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Endkampf gegen die Realität

Er lebt in einer anderen Welt – das soll Angela Merkel wenige Tage nach der Angliederung der Krim 2014 in einem Telefonat mit Barack Obama über Wladimir Putin gesagt haben. Acht Jahre später führt letzterer einen offenen Krieg gegen die gesamte Ukraine, der bereits jetzt tausende Menschen in den Tod und über eine Million in die Flucht getrieben hat. 

In einem wütenden und zugleich selbstkritischen Meinungsstück auf Meduza schreibt der Journalist Maxim Trudoljubow über eine Welt der Lüge, mit der Putin sich selbst und sein Land vergiftet habe und nun die Ukraine in eine Katastrophe stürzt. 

Источник Meduza

Während all der Jahre unter Putin hat die russische Regierung einen erbitterten, aggressiven Kampf gegen die gesellschaftliche Realität geführt. Die politischen Verwaltungsbeamten (Verwalter, nicht Politiker, denn niemand hat sie gewählt) sind gegen jegliche Unabhängigkeit und jeglichen Aktivismus vorgegangen und haben Politiker und Journalisten mit einem eigenen Standpunkt aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Ihre Plätze wurden von Figuren eingenommen, deren Aufgabe darin bestand, Aktivität zu heucheln und den Schein zu wahren. Die Manager der Präsidialadministration haben dafür gesorgt, jede selbstorganisierte Partei, Gruppe und Struktur in künstliche, kontrollierte Zellen umzuwandeln.

Wie die Zerstörung der Gesellschaft zum Krieg führt

Alles Echte ist für andersartig, ausländisch, fremd, extremistisch und sogar „terroristisch“ erklärt worden. Erinnern wir uns an das Netzwerk, das Alexej Nawalny erschaffen hat – eine Organisation, die einen politischen, gewaltlosen Kampf gegen das Regime führte und aus diesem Grund für kriminell erklärt wurde.

Was die Zerstörung betrifft, waren die Erfolge der Manager beeindruckend. Zugegeben, doch wir sollten nicht vergessen, dass diese „Erfolge“ mithilfe von gezielten Morden, Repressionen und der Vertreibung von Menschen aus dem Land erzielt wurden. Gesichtslose Verwaltungsbeamte, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter der jeweiligen politischen Leitung im Kreml – Wladislaw Surkow, Wjatscheslaw Wolodin, Sergej Kirijenko – tätig waren, haben das Feld in enger Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten gesäubert. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in der Tat erschreckend.

Denken wir an die inhaftierten Aktivisten. Denken wir an all jene, die das Land verlassen mussten, und an die, die ihre öffentliche Tätigkeit eingestellt haben, nachdem sie sämtliche mit ihr verbundenen Risiken nüchtern abgewägt hatten. Vergessen wir auch nicht die ermordeten Politiker, Journalisten und Bürgerrechtler, wer auch immer für ihren Tod unmittelbar verantwortlich sein mag.

Putins Verwalter wollten nicht nur die Zivilgesellschaft kontrollieren, sondern auch die Ergebnisse im Sport. Die Logik des fairen Wettbewerbs wurde untergraben: Der Leader glaubte offensichtlich nicht daran. Russische Sportler mussten um jeden Preis besser sein als alle anderen. Deshalb wurde der Wettkampf durch ein Dopingprogramm ersetzt, das dem Leader ein Bild von durchschlagendem Erfolg malen sollte. Bei den Olympischen Winterspielen 2014 ging es um das Projekt, garantiert zum Sieg zu gelangen. Die Steuerung der Spiele wurde schließlich von einem Überläufer aufgedeckt, von dem Ex-Leiter des Moskauer Antidopinglabors Grigori Rodtschenko. Dank ihm verfügen wir über ein detailliertes Bild dieser beschämenden Geschichte.

Etwas zu erschaffen ist mit kriminellen Methoden deutlich schwieriger als etwas zu zerstören

Etwas zu erschaffen ist mit kriminellen Methoden deutlich schwieriger als etwas zu zerstören. Deshalb wirkte das Putinsche Theater beim Versuch, eine tote Alternative zu einer lebendigen Gesellschaft aufzubauen, wie ein offensichtlicher Reinfall. Diejenigen, die uns zu den „Anderen“ (den „Ausländischen“, „Unerwünschten“) gemacht haben, haben im Grunde nie selbst etwas erschaffen, aus eigener Initiative, aus Inspiration oder dem Ruf ihres Herzens folgend. Und deshalb ist es ihnen auch nicht gelungen, ihren eigenen öffentlichen Bereich zu erschaffen – ihren eigenen offenen Raum für Diskussionen, ihre eigene Politik, eine glaubwürdige Meinungsforschung, Soziologie und Politikwissenschaft, ihre eigene Opposition und Presse.

