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Gefängnis oder Tod

Im August soll der Prozess gegen die drei Schwestern Chatschaturjan beginnen. Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan wird vorgeworfen, ihren Vater Michail vorsätzlich ermordet zu haben. Mit einem Messer hatten sie auf den Schlafenden eingestochen, 36 Messerstiche werden später gezählt. Den Schwestern drohen nun bis zu 20 Jahren Haft.

Der Fall Chatschaturjan hat in Russland für heftige Debatten über häusliche Gewalt gesorgt. Der Journalist Pawel Kanygin hatte für die Novaya Gazeta ausführlich darüber berichtet. Was seine Recherchen zutage brachten, liest sich schrecklich: Der Vater, der auch gewalttätig gegen die Mutter der jungen Frauen gewesen war, hatte diese sowie den gemeinsamen Sohn aus dem Haus gejagt. Seit 2015 wohnte er mit seinen drei Töchtern alleine. Diese schildern jahrelangen psychischen und physischen Missbrauch und Folter. Die jüngste der drei Schwestern soll versucht haben, sich umzubringen. Nachdem er ihnen wegen Unordnung in der Wohnung Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte, ermordeten sie ihn.

Es gibt Stimmen, die den Vater verteidigen, der lediglich versucht habe, seine Töchter streng zu erziehen. Auch unter dem Verweis auf „traditionelle Werte“ war in Russland 2017 das Strafmaß bei häuslicher Gewalt gemindert worden. 
Opferschutzverbände, aber auch viele Prominente dagegen verteidigen die drei Schwestern, argumentieren, dass sie nach jahrelangem Missbrauch aus Notwehr handelten. 

Olga Romanowa, renommierte Journalistin und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Rus Sidjaschtschaja, stellt sich ebenfalls hinter die drei Mädchen: Warum holten sie keine Hilfe von außen, warum wandten sie sich nicht an die Polizei? Auf Forbes Women wirft Olga Romanowa genau diese Fragen auf – und legt dar, weshalb.

Источник Forbes

Die Schwestern Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan sind des Mordes an ihrem Vater Michail Chatschaturjan (57) angeklagt. Bei der Vernehmung gestanden sie die Tat und berichteten vom systematischen Missbrauch durch den Vater. Der Strafrechts-Paragraph wegen vorsätzlichen Mordes nach Absprache, der in ihrem Fall zur Anwendung kommen soll, sieht bis zu 20 Jahre Freiheitsentzug vor.  

Vorrede

Szenario 1: Es ist spät abends. Sie sind unterwegs nach Hause und werden im Treppenhaus überfallen. Sie schubsen den Angreifer weg, er knallt mit der Schläfe gegen eine Fensterbank und stirbt.

Szenario 2: Ihr beinahe Ex-Mann zieht aus und packt seine Sachen, er ist nervös, hat getrunken, er brüllt, Sie hätten sein Leben ruiniert, und er versucht Ihnen eine Ohrfeige zu verpassen – es ist nicht das erste Mal, doch nun ist er beim Waffenschrank angelangt, wo er sein Jagdgewehr aufbewahrt, richtet es plötzlich auf Sie und legt schon eine Patrone ein. Da schwingen Sie seinen Golfschläger. Er fällt um, Sie rufen die Polizei. 

Und dann?

Dann kommen Sie ins Gefängnis. Ohne jeden Zweifel. Selbst wenn Sie die besten Anwälte haben, die es schaffen, einen Hausarrest zu erwirken oder eine schriftliche Erklärung, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Doch früher oder später kommt es zum Prozess, und Sie bekommen eine Haftstrafe. Und zwar nicht auf Bewährung.

Sie bekommen eine Haftstrafe – und zwar nicht auf Bewährung

Ihre Anwälte und Sie werden argumentieren, es sei Notwehr gewesen und Sie hätten keine Wahl gehabt. Während die Staatsanwaltschaft argumentieren wird, Sie hätten die Grenze der Notwehr überschritten. 

