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Wer nicht Freund ist, ist Feind

Das politische System in Russland wird schnell auf Putin reduziert. Dabei sollte man eher von einem System Putin ausgehen. Dieses System hat seine Besonderheiten gerade auch, was die Opposition betrifft. Im Grunde gibt es ein „hierarchisches Gebilde aus der dominanten Regierungspartei Einiges Russland und drei weiteren Parteien, die sich mit ihrem nachgeordneten Platz im System weitgehend arrangierten“. Die kommunistische KPRF, die rechtspopulistische LDPR und die Partei Gerechtes Russland werden deswegen als „Systemopposition“ bezeichnet. 

Als Nicht-System-Opposition gelten dagegen politische Parteien und Bewegungen, die meist nicht an Wahlen teilnehmen dürfen und damit de facto aus dem politischen System ausgeschlossen bleiben. Dazu gehört etwa auch das Team Alexej Nawalnys.

Ein Moskauer Gericht hat am gestrigen Mittwoch, 9. Juni, die Organisationen Nawalnys für „extremistisch“ erklärt. Dies bedeutet auch, dass sich jeder strafbar macht, der für sie arbeitet und sie unterstützt. Nawalnys Wahlkampf-Chef Leonid Wolkow erklärte bereits zuvor, dass die Struktur der Organisation damit zerstört sei, und dass man nun andere Maßnahmen überlegen müsse.

Der FBK ist nicht das einzige Beispiel: Seit den Protesten im Januar/Februar und im Vorfeld der Dumawahl im September haben die Repressionen gegen kritische Stimmen deutlich zugenommen: Es trifft die Nicht-System-Opposition, die Zivilgesellschaft genauso wie Medien. Unlängst wurden drei deutsche NGOs zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt, was ihre Arbeit in Russland unmöglich macht. Schon zuvor wurden mehrere russische Organisationen ebenfalls als „unerwünscht” eingestuft, etwa Otkrytaja Rossija, die Organisation von Michail Chodorkowski. 
Parallel dazu verstärkt der Gesetzgeber die Internetzensur. Es wurden Geldstrafen gegen Soziale Medien wie Facebook, Twitter und TikTok verhängt – wegen Verbreitung von „Aufrufen zu illegalen Massendemonstrationen“ – und Twitter wurde gedrosselt. Auch unabhängige Online-Medien geraten zunehmend unter Druck: Meduza und VTimes gelten als „ausländische Agenten“, gegen einzelne Journalisten und Medien wurden Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redaktionsmitglieder des Magazins Doxa. 

Da immer mehr Organisationen so die Grundlagen ihrer Arbeit entzogen wurden, fragt Politologin Tatjana Stanowaja auf Projekt, ob man unter solchen Bedingungen überhaupt noch von einer Nicht-System-Opposition sprechen kann, inwiefern sich diese Art von Opposition derzeit ändert und welche Instrumente ihr bleiben.

Источник Projekt

Noch nie in den 21 Jahren unter Putins Herrschaft stellte sich die Frage nach der „Belarussifizierung“ der russischen Politik so akut wie heute – etwas, das noch vor ein paar Jahren undenkbar schien.

Heute scheint es, als liege im politischen Kampf gegen die Opposition der Vorteil ausschließlich auf Seiten der Machthaber. Der Kreml (als Sammelbegriff für die oberste Führung des Landes) hat der Nicht-System-Opposition nicht nur unüberwindbare Hürden in den Weg gestellt, er hat sich auch rundum abgesichert: Es wurden inzwischen derart viele Verbotsgesetze erlassen, dass jeder beliebige Oppositionelle und jede oppositionelle Organisation – ganz nach Lust und Laune der Silowiki – als „ausländischer Agent“, „unerwünschte Organisationen“, als „extremistisch“, als „NGO, die in die Persönlichkeitsrechte der Bürger eingreift“ gehandelt werden kann. Wenn alle Stricke reißen, dann können sie auch einfach zu einer kriminellen oder betrügerischen Vereinigung erklärt werden. 

Die „Belarussifizierung“ der russischen Politik

Jemanden von den Wahlen auszuschließen und Protestaktionen zu verbieten ist ebenfalls ein Kinderspiel – da geht es nicht einmal um gesetzliche Hürden, sondern um die beachtliche Willkür der Anwendung von Gesetzen. Das Gesetz ist kein Wert mehr an sich, sondern das Privileg einiger Weniger. 

