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„Das war vorhersehbar und dumm“

Noch bevor Zehntausende landesweit am vergangenen Sonntag auf die Straße gingen, um ihre Solidarität mit Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu bekunden, hatten Sicherheitskräfte hart durchgegriffen: Es gab zahlreiche Festnahmen, Strafverfahren wurden eingeleitet, Nawalny-Vertraute kamen unter Hausarrest – etwa sein Bruder Oleg Nawalny und die Oppositionelle Ljubow Sobol. 
Am Sonntag schließlich riegelten Sicherheitskräfte nicht nur den Platz rund um die Lubjanka ab – den ursprünglichen Versammlungsort der Protestierenden, sondern ließen auch Geschäfte und Cafés in Moskaus Innenstadt schließen sowie mehrere Metrostationen. Die Demonstrierenden verlegten schließlich den Treffpunkt, der Protest zersplitterte teilweise in viele kleine Gruppen, die durch die gesamte Stadt zogen, zeitweise war das Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe, in dem Nawalny derzeit in U-Haft ist, das Ziel. Landesweit wurden laut OWD-Info über 5000 Menschen festgenommen, darunter mindestens 82 Journalisten. Polizisten setzten neben Schlagstöcken auch Elektroschocker gegen Protestierende ein; Szenen wie die von Festnahmen durch maskierte Sicherheitskräfte in Zivil oder von im Schnee liegenden Demonstranten erinnerten viele Beobachter an die Proteste in Belarus

„Warum muss man so hart vorgehen?“, das fragen sich angesichts dieser Maßnahmen derzeit viele – Irina Tumakowa von der Novaya Gazeta hat die Frage dem Politologen und einstigen Putin-Berater Gleb Pawlowski gestellt. Im Interview spricht er darüber, welche Botschaft den Bürgern vermittelt werden soll – und warum Nawalnys Team die Situation aktuell mehr kontrolliert als die Staatsmacht.

Источник Novaya Gazeta

„Es wurde eine ungeheure Menge an OMON-Spezialeinheiten und Polizei aufgefahren, was gar nicht nötig gewesen wäre.“ / Foto © Vlad Dokschin/Novaya GazetaIrina Tumakowa: Gleb Pawlowski, warum musste beim Auflösen der Protestaktionen so hart vorgegangen werden? Warum will die Staatsmacht diese Protestaktionen überhaupt auflösen, wovor hat sie Angst?

Gleb Pawlowski: Es ist gar nicht die Frage, warum die Aktionen aufgelöst werden, sondern warum sie so erfolgreich sind. In meinen Augen sind diese Aktionen verblüffend erfolgreich, die da im Namen der Befreiung Nawalnys geschehen. Und dieser Erfolg hängt damit zusammen, dass es der Opposition im bedeutenden Ausmaß gelungen ist, strategische Kontrolle über das Handeln der Staatsmacht zu bekommen. Denn dieses Handeln war vorhersehbar und dumm.

Das ist ja genau die Frage: Warum muss man so hart vorgehen – und so dumm?

Die Dummheit der Staatsmacht ist ein wichtiger Faktor in der revolutionären Mobilisierung der Massen. Darüber, wie außerordentlich wichtig diese Protestaktionen sind, wurde zunächst erst einmal  Moskau und dann ganz Russland informiert – und zwar durch die Absperrung des gesamten Moskauer Stadtzentrums. Wohlgemerkt, der Hauptstadt unseres Heimatlandes. 

Der Opposition ist im bedeutenden Ausmaß gelungen, strategische Kontrolle über das Handeln der Staatsmacht zu bekommen

Ich kann mich nicht mal entsinnen, wann das zum letzten Mal passiert ist. Die haben sehr früh damit angefangen, haben erklärt, dass das mit einer möglichen Protestaktion zusammenhänge. Damit haben sie mindestens 30 Prozent zusätzliche Teilnehmer mobilisiert. Schon vorher. Zweitens ist das ein ganz beliebter Fehler derer, die solche Straßeneinsätze durchführen. Es wurde eine ungeheure Menge an OMON-Spezialeinheiten und Polizei aufgefahren, was gar nicht nötig gewesen wäre. Was sollen die machen? Das Zentrum war abgesperrt, daher hat man dann die Demonstranten durch die Stadtteile, durch kleine und große Straßen gejagt. Daraufhin mussten sie sogar noch weitere Metrostationen schließen.