Alternative Wirklichkeit

Ihre alternative Wirklichkeit wirkt wie das Zerrbild einer lebendigen Öffentlichkeit: Clowns anstelle von Politikern, Imitationen anstelle von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Propagandisten anstelle von Journalisten und Analytikern. Man konnte leicht damit leben: Die Clowns musste man nicht wählen, die Pseudoanalytiker nicht lesen, Kisseljow und Solowjow nicht anhören – denn diese Figuren entbehrten jeden eigenständigen Denkens. Sie waren schlechte Schauspieler, die einen fremden Text herunterbeten, Instrumente in einem grobschlächtigen politischen Spiel. Alles war dermaßen grob zusammengeschustert, dass man fest überzeugt war: Das Kartenhaus fällt in sich zusammen, sobald sich der Klammergriff der Sicherheitsorgane lockert. Der Grund für eine solche Lockerung hätte, wie auch ich annahm, ein natürlicher Prozess sein können – eine ökonomische Krise, die sinkende Popularität des Leaders, ein Generationenwechsel in den Machtstrukturen.

So eine Krise hätte die künstlichen Figuren vom Feld gefegt: Die sogenannten „Politiker“ und „Journalisten“ (ja, genau, in Anführungszeichen) wären einfach von der Bildfläche verschwunden, denn sie funktionieren wie Maschinen, nur so lange, wie sie vom Staat gespeist werden. Die Bürger Russlands wären aus ihrer Verblendung erwacht und hätten mitangesehen, wie die Kulisse in sich zusammenstürzt. Wie geht doch gleich das Ende von Alice im Wunderland: Der König, die Königin, die Ritter und Richter verwandeln sich mit einem Schlag in Spielkarten. Oder das Finale von Nabokovs Einladung zur Enthauptung: „Ein Wirbelwind packte und ließ kreiseln: Staub, Lumpen, Splitter aus bemaltem Holz, Stücke vergoldeten Stucks, Pappziegel ...“

Putins alternative Wirklichkeit nicht ernstzunehmen, war ein weitverbreiteter, tragischer Fehler, ein Fehler, den auch ich begangen habe

Doch heute bringen Raketen, Granaten und Bomben den Ukrainern und Russen den ganz realen Tod. Der Wirbelwind, der heute über das Territorium der Ukraine fegt, ist echt, die Splitter und Ziegel sind echte Splitter und Ziegel. Putins alternative Wirklichkeit nicht ernstzunehmen, war ein weit verbreiteter, tragischer Fehler, ein Fehler, den auch ich begangen habe. Diese Politik als virtuell wahrzunehmen war trügerisch. Das Bühnenbild entpuppte sich nicht als vergoldeter Stuck, die Ziegel nicht als Pappziegel. Im Gegenteil: Die von billig angeheuerten Malern bemalten groben Bühnenbilder erwachen zum Leben und werden zu Tod und Leid.

Ich bekenne mich zutiefst der eigenen Unfähigkeit bei dem Versuch, die Kulisse herunterzureißen, als es noch möglich war – vor dem Krieg. Ich war überzeugt, dass sie von alleine fallen würde.

Wie eine Weltanschauung die Welt zerstören kann

Zu glauben, dass Leben, Gewissen, Talent und Anerkennung käuflich sind, ist eine minderwertige, verachtenswerte Sicht auf die Welt. Aber sie ist kein unschuldiger Fehler. Der Mann, der einst zu der Überzeugung gelangt war, dass alles käuflich und verkäuflich ist, dass man eine Gesellschaft okkupieren, unterwerfen und an ihrer Stelle seine eigene, mit Geld erkaufte Realität erschaffen kann, hat nicht nur sein Land, sondern die ganze Welt in eine Katastrophe gestürzt.