Den Leadern der Nicht-System-Opposition bleibt praktisch keine andere Wahl als die politische Emigration. Zahlreiche Aktivisten aus Nawalnys Team waren unter Androhung von Strafverfolgung gezwungen, Russland zu verlassen [so etwa auch der Wahlkampfchef Leonid Wolkow – dek]. 

Jemanden von den Wahlen auszuschließen ist ein Kinderspiel – da geht es nicht einmal um gesetzliche Hürden, sondern um die beachtliche Willkür der Anwendung von Gesetzen

Die gesamte inländische Infrastruktur, von den Regionalteams (wenn es um den FBK geht) bis hin zu einzelnen Abteilungen (im Fall von Otkrytaja Rossija), ist faktisch aufgelöst, die Mitarbeiter ins Nichts entlassen. 
Michail Chodorkowski, der Gründer von Otkrytaja Rossija, hat das Problem kürzlich klar benannt: „Ich sehe momentan keinen Sinn darin, sich unter einen Panzer zu legen.“ 
All das erzeugt ein tiefes Gefühl von einem Ende, von der endgültigen Niederschlagung der Nicht-System-Opposition, die nach ihrer „Kriminalisierung“ (Ende 2020/Anfang 2021) jetzt schlicht als Klasse liquidiert wurde. Was nun?

Den Leadern der Nicht-System-Opposition bleibt praktisch keine andere Wahl als die politische Emigration

Wenn wir von der Opposition in einem breiteren Sinn sprechen, gibt es mindestens drei Haupttrends, mit denen wir es in nächster Zeit zu tun haben werden. 

Der erste Trend: Opposition wird zu „Anti-Regime“ gemacht

Der erste Trend: Mit Beginn des Jahres 2021 hat der Begriff „Nicht-System-Opposition“ ausgedient und wird abgelöst von einem „Anti-Regime-Verhalten“. 

Die ehemalige Nicht-System-Opposition hat keine vollwertigen (das heißt sich noch in Freiheit und im Land befindenden) Organisationen, Leader, Strategien, Finanzressourcen oder Mitarbeiter mehr. Ebenso rasant verliert sie ihre Informationskanäle, den Zugang zu einer breiten Leser- und Zuschauerschaft. Die Regierung ist gerade dabei, die Regulierung des Internets insgesamt und der sozialen Medien insbesondere radikal zu überdenken. In allernächster Zukunft wird die Kontrolle der „illegalen“, sprich: politisch unliebsamen Informationsinhalte im Internet massiv verschärft werden. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor überprüft das gesamte System der Beziehungen zu ausländischen IT-Konzernen (z. B. Drosselung von Twitter, Drohungen gegenüber Google, Druck auf YouTube usw.), indem sie fordert, „falsche“ Inhalte und Videos zu entfernen und „richtige“ voranzubringen. 
Das Überwachungsorgan verfügt außerdem über alle Instrumente, um Internetseiten zu sperren, das Löschen von Publikationen zu erzwingen und diejenigen, die sich widersetzen, zu verfolgen. Hierzu können wir auch die jüngsten Änderungen zum Gesetz über die „aufklärerische Tätigkeit“ zählen, die ein klarer Angriff sowohl auf die russische Wissenschaft und Bildung als auch auf jede öffentliche oppositionelle Aktivität sind.

Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet

Viele meinen, die aktuelle Kampagne der Regierung zur Zerschlagung der Nicht-System-Opposition würde sich nur gegen den FBK und Chodorkowskis Otkrytaja Rossija richten, aber die Absichten der Machthaber gehen weit darüber hinaus. Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet, zur Zielscheibe wird alles, was die Macht als eine Form von Anti-Regime-Verhalten empfindet, ob individuell oder institutionell. 

Das Anti-Regime-Verhalten

Ein solches Verhalten hat keine Organisationen, keine Leader, keine vollwertige Koordination, doch es lassen sich drei Grundformen unterscheiden. Die erste ist die öffentliche Kritik: Posts, Likes, Retweets und kritische Äußerungen – das betrifft sowohl Privatpersonen als auch einzelne Medien, Journalisten, Experten, Kulturschaffende sowie natürlich Politiker und Menschenrechtler. 