Übrigens ist es die härteste, direkteste und schnellste Methode, die Stadt über einen Ausnahmezustand in Kenntnis zu setzen, indem man ein paar Metro-Linien sperrt.

Dass das ein Fehler ist, weiß man spätestens seit dem Maidan in Kiew, als die zentralen Metrostationen geschlossen und die Stadtbewohner deswegen wütend wurden. Ganz normale Menschen, die nicht vorhatten, an irgendetwas teilzunehmen. Es dauerte genau einen Tag, dann wurde die Metro wieder geöffnet, denn das ist ein sehr starkes Signal seitens der Staatsmacht.

„Was bedeuten diese Festnahmen denn? Sie sind das einzige, was der Staatsmacht bleibt.“ / Foto © Vlad Dokschin/Novaya GazetaWofür?

Dafür, dass sie, also die Staatsmacht, die Sache nicht im Griff hat. 

Im Endeffekt haben OMON und Polizei angefangen, die Menschen durch die Straßen zu jagen – und haben damit faktisch die Protestaktion über die ganze Stadt ausgebreitet.

Aber auch bei den Festnahmen wurde sehr hart durchgegriffen.

Was bedeuten diese Festnahmen denn? Sie sind das einzige, was der Staatsmacht bleibt. Was anderes können sie gar nicht tun. Sie können ja nicht die Einwohner aus der Stadt vertreiben. Sie können die Zahl der Verhafteten und Inhaftierten verringern und vermehren. Von ihnen wird ja Rechenschaft gefordert, Erfolgsstatistiken, jeder soll zeigen, dass er was tut. Also steigt die Zahl der Festnahmen. Doch damit wächst der Maßstab der Aktion: Wenn die Zahl der Festgenommenen gen Mittag schon bei über 2000 liegt, dann kriegen Menschen den Eindruck, dass die Zahl der Teilnehmer mindestens das Hundertfache betragen muss.

Jeder soll zeigen, dass er was tut. Also steigt die Zahl der Festnahmen

Sehen Sie darin einen Erfolg für die Bewegung zur Befreiung Nawalnys? 

Ich denke, die Bewegung hat schon mehr erreicht, als sie wollte. Stellen Sie sich vor, man hätte ihnen einfach gestattet, eine solche Demonstration abzuhalten. Da wären vielleicht 30.000 oder 40.000 gekommen, hätten gefroren und wären dann wieder nach Hause gegangen. Doch im Endeffekt wurde es so zu einem politischen Großereignis allrussischen Ausmaßes. Besonders anschaulich war das in den Hauptstädten Moskau und Piter.

„OMON und Polizei haben angefangen, die Menschen durch die Straßen zu jagen – und haben damit faktisch die Protestaktion über die ganze Stadt ausgebreitet.“ / Foto © Vlad Dokschin/Novaya GazetaDeswegen frage ich ja – wozu der ganze Aufwand? Alles, was Sie sagen, war ja vorher abzusehen, lange vor den Protestaktionen, sogar die Verantwortlichen der ganzen Festnahmen hätten sich das denken können.

Sie haben es ja hier nicht mit einem denkenden Wesen zu tun. Sie haben es mit … Das ist so ein amorphes Etwas. Oder gar eine ganze Kolonie von Organismen, die aber alle ihre eigenen Ideen im Kopf haben. Wenn davon gesprochen wird, dass all das einem Plan folge und gesteuert würde, dann ist das falsch. Natürlich wurde ein Einsatzkommando eingerichtet, das die Demonstration verhindern sollte. Und genau dieses Kommando verstärkt das Chaos enorm.

Festnahmen gab es auch früher, aber nicht so einen Irrsinn.