Er hat nicht nur an seine, von ihm bezahlte Realität geglaubt, sondern sie zur Grundlage seines Handelns in der wirklichen Welt gemacht. Es ist nun klar, dass sein Plan einer kurzen Militäroperation im Bruderland auf dieser von ihm selbst geschaffenen Fiktion basierte. Offensichtlich hatte er erwartet, dass die Anwendung von Gewalt durch den „echten“ – also „seinen“ – Staat zum sofortigen Zusammenbruch des „unechten“ ukrainischen Staates führen würde. Er dachte, er hätte es mit einer Kulisse zu tun, errichtet im Auftrag von irgendwelchen feindlichen Kräften – Amerikanern, Europäern, denen er Verhalten nach seiner Manier unterstellt. Er hatte offenbar geglaubt, dass sich seine künstlich geschaffenen „Umfragewerte“ in eine echte Zustimmung seitens der russischen Gesellschaft verwandeln würden. Dass alle an die Mär von den ukrainischen „Faschisten“ und seine Mission als Befreier glauben würden. Offenbar hat er den ihn umgebenden Speichelleckern Glauben geschenkt und angenommen, Russland wäre bereit für Krieg und Sanktionen.

Putin hat sich eingeredet, die ukrainische Gesellschaft wäre genau so ein Theater wie das, zu dem er die eigene russische Gesellschaft gemacht hat

Putin hat sich eingeredet, die ukrainische Gesellschaft wäre genau so ein Theater wie das, zu dem er die eigene russische Gesellschaft mithilfe von Morden und Einschüchterungen gemacht hat. Er hat geglaubt, die Ukrainer – von den einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld bis zur ihm verhassten obersten Staatsführung – würden sich in Spielkarten verwandeln und seine Macht anerkennen. Der ukrainische Präsident – ein Comedian, der Bürgermeister von Kiew – ein Boxer. Wer sind die überhaupt? Offenbar hat er ernsthaft daran geglaubt, er sei der heutigen Ukraine und der ganzen demokratischen Welt psychologisch und moralisch überlegen. Sein defektes Bild von der Welt hat ihm die Sicht darauf verstellt, dass seine ganze „Überlegenheit“ eine Erfindung seiner eigenen Hofnarren ist. Sein Fernsehprogramm und seine Presse hatte jahrelang nur einen Auftraggeber und einen einzigen wirklichen Zuschauer – ihn selbst. Er hat sich selbst mit seiner eigenen Lüge vergiftet.

Möglicherweise steht er vor der Entscheidung, ob er alle Zerstörungswaffen einsetzt. Das würde zu mehr Leid und Tod führen. Aber im Kern nichts verändern

Er ist moralisch kein bisschen überlegen, niemandem. Die einzige Überlegenheit besteht in seiner militärischen Stärke. Aber um diese Überlegenheit auszuspielen, braucht es eine klare Mission, Zusammenhalt und das Bewusstsein, im Recht zu sein. Eine klare Mission, Zusammenhalt und das Bewusstsein, im Recht zu sein, haben in diesem Krieg jedoch nur die Ukrainer. Möglicherweise steht er gerade vor der Entscheidung, ob er alle Zerstörungswaffen, die ihm zur Verfügung stehen, einsetzt oder nicht. Das würde zu noch mehr Leid und Tod führen. Aber im Kern nichts verändern.

Sein Krieg gegen die Realität hätte seine Privatsache bleiben müssen. Wenn du in Groll und Zorn auf die ganze Welt leben willst, dann tu das, so lange du willst. Doch er hat dem russischen Volk seine Anwesenheit mit Gewalt, Manipulation und Lüge  aufgedrängt. Jahrelang hat er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine „Umfragewerte“ hoch gehalten. Indem er mit Gewalt und Drohungen die russische Gesellschaft an sich band, hat er die Identität des eigenen Volkes entwertet, das einst Seite an Seite mit den Ukrainern in einem gemeinsamen und gerechten Krieg gekämpft hat.

Russland hat diesen Krieg moralisch verloren, indem es ihn begann

Er hat nicht nur sich selbst vergiftet, sondern auch Russland. Er hat den Weg geebnet für jene Verachtung, mit der die Welt nicht nur auf ihn schauen wird, sondern auch auf uns, die russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Noch viele Jahre werden wir die Welt nicht davon überzeugen können, dass „wir nicht so sind“, dass „wir das nicht waren“. Noch viele Jahre – nach Putin – werden wir in Russland eine Gesellschaft aufbauen müssen, die frei ist von politischen Kulissen und Fiktionen.