Die zweite ist die Teilnahme an politischem Protest, seien es Kundgebungen oder beliebige Veranstaltung eines Anti-Regime-Oppositionellen. 
Die dritte – und vermutlich schwerwiegendste – ist die Ablehnung bestimmter „politischer Werte“: die „Beleidigung“ von Kriegsveteranen, „Respektlosigkeit gegenüber der Macht“ (die sich selbst zu einer „geistigen Klammer“ gemacht hat), Vergleiche der UdSSR mit Nazideutschland. 
Die gesamte Politik des russischen Staates zur Unterdrückung der Nicht-System-Opposition wird auf diese Weise in eine großangelegte, allumfassende, in der Regel entpersonifizierte Kampagne gegen alle Formen von Anti-Regime-Stimmungen transformiert.

Politisch motivierter Absicherungswahn

Man könnte meinen, das, was geschieht, sei eine sorgfältig durchdachte Strategie des kollektiven Kreml, fünf Schritte im Voraus geplant und mit allen abgestimmt. Aber das ist längst nicht der Fall: Die Linie der Unterdrückung ist chaotisch, oft undurchschaubar, sie wird realisiert von Akteuren, die sich gegenseitig bekriegen und weder einen einheitlichen Plan noch eine Schaltzentrale haben. Der Trend zur Unterdrückung erwächst aus einem bestimmten Milieu, aus der allgemeinen Stimmung gegen alles Unkontrollierte, aus einem politisch motivierten Absicherungswahn, der zu einer Vielzahl voneinander unabhängiger Rachefeldzüge führt. Der Kampf gegen Anti-Regimler kann in diesem Fall sowohl Ursache, Selbstzweck oder auch ein Mittel sein, Unternehmensinteressen durchzusetzen.

Zweiter Trend: Neue Formen des Anti-Putin-Protests

Der zweite Trend ist, dass der Anti-Putin-Protest andere Formen annehmen wird. Aktuell stehen den ehemaligen Aktivisten der Nicht-System-Opposition drei Hauptstrategien zur Verfügung: in den Untergrund gehen, wo sie harte Gefängnisstrafen riskieren und praktisch keinen Zugang zum Informationsraum haben; in die System-Opposition wechseln; ihre politischen Ziele regionalisieren. 

In den Untergrund

Das Verschwinden im Untergrund wird vermutlich nur eine marginale und periphere Bewegung sein – einfach aus der Unmöglichkeit heraus, gefahrlos zu agieren. Aber auch die beiden anderen Optionen scheinen nur begrenzt möglich. 

Wechsel in die System-Opposition

Zwar sind die regionalen Abteilungen der Systemparteien zum Teil nicht weniger radikal als Nawalnys Teams und könnten versuchen, ihren Platz in den legalen Parteistrukturen zu finden. Doch das Gesetz zur Einschränkung des passiven Wahlrechts für alle, die in der Vergangenheit irgendwie mit dem „extremistischen“ FBK zu tun hatten, könnte den Wechsel in die Systemopposition erschweren. Sergej Iwanenko, stellvertretender Vorsitzender von Jabloko, hat zwar angekündigt, seine Partei sei bereit, ehemalige Mitarbeiter und Koordinatoren der Nawalny-Teams in ihren Reihen aufzunehmen. Doch selbst diejenigen, die bereit sind, in die Systemopposition zu wechseln, riskieren eine Absage: zu toxisch sind alle Nawalny-Aktivisten geworden, zu große Schwierigkeiten könnte ihre Aufnahme für die Systempartei bedeuten.

Das Problem ist nicht einmal die Zulassung oder Nichtzulassung bei den Wahlen (definitiv nicht), sondern das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung. Dabei ist klar, dass der FBK zwar zerschlagen, aber die Leute noch da sind – und dass viele von ihnen, wenn sie den politischen Kampf fortsetzen wollen, ganz neu werden anfangen müssen, mit individuellen Projekten und einem Fokus auf regionalen statt föderalen Themen. 

Zunehmende Bedeutung des regionalen Protests

Das könnte wiederum bedeuten, dass die regionale Protestaktivität, die Anzahl der lokalen Aktionen und Proteste [die sich nicht explizit gegen Putin, sondern gegen einzelne Regionalchefs richten – dek] zunehmen wird. Diese Regionalisierung des Protests ist tatsächlich kein geringes Problem für die Machthaber im Kreml – die Untergrabung der Legitimität des Gouverneurs-Korps ist eine der effektivsten Formen im Kampf gegen das Regime insgesamt.