Putin hat den Prozess nicht mehr in der Hand, er ist nicht mehr das mäßigende Glied zwischen den zivilen Staatsdienern und den Silowiki in Uniform, deswegen haben die Silowiki jetzt freien Lauf. Diesen freien Lauf der Silowiki sehen wir auf der politischen Bühne. 

Putin hat den Prozess nicht mehr in der Hand

Aktuell werden sie von Nawalnys Team kontrolliert, das die Strategie vorgibt: Nachdem das Team [zur Demonstration] vor der Lubjanka aufgerufen hatte, wurde das Stadtzentrum abgeriegelt. Offenbar hat das Wort „Lubjanka“ einen mächtigen Eindruck auf die Silowiki gemacht. Nawalnys Team hat sie zur Sucharewskaja Metrostation geschickt. Sie haben sich mit aller Kraft dahin gestürzt – weiter haben sie praktisch selbst die Arbeit gemacht und die Demonstranten immer weiter getrieben in Richtung Matrosenruhe [Untersuchungsgefängnis, in dem Nawalny sitzt – dek]. Das war sehr amüsant, das zu verfolgen … 

„Putin könnte die Idioten mit den Schulterklappen beiseite schieben und das Steuer dem politischen Block seiner Präsidialadministration übergeben.“ / Foto © Vlad Dokschin/Novaya GazetaNawalnys Palast-Film ist mehr beleidigend als enthüllend. Und Sie glauben, dass Putin sich darauf einlassen wird, Nawalny freizulassen?

Das ist ja ein innerer Interessenkonflikt: Will Putin sich seinen Emotionen ergeben oder will er sich politisch retten? Falls er sich politisch retten will, dann sollte er anfangen, zumindest ein wenig rational zu handeln.

Falls er Rache üben will, dann kann er die Landesleitung an [die FSB-Männer – dek] Bortnikow und Patruschew übergeben, die die Sache ganz schnell in die Luft gehen lassen. Schneller als es Putin könnte. 

Sie haben Putin persönlich gut gekannt. Zeugen seine jüngsten Taten für Sie davon, dass er seine Gefühle voll im Griff hat?

Jener Putin hatte seine Gefühle im Griff. Beim heutigen sieht es nicht danach aus.

Es scheint, als würden die russischen Silowiki die belarussischen nachmachen: brutale Massenfestnahmen, abgeriegelte Stadzentren, Aussetzer beim Handynetz. 

Nein, ich glaube nicht, dass sie das nachmachen. Die verfügen über genug eigene Dummheit. Aber belarussische Techniken und Technologien dringen über zwei Kanäle nach Russland. Zum einen über die Opposition: Nawalnys Bewegung hat die belarussischen Erfahrungen klar im Auge. Sonst hätte man einfach fragen können: Warum zum Teufel sollen wir eine Demo veranstalten, Menschen werden durch die Straßen und Höfe ziehen, sie werden gejagt, was werden sie auf der Demo schon Beeindruckendes hören, und von wem überhaupt, wo doch die Anführer fast alle eingesperrt sind. Zum anderen wird polizeiliches Repressions-Know-How aus Belarus übernommen. Noch recht zaghaft. Aber das wird zunehmen. 

Belarussische Techniken und Technologien dringen über zwei Kanäle nach Russland

Und so kommt es zu einer Patt-Situation: Wenn wir euch nicht fürchten, was könnt ihr dann mit uns machen? Ihr könnt uns jagen – dann ziehen wir durch die Höfe auf die nächste Straße.

„Das Zentrum war abgesperrt, daher hat man dann die Demonstranten durch die Stadtteile, durch kleine und große Straßen gejagt.“ / Foto © Vlad Dokschin/Novaya GazetaEs gibt eine andere Möglichkeit des „Was tun?“: Wir werden euren Nawalny für zehn, wenn nicht gar fünfzehn Jahre einbuchten.

Nawalny wird auch so plattgemacht. Wenn Nawalny eingebuchtet wird, dann wird er so lange sitzen, wie sich die gegenwärtige Situation des Regimes halten kann. Aber die kann sich ändern, darum ist Verhandeln sinnlos. Hier geht es nicht um einen Kompromiss. Sie bieten nichts an zum Verhandeln. 