Russland hat diesen Krieg moralisch verloren, indem es ihn begann. Ganz unabhängig vom Kampfgeschehen: Russland hat diesen Krieg verloren, als politische, ökonomische und gesellschaftliche Einheit, als Land, als Teil der Welt. Es war immer ganz normal, das Wort „Krieg“, ohne es genauer zu bestimmen, mit dem Großen Vaterländischen Krieg zu assoziieren. Jetzt hat dieses Wort eine neue Bedeutung bekommen. Es ist ein Krieg ohne genauere Bestimmung, ohne Adjektive. Es ist der Krieg, den er entfacht hat, mit dem er mich und alle Russen verantwortlich gemacht hat für die von ihm geschaffene Katastrophe.

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Russland und Europa

Wie sonst nur Großbritannien hadert Russland mit seinem schwierigen Verhältnis zu Europa. Die britische splendid isolation findet ihr Gegenstück in der geographischen Teilung Russlands in ein europäisches und ein asiatisches Territorium. Kulturell und politisch gibt es mehr Fragen als Antworten. Der russische Begriff Jewropa ist keineswegs eindeutig und kann verschiedene, ja gegensätzliche Konnotationen aufweisen. Das Präfix jewro- – etwa in den Wörtern jewroremont (Euro-Renovierung) oder jewroobuw (Euro-Schuhe) – impliziert spätestens seit den 1990er Jahren hohe, „nicht-sowjetische“ Qualität. Wenn man in Russland „wie in Europa“ leben will, dann ist das positiv gemeint, und „europäische Luft“ gilt als Synonym für Freiheit. Gleichzeitig gibt es in Russland eine lange Denktradition, die Europa fehlende Spiritualität, Krämergeist und politische Schwäche vorwirft. Verbreitet ist auch die Vorstellung, Russland habe Europa vor dem Mongolensturm beschützt und die europäischen Usurpatoren Napoleon und Hitler besiegt.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Die Frage „Gehört Russland zu Europa?“ erhitzt bis heute die Gemüter der Intellektuellen. Neben das faktische Problem tritt das normative. Ebenso intensiv wird die Frage „Soll Russland zu Europa gehören?“ diskutiert.

Fenster nach Europa

Russlands Verhältnis zu Europa wurde von Peter dem Großen (1672–1725) zuoberst auf die politische Tagesordnung gesetzt. Seine Reformen revolutionierten das alte Ständesystem, indem die Rangtabellen für den Staats- und den Militärdienst eingeführt wurden. Damit wurden die sozialen Hierarchien nicht mehr durch Familientraditionen, sondern durch bürokratische Beförderungssysteme definiert. Gleichzeitig hielt die westeuropäische Kultur Einzug in Russland – am augenfälligsten waren die Neuerungen in der Mode und in der Architektur.

Die 1703 gegründete neue Hauptstadt St. Petersburg, die äußerlich den westeuropäischen Hauptstädten sehr ähnlich ist, wird nach Puschkins Formulierung oft als „Fenster nach Europa“ bezeichnet. Dieser bekannte Ausdruck ist aber selbst zum Gegenstand von Sprachwitzen geworden:: „Peter der Große hat doch ein Fenster eingeschlagen, aber keine Tür: Gucken darfst du, aber nicht hinausgehen“.1

Wohlgemerkt betrafen Peters Reformen vor allem den Adel. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte ein aristokratischer Russe mehr mit seinem französischen Standesgenossen gemein als mit einem russischen Bauern. Um die adlige Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhundert realitätsgetreu darzustellen, baute etwa Leo Tolstoi mehrere Dialoge auf Französisch in seinen Roman Krieg und Frieden ein.

Abklatsch westlicher Vorbilder

Die Verdienste der petrinischen Reformen und „Zwangseuropäisierung“ wurden später zum Gegenstand einer tiefen Reflexion. Napoleons Moskaufeldzug 1812 führte in Russland zur Ausarbeitung einer eigenständigen Nationalkultur.
Die Forcierung der russischen Kulturautonomie stieß bald auf vehemente Kritik. Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich die im Entstehen begriffene russische Philosophie vornehmlich mit dem Thema Russland und Europa. Den Ton gab Pjotr Tschaadajew vor.  Sein Erster Philosophischer Brief erschien im Jahr 1836 und war nach Alexander Herzens berühmter Formulierung ein „Schuss in dunkler Nacht“. Auf Französisch kritisiert Tschaadajew die russische Kultur, die nichts Eigenständiges hervorgebracht habe und nur einen Abklatsch westlicher Vorbilder darstelle. Tschaadajew wurde wegen seiner radikalen Russlandkritik von den zaristischen Behörden für verrückt erklärt. Diese Kontroverse steht am Anfang der Debatte zwischen den sogenannten Slawophilen und Westlern, die das gesamte 19. Jahrhundert beschäftigte. Die Spätfolgen wirken noch in den heutigen Diskussionen um Russlands kulturelle Identität nach.