Dritter Trend: Radikalisierung und Mini-Nawalnys

Der dritte Trend ist schließlich das Zusammenschrumpfen des Systemfeldes und die Radikalisierung der Peripherie der Systemopposition. Im Grunde ist dieser Prozess bereits im Gange, man muss sich nur anschauen, wie bereitwillig manche Kandidaten der Systemopposition die Vorteile des „Smart-Votings“ 2019 in Moskau oder bei den Kommunalwahlen im September 2020 für sich genutzt haben. Nawalnys Sympathisanten sowie die oppositionellen und putinkritisch eingestellten Aktivisten der Systemopposition (allen voran bei Jabloko und in der KPRF) – bereiten ihren Parteispitzen mittlerweile ernsthaft Kopfzerbrechen. Jabloko sah sich gezwungen, eine umfassende Parteireform durchzuführen und alle auszusieben, die zu stark in Richtung der Nicht-System-Opposition „abweichen“. Die KPRF hat bei ihrem letzten Parteitag die Kompetenzen aller „Unzuverlässigen“ begrenzt, die vom Regime als Nawalny-Anhänger eingestuft werden. Der Kreml hatte [die KPRF] in aller Schärfe vor die Entscheidung gestellt: Entweder sie würde sich von dem politisch gefährlichen Ballast befreien oder sie bekommt Probleme bei den Wahlen (und nicht nur bei den Wahlen).

Auf diese Weise zwingt das Regime die Parteien der Systemopposition, sich noch stärker zum System und zu Putin zu bekennen, die „gemeinsamen Werte“ noch eifriger zu verfechten – das Feld der Systemparteien wird enger und loyaler. Das provoziert eine Zunahme von oppositionellen Stimmungen, inneren Zwist und Konflikte: Bei weitem nicht alle – zumal in den Regionen – sind bereit, diesen Kurs des Kompromisslertums mitzutragen, selbst wenn das die einzige Überlebenschance ist.

Einer der interessantesten Prozesse ist derzeit das Entstehen einer neuen Generation von vielversprechenden und talentierten charismatischen Politikern, die auf föderaler Ebene noch wenig bekannt sind, die aber sowohl ihren Systemparteien als auch dem Kreml die Stirn bieten. Eines der schillerndsten Beispiele ist der bereits in Ungnade gefallene Saratower Abgeordnete Nikolaj Bondarenko, dem auf YouTube über anderthalb Millionen Menschen folgen.

Was tun mit der innersystemischen Anti-Regime-Opposition? Das ist kein geringes Problem für den Kreml. Sie aus dem systemischen Feld zu verbannen, wäre nur eine halbherzige Maßnahme, sie alle einbuchten können die „Kuratoren“ auch nicht (noch lässt der FSB die Systemopposition in Ruhe). Man wird punktuell und individuell vorgehen müssen, aber eine einheitliche Strategie gibt es nicht und kann es in dieser Situation nicht geben, in der es im ganzen Land vor individuellen FBKs und Mini-Nawalnys nur so wimmelt.

Auch Medien werden als „Opposition“ aufgefasst

Das Besondere an der gegenwärtigen Situation, in der die Regierung die putinkritische Opposition de facto zerschlagen hat, ist, dass der Begriff der Opposition extrem breit aufgefasst wird. In den Augen der Machthaber übernehmen auch die Medien eine indirekt oppositionelle Rolle: unabhängige Online-Portale, Echo Moskwy, Doshd – Medien, die sich besonders für die Hardliner der Silowiki in Nichts von Nawalny und seinem FBK unterscheiden. Das bedeutet, dass die unabhängigen Medien, aber auch Massenmedien mit einer unabhängigen Informationspolitik, zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben bekommen und zur offenen Zielscheibe für die Repressionswalze werden, die die Überreste der Anti-Regime-Aktivität dem Erdoden gleichmacht.