Sie sehen, wie mir scheint, eine positive Entwicklung für Nawalnys Team.

Für Nawalnys Team – weiß ich nicht. Die Leute gehen auf Angriff, eine positive Entwicklung wäre für sie, wenn sie zumindest ein Zwischenziel erreichen. Aber generell handeln sie derzeit erfolgreich, zweifellos. Doch das sagt nichts darüber aus, ob sie immer erfolgreich bleiben können. Aber bislang ist es ein Erfolg. 

Welche Taktik wäre jetzt erfolgversprechend für die Regierung, persönlich für Putin?

Vermutlich ein Kompromiss. Putin könnte die Idioten mit den Schulterklappen beiseite schieben und das Steuer dem politischen Block seiner eigenen – seiner eigenen! – Präsidialadministration übergeben. Die wird mit der Situation vermutlich ein wenig besser klarkommen.  

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Protestbewegung 2011–2013

Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates.

Die bislang größte Protestwelle in Russlands postsowjetischer Geschichte wurde durch die Dumawahlen am 4.12.2011 ausgelöst. Die freiwilligen Wahlbeobachter, die zum ersten Mal so zahlreich angetreten waren, erlebten die massiven Fälschungen an diesem Tag als unmittelbaren emotionalen Schock. Eine Erfahrung, die sich über zahlreiche Posts in Freundesnetzwerken und sozialen Medien rasch verbreitete, nachdem Wladimir Putins Ankündigung im September 2011, nach vier Jahren als Premierminister wieder die Präsidentschaft übernehmen zu wollen, bereits viel Unmut ausgelöst hatte. Die Proteste richteten sich vor allem gegen Putin und die Partei Einiges Russland, doch das Themenspektrum weitete sich schnell aus. Viele zuvor apolitische Menschen machten auf den – fast ausschließlich friedlichen – Demonstrationen, Einzelaktionen und Camps ihre ersten Protesterfahrungen. Es gelang der Bewegung jedoch nicht, Putins Rückkehr an die Macht zu verhindern. Differenzen zwischen den Teilnehmern ebenso wie die repressive Reaktion des Staates brachten die Bewegung – nicht jedoch andere Protestformen – schließlich zum Versiegen.

Mediale Repräsentation und Wirklichkeit klaffen in Bezug auf die Protestbewegung weit auseinander. In journalistischen Darstellungen war oft die Rede von einer Oppositionsbewegung oder dem Protest einer Moskauer „kreativen“ oder Mittelklasse. Oft wird auch nur vom Protestwinter 2011–12 gesprochen, womit vor allem die ersten, teilweise karnevalesk anmutenden Massendemonstrationen in der Hauptstadt mit jeweils über 100.000 Teilnehmern gemeint sind – oder aber Aktionen wie die Menschenkette um den Moskauer Gartenring am 26.2.2012. Tatsächlich fanden Proteste gegen Wahlfälschungen in fast allen Regionen des Landes sowie im Ausland statt, allerdings vor allem in größeren Städten. Die Demonstrationswelle versiegte in der Provinz erst gegen Ende 2012, in Moskau klang sie sogar noch 2013 mit Protesten gegen die Duma und bei den Bürgermeisterwahlen im September nach.

Begriffe wie „Opposition“ und „Mittelklasse“ geben wenig Aufschluss: Die meisten Protestaktionen wurden nicht von der Opposition organisiert, die Teilnehmer waren politischen Oppositionellen gegenüber oft skeptisch bis ablehnend eingestellt, und die Motivationen der in Alter, Einkommen und Herkunft sehr unterschiedlichen Protestierenden hatten mit deren sozio-ökonomischem Status meist nichts zu tun.