Hatten Sie im ersten Fallbeispiel andere Handlungsmöglichkeiten? Aber sicher doch. Sie hätten im Treppenhaus versuchen können mit dem Angreifer zu reden, sie hätten ihm Pestalozzi zitieren können, oder zur Not auch etwas aus dem Matthäusevangelium. Er wäre sicher einsichtig gewesen. Aber Sie haben es nicht einmal versucht. 

Warum mussten Sie den Angreifer denn so schubsen, dass er mit der Schläfe auf der Fensterbank aufschlägt? Man hat Ihnen beim Selbstverteidigungskurs und im Sportunterricht in der Schule doch genau einmal gezeigt, wie man einen Angreifer mit einem Schulterwurf außer Gefecht setzt und fixiert. Warum haben Sie diese simple Technik der Selbstverteidigung nicht angewandt? 

Und was hatten Sie eigentlich an? Keine dicken Strumpfhosen? Na, da sehen Sie mal! Sie waren an einem Samstagabend allein nach Hause unterwegs, in einem Rock! Sie haben ihn provoziert! 

Sie hatten keine dicken Strumpfhosen an?

Und im zweiten Fall mit Ihrem Ehemann ist Ihre Absicht von Anfang an klar: Er hatte Gütertrennung  eingefordert und Sie waren nicht einverstanden? Haben Sie ihn aus Notwehr geschlagen, oder war es vorsätzlicher Mord aus Habgier? Sie wollten Ihr Vermögen nicht aufteilen, deswegen haben Sie ihn provoziert, als er ganz friedlich dabei war, sein Gewehr einzupacken, und haben ihn geschlagen.

Es wird einen Schuldspruch geben. Darin wird unweigerlich folgende Wendung vorkommen, die wichtigste für Sie: „Die Angeklagte hätte auf eine sozialverträgliche Weise handeln müssen.“ 

Also versuchen, den Angreifer in ein klärendes Gespräch zu verwickeln. Den Bezirkspolizisten informieren. Sich an die Hausverwaltung wenden. Einen Brief an den Abgeordneten schreiben. Oder Maßnahmen der Selbstverteidigung anwenden, die keine schweren gesundheitlichen Folgen für den Angreifer nach sich ziehen. 

Das alles haben Sie nicht getan – also ist es Totschlag oder vorsätzlicher Mord (möglich im zweiten und dritten Fall), und Sie bekommen zehn Jahre. 

Totschlag oder vorsätzlicher Mord – und man bekommt zehn Jahre

Wie viele solcher Fälle gibt es? In den letzten zwei Jahren wurden etwa 3000 Frauen wegen Mordes unter genau solchen Umständen verurteilt. Wobei es sich in den meisten Fällen um Mord am Ehemann, Lebenspartner oder einem männlichen Verwandten handelt, und zwar beim Versuch der Frauen, sich vor Missbrauch zu schützen. 
Gleichzeitig sterben jedes Jahr circa 8500 Frauen bei gewaltsamen Übergriffen. Das sind diejenigen, die keinen Golfschläger, kein Messer zur Hand oder nicht genug Kraft hatten, den Angreifer gegen eine Fensterbank zu schubsen. Demnach hat eine Frau immer die Wahl: Sterben oder für zehn Jahre ins Gefängnis gehen.

Aber schauen wir uns doch mal an, welche „sozialverträglichen Methoden“ es gibt, sich vor Missbrauch zu schützen, ohne radikale Maßnahmen zu ergreifen. Das wird nicht lange dauern. Gar keine gibt es. Gesetzlich ist eine Frau, die angegriffen wird, durch nichts geschützt. Unabhängig davon, ob sie sich wehrt oder nicht. Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis, wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst umgebracht.

Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis. Wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst du umgebracht

Sehen wir uns noch einmal die Statistik an. Ich will vorausschicken:  Wir gehen Schritt für Schritt vor. 