Unabhängige Medien bekommen zunehmend politische Bedeutung zugeschrieben

Nichtsdestoweniger, allem Druck, Repressionen und Niederschlagungen zum Trotz, bleiben der oppositionellen politischen Aktivität noch einige Instrumente: 

Informationskampagnen

Zum einen sind das Informationskampagnen, die trotz aller Versuche der Machthaber, die Kontrolle über das Internet zu verschärfen, aus dem Ausland und unter Umgehung der Sperren durchgeführt werden können. Es ist unwahrscheinlich, dass das massenhaft vorkommen wird; aber dieser Kanal bleibt bestehen, zumal sich die Frage nach einer totalen und undurchdringlichen Zensur des Internets nach chinesischem Vorbild momentan nicht stellt. 

Radikalisierung

Zweitens ist da die Radikalisierung der Systempolitiker – hauptsächlich auf regionaler Ebene, aber mit Aussicht auf Ausweitung auf die landesweite Ebene. Wir werden vermutlich Zeuge des Entstehens einer ganzen Reihe von neuen lokalen politischen Projekten, deren Erfolg begrenzt sein wird. Die Menschen werden überall nach Einsatzmöglichkeiten für ihre bereits erworbenen politischen Kompetenzen suchen und der Kreml wird dann regelmäßig lokale politische Brände löschen müssen.

Protestaktionen

Drittens bleiben schließlich die Protestaktionen. Die Möglichkeiten von Nawalnys Team sind heute radikal eingeschränkt, wenn sie nicht sogar bei Null liegen; und andere Leader auf föderaler Ebene gibt es nicht. Doch der stärkste Motor für Massenproteste wird nicht die Opposition, sondern werden die Machthaber selbst sein – ihre Fehler waren es in der Regel, die als Trigger für vieltausendköpfige Aktionen gewirkt haben, so zum Beispiel 2019 in Moskau, 2020 in Chabarowsk und noch im Januar und Februar 2021 rund um die Verhaftung Nawalnys
Ja, es gibt das Problem der fehlenden Koordination auf föderaler Ebene, aber wie das Beispiel Belarus zeigt, braucht eine Massenprotestbewegung nicht zwingend Anführer.

Der stärkste Motor für Massenproteste wird nicht die Opposition, sondern werden die Machthaber selbst sein

In diesem Sinne könnten die Wahlen im September zu einer ernsten Herausforderung für die Machthaber werden. Um sie schmerzlos zu überstehen, wird es nicht ausreichen, Nawalny einzusperren, den FBK zu vernichten und Otkrytaja Rossija zu schließen. 

Nach der Zerschlagung der Opposition ist die Hauptgefahr für die Macht die Macht, die in Ermangelung einer Opposition unausweichlich noch gröbere und gefährlichere Fehler machen wird, als wenn es eine Opposition gäbe.

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Gnose

Sozialprotest

Weit verbreitet sind in Russland Proteste zu Sozialthemen wie Lohnrückstände, Sozialabbau oder LKW-Maut. Im Gegensatz zu Protestaktionen der Oppositionellen und Aktionskünstler wird jedoch über sie gerade von den westlichen Medien selten berichtet. Die Aktionsformen reichen vom Bummelstreik bis zur Selbstverbrennung. Von einigen Beobachtern als unpolitisch abgetan, gilt der Sozialprotest anderen als der wahrhaft politische, da es um konkrete Interessen statt eines abstrakten Wandels geht.

Гнозы
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Fonds für Korruptionsbekämpfung

„Sie verfügen über eine der besten Ermittlungsstrukturen in Russland,“ setzt Tichon Dsjadko vom Internetfernsehsender Doshd an. Er will Alexej Nawalny die Frage stellen, ob sein Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) selbst recherchieren werde, wer genau hinter seiner Vergiftung im August 2020 steht. Doch bevor Dsjadko die Frage aussprechen kann, korrigiert ihn Nawalny schon: „Nicht eine der besten. Wir haben die beste.“

In der medialen Wahrnehmung tritt die Organisation, die Nawalny im Jahr 2011 gründete, um seine zahlreichen Projekte unter einem Dach zusammenzuführen, oft in den Hintergrund. Schließlich war Nawalny bis zu seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe Anfang Februar 2021 das Gesicht seiner Kampagne: Er präsentierte die Ergebnisse der Recherchen auf seinem Blog und auf YouTube und legte auch persönlich Rechenschaft über die Finanzen der Organisation ab. Doch auch schon vor Nawalnys Verurteilung sind alle Fäden bei den etwa 30 Mitarbeitern des FBK zusammengelaufen: Der Fonds ist das Herzstück des Projekts Nawalny – eines Projekts, das längst über die Person hinausgewachsen ist.1

