pensionen, die ein Großteil der Mitarbeiter in den Militär- und Sicherheitsstrukturen bereits früher beziehen (vor dem üblichen Renteneintrittsalter: 55 Jahre bei Frauen und 60 Jahre bei Männern). In Zeiten der Krise, so verkündete die stellvertretende Verteidigungsministerin Tatjana Schewzowa stolz, „gelingt es, die finanzielle Vergütung der Militärangehörigen auf dem Niveau der führenden Wirtschaftsbranchen zu halten“. Im Jahr 2015 haben auch erstmals in der neuesten Geschichte Russlands mehr Berufssoldаten (300.000) als normale Wehrdienstpflichtige (276.000) in der Armee gedient.



* Mittelwerte für die Offiziershochschulen Blagoweschtschensk, Nowosibirsk, Rjasan
** Mittelwerte für die MGTU, MIFI und MFTI 2014-2016
Quelle: Republic (Universitäten, Verteidigungsministerium)

„Ich beschäftige mich seit langem mit den Aufnahmeprüfungen an den Militärhochschulen. Eine derartige Konkurrenz wie in diesem Jahr hat es noch nie gegeben“, meinte im Jahr 2015 der stellvertretende Verteidigungsminister Nikolaj Pankow. Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge ist die Zahl der Abiturienten, die auf Militärhochschulen gehen, im Laufe des vergangenen Jahres um 36 Prozent gestiegen. „Heute haben wir, wie es aussieht, den größten Andrang auf unsere Ausbildungsstätten“, erklärte der Minister.

Gleichzeitig steigt auch die Nachfrage nach Plätzen in den Nachimow- und Suworow-Militärschulen und Kadettenkorps (2015 gab es 3,5 Bewerber pro Platz). An den zivilen technischen Hochschulen werden sogenannte Wissenschafts-Kompanien eingerichtet, und auch da ist der Andrang groß.

Selbstisolierung spielt Militär in die Hände

Der explosionsartige Beliebtheitssprung bei militärischen Berufen erfolgt vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Selbstisolierung der Bevölkerung, auch im Bildungssektor. Für jene, die sich von Feinden umringt fühlen (laut Lewada-Zentrum 68 Prozent), die meinen, dass man Russland in der Welt fürchte und dass das gut sei (75 Prozent laut FOM), wäre es merkwürdig, davon zu träumen, die Kinder zum Studium ins Ausland zu schicken.

68 Prozent der Russen, die 2015 im Rahmen der Studie Integrationsbarometer der Eurasischen Entwicklungsbank befragt wurden, konnten oder wollten kein einziges Land nennen, in das sie ihre Kinder theoretisch zwecks Studium fahren lassen könnten. Zum Vergleich: Den Daten der HSBC zufolge denken in westlichen und asiatischen Ländern 77 Prozent der Eltern mit Kindern bis 23 Jahre daran, die Kinder für Bachelor-, Master- oder Doktoranden-Programme ins Ausland zu schicken.

Die Russen in Uniform fühlen sich sicher

Es wäre zu einfach, das gestiegene Interesse der Russen an einer Arbeit in den Sicherheitsbehörden mit den Ereignissen in der Ukraine und in Syrien zu erklären oder mit der speziellen Art, wie darüber in den staatlichen Medien berichtet wird. Das Internationale Konversionszentrum Bonn (BICC) führt Russland bereits seit vielen Jahren unter den zehn (und häufiger noch: fünf) am stärksten militarisierten Staaten. Dem Ranking des internationalen Zentrums liegen mehrere Faktoren zugrunde, beispielsweise die Haushaltsausgaben für Militär im Verhältnis zu denen im Gesundheitssektor, das Zahlenverhältnis von Militärangehörigen (inklusive Milizen, aber ohne Mitarbeiter von Polizei und Justiz) und Ärzten zur Gesamtbevölkerung sowie die Menge schwerer Waffen bezogen auf die Bevölkerungszahl.



Quelle: Republic (Finanzministerium)

Viele Russen fühlen sich in Uniform sicher – und zwar ungeachtet der Wirtschaftskrise und planmäßigen Kürzungen sowie der außerplanmäßigen Reformen in einigen Behörden. Was die Staatsfunktionäre auch immer sagen mögen über die Unterstützung aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst – die Silowiki erfahren die Fürsorge des Staates zuerst. So bedeutet der Anstieg der Ausgaben für den öffentlichen Dienst, wie er im Haushaltsplanentwurf 2017 bis 2019 vorgesehen ist, in erster Linie eine Ausgabensteigerung für die Staatsanwaltschaften, das Ermittlungskomitee, den FSB und andere privilegierte Behörden des Innen- und Verteidigungsministeriums.