Wo und wie werden Frauen ermordet? Angriffe durch einen Fremden und Notwehr, die den Tod des Angreifers nach sich zieht, sind selten. Meistens (unabhängig ob Mörder oder Mörderin, hier spielt das Geschlecht einmal keine Rolle) kannten sich Täter und Opfer. 
Handelt es sich allerdings um eine Mörderin, ist das Opfer der Ehemann, Partner oder ein männlicher Verwandter, und der Grund für den Mord ist immer derselbe: häusliche Gewalt.

2012 verzeichnete das Innenministerium 34.000 Opfer von häuslicher Gewalt. Fünf Jahre später hat sich die Zahl fast verdoppelt: 65.500 Opfer allein im Jahr 2016. Aber 2017 hat sich die Opferzahl signifikant verringert auf 36.000. 2018 waren es noch weniger. Warum? Weil ein Gesetz zur Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet wurde. Konnte man bis 2017 für die Misshandlung seiner Frau noch ins Gefängnis kommen, so gibt es heute nur noch eine Geldstrafe, die kaum höher ist als fürs Parken im Parkverbot. Nicht auszuschließen, dass sich das Verhältnis der beiden dadurch nur noch verschlechtert, und ob die Frau ihren Mann beim nächsten Mal anzeigen wird, ist mehr als fraglich. 

Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? 

Es gibt also abertausende Fälle von häuslicher Gewalt, die nicht zur Anzeige gebracht und damit nicht erfasst werden. Welchen Sinn hat es, Anzeige zu erstatten, wenn du selbst dafür bestraft wirst? Der Staat wird dich nicht schützen. Die NGOs und Vereine, die Hilfe bieten könnten und es auch tun, stehen selbst unter Beschuss und gelten größtenteils als ausländische Agenten. Zudem haben NGOs nicht das Recht, dem Täter ein Kontaktverbot aufzuerlegen oder einer Mutter das alleinige Sorgerecht zu erteilen, während kompetente Behörden entscheiden, was mit dem Gewalttäter zu tun ist. Solche Behörden gibt es bei uns nämlich nicht. 

Zudem wird jegliche Nötigung, Erniedrigung oder Folter, die nicht mit physischer Gewalt einhergeht, gar nicht erst strafrechtlich verfolgt. Im Gesetz tauchen sie nicht einmal auf.

Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? Dafür gibt es mindestens drei Gründe.

Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten

Der erste ist finanzieller Natur. Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten. Dafür bräuchte man einstweilige Verfügungen, die dem Täter verbieten, das Opfer zu kontaktieren, müsste eine Behörde einrichten, die diese verhängt und deren Einhaltung kontrolliert (so ein System funktioniert in 119 Ländern, aber nicht bei uns). Man müsste staatliche Einrichtungen schaffen, die die Opfer aufnehmen können, die sich oft plötzlich mit ihren Kindern ohne Dach überm Kopf wiederfinden. Solche Einrichtung gibt es in Russland, allerdings nur durch private Initiativen, unterhalten werden sie durch Stiftungen und Spenden.

Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit 

Der zweite ist ein außenpolitischer Grund. Russland hat die Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung häuslicher Gewalt nicht ratifiziert. Die Nichtunterzeichnung der Konvention war offensichtlich eine Reaktion auf die verschärfte Situation zwischen Russland und Europa nach den Sanktionen. 

Ein weiterer außenpolitischer Grund für die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt war die Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit über die Aufhebung jeglicher Formen der Diskriminierung von Frauen – eine entsprechende Konvention der Vereinten Nationen wurde noch 1982 durch die UdSSR unterzeichnet. Die Entkriminalisierung hat signifikant dazu beigetragen, diese Statistik zu „korrigieren“. 