Die Slawophilen und die Westler sind jedoch nur auf den ersten Blick eingeschworene Gegner. Wie komplex die ideologischen Positionen sind, zeigt etwa die Tatsache, dass eine berühmte slawophile Literaturzeitschrift den Titel Der Europäer trug, während ein einflussreiches westliches Organ Vaterländische Aufzeichnungen hieß. Ihre Argumentationsstrukturen sind ähnlich.2 Beide Bewegungen weisen deutlich mehr Ähnlichkeiten miteinander auf, als mit der Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die mit dem Namen des Bildungsministers unter Nikolaus I. Sergej Uwarow verbunden ist: So verstehen sich beide Seiten als russische Patrioten und treffen sich in der Diagnose, dass Russland reformbedürftig sei. Uneinig sind sie sich nur in der Therapie: Die Slawophilen rufen zur Rückkehr zu den eigenen Wurzeln auf, während die Westler den Anschluss an das fortgeschrittene Europa fordern. Für die Slawophilen wird dabei gerade die kulturelle Rückständigkeit zum Vorteil: Das „alte“ Europa habe bereits den verderblichen Weg des Rationalismus, Individualismus und Kapitalismus eingeschlagen, während das ungeformte Russland noch bereit sei, sich seiner höheren Berufung zu stellen. 

Russland als neuer Kulturtyp

Am detailliertesten hat Nikolaj Danilewski (1822–1885) diese Theorie ausgearbeitet, auch wenn er nicht stellvertretend für alle Unterbewegungen der Slawophilen stehen kann. In seiner umfangreichen Untersuchung Russland und Europa (1869) identifiziert er zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur „germanisch-romanischen Kultur“ der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor: Es stellt für Danilewski die letzte Synthese dar, die alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte zusammenführen und abschließen wird. 

Aus dieser Perspektive erscheint Russland in einer Doppelrolle: Es erlebt erstens eine eigene Heilsgeschichte jenseits westlicher Ideale. Dadurch wird es zweitens zum erlösenden Vorbild für das fehlgeleitete Europa. Der russische Messianismus gehört zu den romantischen Denkfiguren, die sich im 19. Jahrhundert auch bei Tjutschew oder Dostojewski nachweisen lassen.3 Noch im 20. Jahrhundert bekannten sich Autoren wie Nikolai Berdjajew oder Alexander Solschenizyn zu dieser Idee. 

Der Topos einer vorteilhaften Rückständigkeit Russlands war auch für marxistisch inspirierte Philosophen und Politiker sehr attraktiv. Lenin und Trotzki gingen am Ende des Ersten Weltkriegs davon aus, dass in den industrialisierten Ländern Europas Schlag auf Schlag Revolutionen folgen würden. Die alten Nationalstaaten würden untergehen und neuen sozialistischen Gesellschaften Platz machen. Pikanterweise erfuhr der traditionelle russische Messianismus hier eine marxistische Umdeutung: Die Revolution im unterentwickelten Russland sollte den Befreiungskampf der Proletarier aller Länder einleiten.4 So schien kurz nach dem Oktoberumsturz 1917 das Problem „Russland und Europa“ gelöst zu sein.

Gemeinsames europäisches Haus

Mit neuer Intensität wurde über Zugehörigkeit Russlands zu Europa zu Beginn der 1990er Jahre debattiert, als zwei Europabilder gegeneinander ausgespielt wurden. Europa war aus der ersten Perspektive ein Vorbild für Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie, das von Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in „drei Fünfjahresplänen“ erreicht werden sollte. Die zweite Perspektive lehnte das westlich geprägte Europa als fremd ab und hob die eurasische Qualität Russlands hervor: Damit wäre Russland ein eigener europäischer Zivilisationstypus, der gerade nicht in das westliche Muster überführt würde.5

Diese Diskussionen gingen zurück auf Wortmeldungen der letzten Generalsekretäre der Sowjetunion. Berühmt geworden ist Michail Gorbatschows Wendung „unser gemeinsames europäisches Haus“, die er 1984 in einer Rede vor dem britischen Parlament6 und später am epochalen Gipfeltreffen mit Ronald Reagan 1986 in Reykjavik7 prägte.8 Gorbatschow machte aus dieser diplomatischen Floskel auch ein politisches Programm, dem noch in den 1990er Jahren gefolgt wurde. 