Auch die immaterielle Motivation wird immer größer. „Ränge, Auszeichnungen, die Vertikale der Macht und das Unterordnungsprinzip gehören zu den Grundsätzen einer militärischen Organisation der Gesellschaft. Und diese Prinzipien zeigen sich wieder im alltäglichen Leben des heutigen Russland“, schreibt Cyril Bret vom Pariser Institut für politische Studien (Sciences Po).

Wie es aussieht, ist die Mehrheit der Russen aufrichtig davon überzeugt, dass diese Kasernenstruktur im Land noch lange Bestand haben wird. Wenigstens für die Kinder wird’s reichen.

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Der Begriff Silowiki leitet sich von dem russischen Wort sila ab, was mit Kraft oder Gewalt übersetzt werden kann. Silowiki sind demnach Amtspersonen in Macht- oder Gewaltbehörden (russ. „silowye wedomstwa“), die mit der Wahrung und Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols in Russland betraut sind. Im Volksmund werden Silowiki auch als Personen in Uniform / mit Schulterklappen bezeichnet. Der Begriff hat sich gegen Ende der 1990er Jahre – also zur Regierungszeit Jelzins – im Zusammenhang mit dem Zustrom an „Schulterklappenträgern“ in die russische Elite in der Umgangs- und Mediensprache etabliert.

Zu den Silowiki werden gewöhnlich die Mitarbeiter des Verteidigungs-, Innen- und Justizministeriums, des Ministeriums für Zivilschutz sowie untergeordneter Behörden wie der Truppen des Innenministeriums gezählt. Am prominentesten sind sicherlich die Inlands- und Auslandsgeheimdienste, weniger bekannt die Staatsanwaltschaft, die Nationalgarde sowie die Drogen- und Gefängnisaufsichtsbehörden. Vertreter der nicht unumstrittenen Militarisierungsthese gehen davon aus, dass die Zahl und Bedeutung der Silowiki unter Putin stetig zunahm. Nach Berechnungen von Olga Kryschtanowskaja und Stephen White1 bestand die politische Elite unter Jelzin 1993 zu 11,2 Prozent, unter Putin 2002 zu 25,1 Prozent, 2008 zu 42,3 Prozent und unter Medwedew 2010 zu 20,7 Prozent aus Silowiki.

Als Gegensatz zu den (Wirtschafts-) Liberalen wird den Silowiki ein Weltbild zugesprochen, welches nach einer starken Hand und autoritärer Führung verlangt und Demokratie westlicher Prägung ablehnt. Im Verlauf des Ukraine-Konflikts hat der realpolitische Einfluss der Uniformträger wieder merklich zugenommen. Die Silowiki sollten jedoch nicht als homogene Gruppe gesehen werden. So stehen beispielsweise die Staatsanwaltschaft und das Ermittlungskomitee nach der Aufspaltung in zwei Behörden in schärfster Konkurrenz zueinander, eine Folge der teile und herrsche-Taktik, die viele Beobachter für einen wichtigen Teil des Herrschaftssystems Wladimir Putins halten.2 Definitorisch ist zudem nicht geklärt, wie lange eine Person in einer entsprechenden Behörde tätig gewesen sein muss, um zu den Silowiki gerechnet zu werden. So hat etwa der langjährige Financier der regierungskritischen Zeitung Novaya Gazeta, Alexander Lebedew, ebenso eine KGB-Vergangenheit wie der ehemalige Duma-Oppositionelle Gennadi Gudkow, der eine wichtige Rolle bei den Bolotnaja-Protesten spielte.


1.Unveröffentlichtes paper von 2014. Siehe auch: Kryshtanovskaya, Olga / White, Stephen (2011): The Formation of Russia’s Network Directorate, in: Russia as a Network State: What Works in Russia when state institutions do not?, S. 19–38
2.Gel’man, Vladimir (2005): Political Opposition in Russia: A Dying Species?, in: Post-Soviet Affairs, Vol. 21/3, S. 226-246 und Vedomosti: Političeskaja sistema v dviženii
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