Sehen Sie? Da sehen Sie’s doch! In Russland hat sich die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in nur einem Jahr – von 2017 bis 2018 – halbiert. Das liegt daran, dass wir die Diskriminierung von Frauen so effektiv bekämpfen, und keineswegs daran, dass wir komplett aufgehört haben, die Straftäter zu verfolgen. Sie wollten doch eine Statistik? Bitte schön, da ist sie. 

Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich

Der dritte ist ein innenpolitischer und religiöser Grund: die Russisch-Orthodoxe Kirche. „Diejenigen Menschen, die versuchen den Kern unserer Gesellschaft zu zerstören – nämlich die Familie –, handeln unter dem Vorwand des Kampfes gegen Gewalt und zum Schutzes der Schwachen“ heißt es in der Erklärung der Patriarchen-Kommission zum Schutz von Mutter und Kind, deren Vorsitz Erzpriester Dimitri Smirnow innehat. Kurzum, die konservative Position in Russland lautet jetzt tatsächlich: „Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich.“

Das alles hängt mit dem Fall der Schwestern Chatschaturjan zusammen. Damit, warum es so wichtig ist, dass wir einen fairen und öffentlichen Prozess und natürlich einen Freispruch erkämpfen. Weil es jede von uns betrifft. Weil es keine Stelle gibt, an die wir uns wenden können. Weil uns niemand schützt. Weil wir nur zwei Möglichkeiten haben: Gefängnis oder Tod. 

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Frauenstraflager

„Plötzlich durchbohrt eine Nadel mit aller Wucht deinen Nagel und dringt in den Finger ein. Fünf Sekunden lang begreift das Bewusstsein nicht, was geschehen ist. [...] Erst nach fünf Sekunden überrollt dich eine Welle aus Schmerz: Wow, schau nur, dein Finger ist auf die Nadel gefädelt. Deswegen kannst du die Hand nicht rausziehen. Ganz einfach. Vielleicht kannst du einfach fünf Minuten mit dem Finger so dasitzen, aber mehr nicht. Du musst weiternähen. Bist du etwa die erste, die sich den Finger durchsteppt? Ein Pflaster willst du? Woher denn? Du bist hier im Lager, Kleines.“1

So erinnerte sich die Kunstaktivistin Nadeshda Tolokonnikowa aus der Punk-Band Pussy Riot an die Arbeit im Straflager. Die Verurteilung von drei Mitgliedern der Band zu zwei Jahren Haft, weil sie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein Punk-Gebet aufgeführt hatten, löste weltweit Empörung und Mitgefühl aus. Das hatte nicht nur mit dem politischen Hintergrund zu tun, vor dem das Urteil fiel, sondern auch mit den Bedingungen der Lagerhaft an sich. Die Berichte der „prominenten Häftlinge“ machten vielen Menschen schlagartig bewusst, dass der Strafvollzug für Frauen im heutigen Russland nicht mit einem Gefängnisaufenthalt im üblichen Sinne zu vergleichen ist, sondern die Verbringung in entlegene Lagerkomplexe, fernab von Familie und Freunden, bedeutet. Harte Arbeit, Entbehrungen und Widrigkeiten prägen den Lageralltag.

Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen / Foto aus der Reihe „Otdelenije“ von Elena Anosova

Die spezifische (vormoderne) Einheit von Exil und Haftstrafe hat in Russland eine lange Tradition. Sie reicht bis ins frühe 17. Jahrhundert zurück, hat mehrere Systemwechsel überdauert und kulturell tiefe Wurzeln geschlagen.

Trotz gewisser Reformen und Erleichterungen des Strafvollzugs, die nach dem Ende der Sowjetunion in Angriff genommen wurden, blieben manche Merkmale des Gulags erhalten, eines umfassenden Straflagersystems, das in der Stalinzeit entstand. Dieses Erbe prägt den Strafvollzug bis heute. Dazu gehört vor allem die spezielle Lagergeographie, vorzugsweise an der Peripherie, und die damit verbundene Loslösung der Straftäter aus der ihnen vertrauten Umgebung, ihre vollständige Abschottung von der Gesellschaft. 