Auch zu Beginn der Präsidentschaft Putins hatte der Ausdruck „unser gemeinsames Haus Europa“ noch seine Gültigkeit. Präsident Putin setzte ihn 2001 in seiner berühmten, auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Bundestag ein.9 Dieser versöhnliche Kurs wurde allerdings 2007 aufgegeben, als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine schärfere Gangart Russlands ankündigte. 

Gayropa

In der Ära Putin kann man im staatsnahen öffentlichen Diskurs eine wachsende Abgrenzung von Europa beobachten. Russische Nationalisten verwenden oft den Begriff Gayropa. Damit soll signalisiert werden, dass Europa seine traditionellen Werte aufgegeben habe und sich von Minderheiten bestimmen lasse. Eine ähnlich polemische Wortbildung ist der Begriff „Liberasten“. Die liberale Grundhaltung der westlichen Gesellschaften hat sich aus dieser Sicht selbst ad absurdum geführt: Wer sogar „Päderasten“ toleriert, gibt seine europäischen Identität auf.

Auch akademische Philosophen beschäftigen sich etwa mit der Frage, warum eine europäische „Ideologie“ wie der Liberalismus für Russland schädlich sei. So weist der Petersburger Politikwissenschaftler Wladimir Gutоrow (geb. 1950) in einer langen Einleitung zu einem Band mit dem Titel Liberalismus. Pro et contra (2016) darauf hin, dass liberale Politiker etwa in der Provisorischen Regierung 1917 und unter Jelzin in den 1990er Jahren „die russische Staatlichkeit an die Grenze zur Katastrophe“ gebracht hätten.10 

Der langjährige Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, kündigte in seinem Artikel für das regierungsnahe Journal Russia in Global Affairs den Anfang einer andauernden Einsamkeit Russlands an und suchte nach einem „dritten Weg“, einem „dritten Zivilisationstypus“, einem „dritten Rom“.
Die Ablehnung der europäischen Kultur taucht auch in offiziellen Dokumenten wie den Grundlagen der Kulturpolitik der Russischen Föderation (2015) auf. Die „Erhaltung eines einheitlichen Kulturraums“ wird als oberstes Ziel genannt. 

Wie wirksam dieser Diskurs ist, ist unklar. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt jedenfalls, dass die Zustimmung zur Aussage „Russland ist ein europäisches Land“ 29 Prozent beträgt. Im Jahr 2008 erreichten die entsprechenden Werte noch 56 Prozent.11
Es scheint, dass das Fenster, das Peter der Große geöffnet hatte, langsam wieder zugeht. 

 

Aktualisiert am 21.12.2021


1.Es handelt sich um eine Anmerkung des Künstlers Ivan Kuskov (1927–1997), die vom Literaturwissenschaftler Michail Gasparov aufgeschrieben wurde, vgl.: Gasparov, Michail (2001) Zapiski i vypiski, Moskau
2.Uffelmann, Dirk (1999): Die russische Kulturosophie: Logik und Axiologie der Argumentation. Frankfurt am Main, S. 389 
3.Schelting, Alexander von (1948): Russland und Europa im russischen Geschichtsdenken, Bern, S. 180-187
 4.Albert, Gleb J. (2017): Das Charisma der Weltrevolution: Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917-1927, Köln, Weimar, Wien, S. 74-87 
5.Neuman, Iver B. (1999):  Uses of other. "The East" in European identity formation. Minneapolis, S. 165f.
6.Šlykov, Konstantin V. (2014): Pervyj vizit M. S. Gorbačeva v Velikobritaniju: Vzgljad čerez 30 let, in: Vestnik MGIMO-universiteta, 35, S. 99
7.Gorbačev, Michail (2008): Sobranie sočinenij, IV, Moskva, S. 134
8.Weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass der Ausdruck bereits von Leonid Breshnew 1981 bei einer Rede in Bonn und von Außenminister Andrej Gromyko an einer Pressekonferenz ebenfalls in Bonn 1983 verwendet wurde. Gromyko, Andrej A. (1984): Leninskim kursom mira, Moskva, S. 461
9.Kremlin.ru: Vystuplenie v bundestage FRG
10.Gutorov, V. A. (2016): Rossijskij liberalizm kak istoričeskij i političeskij fenomen: ot utopii k real'nosti, in: Liberalizm: Pro et contra: Russkaja liberal'naja tradicija glazami storonnikov i protivnikov: Antologija, Sankt-Peterburg, S. 14
11.Levada.ru: Rossija i Evrosojuz; Rossija i Evropa

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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