Da sind zum einen die detailreichen Recherchen zu Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik. Die Mächtigen, die ihre Macht zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil nutzen, sind meist verschwiegen – in Russland genauso wie anderswo. Doch trotz hoher Mauern und juristischer Tricks fördert der FBK mit diebischer Freude immer weitere Villen, Jets und Weingüter der russischen Elite zutage. Zum Markenzeichen wurden die Drohnenaufnahmen von gut versteckten Schlössern, doch die Investigativ-Abteilung des FBK nutzt zuweilen sogar öffentliche Daten. Informationen zur komplexen Struktur, hinter der sich laut FBK die toskanischen Weinberge des Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew verbergen, stammen zum Beispiel aus dem Handelsregister Zyperns und der Handelskammer der italienischen Region Siena. 

Recherchen, Social Media und Personalrekrutierung

Auf diese Enthüllungen folgen dann oft Klagen oder Beschwerden, die die juristische Abteilung des FBK bei den staatlichen Ermittlungsbehörden einreicht, doch meistens wird nichts daraus. Dies verwundert nicht weiter, wenn man bedenkt, dass es ein tragendes Prinzip der politischen Ordnung im heutigen Russland ist, Loyalität mit der Möglichkeit der Selbstbereicherung zu entlohnen. Dieses kleptokratische Prinzip aufzudecken und in Unterstützung für Nawalny umzumünzen – das ist eine der Hauptaufgaben des FBK.

Eine weitere besteht in der Bündelung aller Projekte und Ressourcen Nawalnys. Hier arbeiten nicht nur Journalisten und Juristinnen, sondern auch Soziologinnen und Videoproduzenten. Erstere ermitteln regelmäßig in eigenen Umfragen die Popularität Nawalnys, evaluieren die Arbeit seiner Regionalbüros und identifizieren zentrale Themen, die Nawalny dann aufgreift. Letztere setzen die Ergebnisse der Recherchen in technisch hochwertige Videoreportagen um. Denn wer um die Macht konkurriert, aber nicht im Fernsehen auftreten darf, der braucht seine eigenen Medien.

Schließlich ist der FBK auch eine Art Kaderschmiede: Sowohl Producerin Ljubow Sobol als auch FBK-Direktor Iwan Shdanow haben hier als Juristen angefangen, mittlerweile treten sie aber auch als Nawalnys Kandidaten an. Bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament 2019 wurden sie, wie viele andere Oppositionskandidaten, von den Behörden nicht zugelassen

Diese drei Dinge – Recherchen, Social Media und Personalrekrutierung – laufen dann in Nawalnys Kampagnen zusammen: Im August 2020 veröffentlichte er auf seinem YouTube-Kanal zwei millionenfach geklickte Enthüllungsvideos über Korruptionsnetzwerke in Tomsk und Nowosibirsk, die höchstwahrscheinlich einen Gutteil zum Erfolg seiner Kandidaten in den jeweiligen Stadtparlamenten beigetragen haben.

„Russland der Zukunft“

All dies macht den FBK faktisch zur Zentrale der Nawalny-Partei Russland der Zukunft – auch wenn diese Partei keine Chance auf offizielle Zulassung hat. In diesem Sinne ist der FBK eine Behelfslösung, denn Nawalnys eigentliches Ziel ist weder die Korruptionsermittlung noch das YouTuber-Dasein, sondern die Politik. Und das weiß auch der Kreml. Aus diesem Grund ist der FBK regelmäßigen Repressionen ausgesetzt. Das Justizministerium etwa klassifizierte ihn im Jahr 2019 als ausländischen Agenten, nachdem der Fonds eine dubiose Zahlung eines spanischen Boxers2 erhalten hatte. Obwohl das Geld sofort zurücküberwiesen wurde, zogen die Behörden die Einstufung nicht zurück. Im Dezember 2019 wurde dann der Mitarbeiter des FBK Ruslan Schaweddinow verhaftet und zum Militärdienst auf der abgelegenen Insel Nowaja Semlja eingezogen. Infolge einer Klage des Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin verpflichtete ein Gericht die Organisation zur Zahlung von knapp 30 Millionen Rubel Schadenersatz und veranlasste die Sperrung ihres Kontos. Im April 2020 kündigte Nawalny deshalb an, die bisherige Organisation aufzulösen und neu zu gründen, den etablierten Markennamen Fonds für Korruptionsbekämpfung aber beizubehalten.3 Dazu konnte der Oppositionspolitiker aber nicht kommen: Am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Nawalny bleibt damit bis Oktober 2023 in einer Strafkolonie