Exil plus Haft

Frauen sind von der doppelten Belastung durch Exil plus Haft viel häufiger betroffen als männliche Straftäter. Denn nur ein geringer Teil der rund 750 russischen Straflager sind Frauenlager, und gerade diese befinden sich durchweg an der Peripherie (zum Beispiel in Mordwinien, der Komi-Republik oder in Sibirien). Daher müssen deutlich mehr Frauen als Männer die Haft weit entfernt von ihren Heimatorten verbringen.

Nach langen strapaziösen Fahrten in speziellen Eisenbahnwaggons am entlegenen Bestimmungsort angelangt, dürfen sie pro Jahr sechs kurze (vier Stunden) und vier lange (drei Tage) Verwandtenbesuche im Jahr erhalten. Viele Angehörige können sich die zeitaufwändigen und kostenträchtigen Reisen jedoch nicht leisten. Weibliche Häftlinge kommen seltener in den Genuss, weil insbesondere Ehemänner weniger geneigt sind, die Haftzeit durch Besuche zu mildern und gemeinsam auf die Freilassung zu warten. Viele lassen sich schnell scheiden, ohne die bestehenden Kontaktmöglichkeiten (Anrufe, Briefe, Pakete) ausgeschöpft zu haben.2 In der Folge müssen Frauen viel häufiger als Männer nicht nur mit dem Verlust der Freiheit zurechtkommen, sondern auch mit dem Schmerz darüber, im Stich gelassen worden zu sein. 

Verrat an der Weiblichkeit

Frauen bilden nur eine kleine Minderheit aller Straftäter. Insgesamt beträgt der Anteil weiblicher Häftlinge heute weniger als ein Zehntel der gesamten Häftlingsgesellschaft. Gleichwohl steigt die Zahl der von Frauen verübten Straftaten seit Ende der Sowjetunion kontinuierlich an. Auch das Spektrum hat sich erweitert: zu klassischen Delikten wie Diebstahl kommen inzwischen illegale Bankgeschäfte, Betrugs- und Kreditvergehen, Hooliganismus sowie Drogenkriminalität hinzu.3 

Erkennbar ist ebenfalls ein zunehmendes Vordringen von Frauen in den Bereich der Gewaltverbrechen, von Einbrüchen und Raubüberfällen bis hin zu Tötungsdelikten. Damit gleicht sich das Profil straffällig gewordener Frauen in Russland dem der westlichen Industriegesellschaften an, ist also mitnichten außergewöhnlich. Doch unterliegen straffällig gewordene Frauen innerhalb der russischen Gesellschaft einer wohl noch stärkeren Stigmatisierung als männliche Straftäter, werden ihnen doch außer der Gesetzesverletzung zusätzlich der Verrat an ihrer Weiblichkeit und der bewusste Bruch mit der kulturell determinierten Geschlechterolle vorgeworfen.

Das Leben vor aller Augen

Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert: Es beginnt mit der einheitlichen Anstaltskleidung (dunkle Röcke und weite Jacken, weiße Kopftücher), die die individuellen Frauen zu einer ununterscheidbaren Masse vereinheitlichen. Das Leben in erzwungener Gemeinschaft, vor aller Augen, bedeutet, die Nachtruhe in überfüllten Schlafbaracken, in eng nebeneinander stehenden Doppelstockbetten zu verbringen. Die dort angebrachten Namensschilder enthalten Angaben über den Strafrechtsparagraphen, das Ankunfts- und Entlassungsdatum. Die Gemeinschafts­waschräume und Toiletten haben keine Türen, gewähren also keine Intimität. 