Die wissenschaftliche Diskussion1 beschäftigt sich eher mit der Dynamik zwischen verschiedenen Teilnehmern und Anliegen. Mit dem Aufstand gegen die Umwandlung von Sozialleistungen in Geldtransfers (2005) sowie den massiven regionalen Bewegungen in Wladiwostok und Kaliningrad (2008–09) hatte es bereits größere Protestwellen gegeben. Hinzu kamen zahlreiche lokale Aktionen gegen Privilegien für Beamte, Umweltzerstörung oder verdichtende Bebauung. Solche Themen waren auch auf den großen Demonstrationen der Jahre 2011–13 präsent. Die vielen Einzelanliegen fanden jedoch bei Oppositions-Aktivisten und zunächst auch bei den zahlreichen Protestneulingen kein Gehör. Sie wurden von der Kritik an Putin, der Staatspartei und dem Wahlleiter Wladimir Tschurow übertönt. Oppositionsfiguren wie der nationalliberale Blogger Alexej Nawalny oder der linke Aktivist Sergej Udalzow waren zwar in den Medien sehr präsent, doch es gelang ihnen mit ihren sehr allgemein gehaltenen Parolen nicht, die Mehrheit der Protestierenden als Unterstützer zu gewinnen. Die temporäre Zusammenarbeit zwischen Aktivisten verschiedener Couleur, symbolisiert durch das weiße Bändchen als Protestsymbol, konnte nicht institutionalisiert werden. Versuche wie der im Oktober 2012 gegründete Koordinationsrat der Opposition scheiterten schon bald an innerem Zwist und mangelnder Verwurzelung in Basisinitiativen. Viele neu politisierte Bürgerinnen und Bürger wandten sich enttäuscht ab oder aber lokalen Anliegen zu – von der Kommunalpolitik bis zur Wahlbeobachtung. Gegenkulturelle Aktionen von Performancekünstlern wie Pussy Riot oder Pjotr Pawlenski erregten – besonders bei westlichen Beobachtern – viel Aufmerksamkeit, waren innerhalb Russlands jedoch eher Nebenschauplätze des Protests.

Noch bedeutsamer als die innere Spaltung war die Reaktion des Staates. Viele Aktionen – vor allem in der Provinz – wurden mit brutaler Polizeigewalt aufgelöst, die beim „Marsch der Millionen“ in Moskau am 6. Mai 2012 ihren Höhepunkt fand. Es folgte eine Verhaftungswelle sowie eine Reihe repressiver Gesetze, die neben zahlreichen alten und neuen Aktivisten auch NGO-Mitarbeiter sowie gänzlich Unbeteiligte (etwa Musikfans) traf. Auf Gegendemonstrationen und – im Zuge des Pussy Riot-Prozesses und schließlich der Ereignisse in der Ukraine – in staatsnahen Medien und der Öffentlichkeit wurden sowohl Oppositionelle als auch einfache Protestierende zunehmend als dekadente, prowestliche „Nationalverräter“ dargestellt, teilweise auf öffentlichen Plakaten. Zudem spalteten der Euromaidan, die Angliederung der Krim sowie der Krieg im Donbass Liberale, Linke und Nationalisten jeweils in zwei Lager. Die oppositionelle Szene vermochte es nicht, ihre Präsenz auf den Demonstrationen in Wahlerfolge zu verwandeln.

Dennoch ist der Protest in Russland nicht gänzlich zum Erliegen gekommen. Bewegungen wie diejenige gegen Nickelbergbau entlang des Chopjor-Flusses oder gegen eine neue Lastwagenmaut legen eine große Ausdauer und einen hohen Organisationsgrad an den Tag. Auch Aktivisten für LGBT-Rechte oder für die Freilassung politischer Gefangener nehmen regelmäßig große persönliche Risiken auf sich, um ihre Anliegen trotz der neuen Restriktionen öffentlich vorzutragen.


1.z. B.: Bikbov, Aleksandr (2012): Metodologija issledovanija „vnezapnogo“ uličnogo aktivizma (rossijskie mitingi i uličnye lagerja, dekabr' 2011 – ijun' 2012), in: Laboratorium Nr. 2, S. 130-163; Gabowitsch, Mischa (2013): Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin; ders. (2016, im Erscheinen): Protest in Putin’s Russia, London

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