Den vorläufigen Schlusspunkt der behördlichen Maßnahmen gegen den FBK bildete im Juni 2021 die Einstufung des Fonds als „extremistisch“: Dieser soll laut Staatsanwaltschaft unter anderem eine „Farbrevolution“ vorbereitet haben. Das Gerichtsverfahren fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, nach einer gescheiterten Berufungsverhandlung wurde das Urteil am 4. August rechtskräftig. Laut Medienberichten hat Ljubow Sobol das Land verlassen, gegen ihre Mitstreiter Iwan Shdanow und Leonid Wolkow hat das Ermittlungskomitee Strafverfahren eingeleitet: Ihnen wird vorgeworfen, Gelder zur Finanzierung von FBK und der Nawalny-Wahlteams beschafft zu haben. Mit der Aufnahme in die Verbotsliste des Justizministeriums droht allen, die mit oder für Nawalnys Fonds arbeiten – auch den zahlreichen Ehrenamtlichen – eine Haftstrafe.

Dorn im Auge des Kreml?

Das Konto des Fonds ist derzeit gesperrt, doch woher stammt das Geld darauf? Zu Beginn seiner Arbeit erhielt der FBK Zuwendungen einiger prominenter Sponsoren, darunter von dem Schriftsteller Boris Akunin und dem Unternehmer Boris Simin, der auch Nawalny persönlich unterstützt. Die dauerhafte Finanzierung wurde bislang größtenteils durch Crowdfunding gesichert. Aus dem letzten Finanzbericht4 geht hervor, dass von den insgesamt 89 Millionen Rubel (Ende 2019 waren es umgerechnet etwa 1,3 Millionen Euro), die der FBK im Jahr 2019 an Spenden erhielt, die Hälfte unter und die Hälfte über 500 Rubel lagen, wobei die durchschnittliche Summe 712 Rubel betrug (rund zehn Euro). Nawalny betont dabei stets, dass die Zahl der Zuwendungen jedes Mal merklich ansteige, wenn die Behörden die Büros der Organisation und ihrer Mitarbeiter durchsuchen und Computer, Kameras und Drohnen beschlagnahmen. Auch aus diesem Grund ist Nawalnys Team stets darauf bedacht, alle Repressionen so öffentlichkeitswirksam wie möglich zu kommunizieren, um die Maßnahmen der Staatsmacht gegen oppositionelles Engagement offenzulegen. Mit der Stigmatisierung als „extremistische Organisation“ wird das Finanzierungsmodell aber wohl zwangsläufig einbrechen: Allen, die sogenannte „extremistische Tätigkeit“ finanzieren, droht eine Haftstrafe von bis zu acht Jahren.

Ob der FBK tatsächlich die beste Ermittlungsorganisation in Russland ist, sei dahingestellt. Es ist jedenfalls bisher keiner anderen Organisationen gelungen, die Informationshoheit der staatsnahen Massenmedien so nachhaltig zu unterlaufen und dabei gut recherchierte Inhalte über einen wunden Punkt des politischen Systems zu verbreiten. Der FBK ist dem Kreml daher offenbar alles andere als egal.

 

Aktualisiert am 10.08.2021


1.Der russische Ableger der BBC veröffentlichte im August 2020 eine detaillierte Reportage über die Art und Weise, wie der FBK ohne seine Gallionsfigur Nawalny arbeitet, als dieser infolge seiner Vergiftung im Koma lag. 
2.navalny.com: Roberto Fabio Monda Kardenas Vladimirovič 
3.bbc.com: Soratnik Naval'nogo: "Ljuboe real'noe rassledovanie privedet k tomu, čto oni vyjdut na samich sebja" 
4. Fond bor'by s korrupciej: Finansovyj otčet: Otčet za 2019 god 
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