Es gibt in den Frauenstraflagern nur öffentliche Räume und somit keinerlei Privatsphäre. Man könnte von einer Art sozialer Gefangenschaft sprechen, die durch Schikanen des Aufsichtspersonals und durch das Spitzelwesen unter den Häftlingen noch verschärft wird.4 Begründet wird diese Art des Strafvollzugs mit dem Ziel der Resozialisierung, also der Einübung von gesellschaftlich akzeptiertem Sozialverhalten. 

Während in Deutschland beim Resozialisierungsgedanken auch die psychologische Betreuung der Häftlinge, Fortbildungs- und Freizeitangebote sowie Bewährungshilfen nach der Entlassung eine Rolle spielen, geht es im russischen Fall vor allem darum, gesellschaftlich konformes Verhalten mit konkreten Erwartungshaltungen an eine Frau, an deren Weiblichkeit und Häuslichkeit, zu fördern. So werden regelmäßig Schönheits- beziehungsweise Hausfrauenwettbewerbe veranstaltet. Auch das Raumdekor im Straflager – Rüschengardinen und Topfblumen – soll die Bewohnerinnen tagtäglich an ihre zukünftigen Aufgaben in einer patriarchalen Gesellschaft erinnern. Der Aufenthalt im Lager soll also vor allem die Refeminisierung der weiblichen Häftlinge bewirken.

Straf-Einzelzelle als Luxus

Für manche Frauen ist der Mangel an Privatsphäre neben der räumlichen Isolation die schlimmste Hafterfahrung. Dagegen helfen Strategien des inneren Rückzugs (Lesen, Fernsehen, mentale Abschottung während der Arbeitszeit) oder die bewusste Suche nach Orten und Zeiten des Alleinseins. Um wenigstens einige Tage für sich sein zu können, trauen sich manche Frauen, gezielt Regeln zu überschreiten. So kommen sie für eine gewisse Zeit in eine Straf-Einzelzelle. Für diesen Luxus werden sogar verschärfte Haftbedingungen in Kauf genommen. 

 

Neben den Transporten in weit entfernte Lagerkomplexe werden viele Frauen durch den dort praktizierten Kollektivismus traumatisiert. / Foto © Sergey Savostyanov/ITAR-TASS/imago images

Beziehungen zu anderen Mithäftlingen können unter Umständen mehr Wohlbefinden, eventuell sogar Nähe herstellen. Obwohl Straflager nicht gerade als vertrauensfördernde Institutionen gelten, entstehen auch dort nicht nur zweckmäßige, sondern auch emotionale Beziehungen unter Frauen. Das Spektrum reicht von Freundschaften und Netzwerken über sogenannte „Spiel- beziehungsweise Ersatzfamilien“ bis hin zu verdeckt geführten gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen (die verboten sind und geahndet werden).5 

Gearbeitet (das umfasst zumeist Näharbeiten für Armee- oder Polizeizwecke, die Herstellung von Arbeitskleidung sowie das Bemalen von Matrjoschkas und gegessen wird ebenfalls im Kollektiv, abteilungsweise. Laut gesetzlicher Vorschrift soll der Arbeitstag nicht länger als acht Stunden dauern. Doch Tolokonnikowa berichtete 2013 aus ihrem Lager in Mordwinien, dass dort täglich 16 bis 17 Stunden gearbeitet werden müsse, um die Produktionsnorm zu erfüllen. Praktisch handele es sich um Zwangsarbeit, für den sie einen Monatslohn von 29 Rubeln (damals weniger als ein Euro) erhalten habe. Täglich produzierte ihre Brigade 150 Polizeiuniformen, die Norm war von einem Tag auf den anderen um 50 Stück erhöht worden (wiederum nicht den Vorschriften entsprechend). Wurden die Vorgaben nicht erfüllt, drohten der gesamten Brigade empfindliche Strafen.6

Ungewissheit und Zumutungen der Freiheit

Wenn die Haftzeit überstanden ist, folgt für viele Frauen die wohl schwierigste Phase: der Übergang vom Lageralltag mit seinen festen Regeln und seiner Subkultur in die Freiheit, die mit Ungewissheit und Zumutungen verbunden ist. Es droht der tiefe Fall in das sogenannte Entlassungsloch. Staatliche Hilfen gibt es nicht. Wenn, dann bleibt nur die Unterstützung von Familie und Freunden. Die wenigen bestehenden bürgerrechtlichen Organisationen etwa die Bewegung Rus sidjaschtschaja (Einsitzende Rus) oder die von Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina gegründete Organisation Sona prawa (dt. Die Zone des Rechts) kümmern sich unter anderem um Hilfe für entlassene Frauen. Da aber die gesellschaftliche Ablehnung spürbar ist,7 fallen die eben Entlassenen schnell wieder in alte Gewohnheiten zurück und landen bald erneut im Lager.


Zum Weiterlesen:
Pallot, Judith/Piacentini,Laura (2012): Gender, Geography, and Punishment: The Experience of Women in Carceral Russia, Oxford
Pallot, Judith (2015): The Gulag as the Crucible of Russia's 21st-Century System of Punishment, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 16 (3), S. 681-710
Pallot, Judith/Katz, Elena (2017): Waiting at the Prison Gate: Women, Identity, and the Russian Penal System, London, New York

1. Tolokonnikowa, Nadja (2016): Anleitung für eine Revolution, München
2. Pallot, Judith (2008): Continuities in Penal Russia: Space and Gender in Post-Soviet Geography of Punishment, in: Lahusen, Thomas/Solomon, Peter H. Jr. (Hrsg.): What is Soviet Now? Identities, Legacies, Memories, Berlin, S. 253; dies. (2015): The Topography of the Spatial Continuity of Penality and the Legacy of the Gulag in Twentieth and Twenty-First Century Russia, in: Laboratorium 7 (1), S. 100
3. Katz, Elena/Pallot, Judith (2010): From Femme Normale to Femme Criminelle in Russia: Against the Past or Towards the Future, in: New Zealand Slavonic Journal 44, S. 123-125
4. Moran, Dominique/Pallot, Judith/Piacentini, Laura (2009): Lipstick, lace, and longing: constructions of femininity inside a Russian prison, in: Environment and Planning D: Society and Space 27, S. 714; dies. (2013): Privacy in penal space: Women’s imprisonment in Russia. In: Geoforum 47, S. 141-142; Al’pern, Ljudmila (2004): Son i jav’ ženskoj tjur'my, St. Petersburg, S. 25; Zekovnet.ru: Ženščina v tjur'me
5. Omelchenko, Elena (2016): Gender, Sexuality, and Intimacy in a Women’s Penal Colony in Russia, in: Russian Sociological Review 15 (4), S. 86-89 
6. Siehe den Brief von Nadeshda Tolokonnikowa aus dem Lager: Lenta.ru: „Vy teper' vsegda budete nakazany“ 
7. Siehe auch den Beitrag über straffällig gewordene Mütter, denen nach der Entlassung soziale Ablehnung und Hilfeverweigerung entgegenschlägt, was ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich macht: „Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen“: dekoder.org: „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder“
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Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

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Das Ermittlungskomitee (Sledstwenny komitet/SK) ist eine russische Strafverfolgungsbehörde. Sie gilt als politisch überaus einflussreich und wird häufig mit dem US-amerikanischen FBI verglichen.

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Alexej Nawalny

Alexej Nawalny ist in Haft gestorben. Er wurde in mehreren politisch-motivierten Prozessen zu langjähriger Strafe verurteilt. Aus der Strafkolonie hat er mehrmals über unmenschliche Haftbedingungen berichtet.  

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Archipel Gulag

Archipel Gulag ist das Hauptwerk des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. Darin wird das menschenverachtende sowjetische Straflagersystem eindrucksvoll beschrieben, weshalb das Werk in der Sowjetunion verboten war und zunächst nur im Ausland erschien. Heute gilt es vor allem als wichtiges Zeitdokument.

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