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Pussy Riot

Pussy Riot ist eine Gruppe von Kunstaktivistinnen. Ab Herbst 2011 traten Frauen in Sturmhauben und bunten Kleidern moskauweit an öffentlichen Orten mit feministisch motivierten Punkperformances auf. Den Höhepunkt bildete im Frühjahr 2012 der Auftritt mit dem Punkgebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Für zwei der Mitglieder endete der anschließende Prozess mit Haft im Straflager. 

Am 7. November 2011 kam es an öffentlichen Orten in Moskau zu wilden Spektakeln. Auf einmal standen da drei Frauen mit grellbunten Kleidern und Sturmmasken auf einer Arbeitsbühne in einer Metrostation und später auf dem Dach eines Trolleybusses. Zu Punk-Klängen aus einem portablen Abspielgerät brüllte die eine in ein Mikrophon, die andere krachte auf einer E-Gitarre, alle drei sprangen wild herum. Die Schaulustigen dürften den vorgetragenen Text wohl kaum verstanden haben. Auf dem Blog von Pussy Riot war jedoch bald das Musikvideo zu sehen, zu dessen Produktion die Konzerte gedient hatten – Leg das Pflaster frei!  war der erste Hit von Pussy Riot, gesungen über das geloopte Riff eines Oi-Punk-Klassikers.

Als nur vier Monate später dieselben drei Frauen für ihren Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale verhaftet worden waren, bezeichnete man sie in den Medien häufig als Punkband. Zwar waren die jungen Frauen sicherlich begeistert von der rohen, negativen Energie des Punk, sie ließen jedoch auch keinen Zweifel daran, dass sie ihn in den Dienst einer Kunstaktion stellten. Kenner der Aktionskunst wie der Veteran des Moskauer Aktionismus der 1990er Jahre Anatoli Osmolowski, erkannten daher auch intuitiv: Die eigentlichen Vorläufer von Pussy Riot waren weniger im Riot Grrrl Movement, der weiblichen Aneignung des Hardcore in den 1990er Jahren zu suchen, als in Künstlerinnen-Gruppen wie den Guerilla Girls. Deren Gorillamasken erfüllen eine ähnliche Funktion wie die Sturmhauben von Pussy Riot: Sie anonymisieren den weiblichen Protest. Der Blog von Pussy Riot listete etwa ein Dutzend Pseudonyme von Aktivistinnen auf.

 

 

Wie die Künstlergruppe Woina, in der zwei der später verhafteten Aktivistinnen, Nadeshda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch, tätig gewesen waren, war Pussy Riot exzentrische Weggefährtin der russischen Oppositionsbewegung, deren Demonstrationstätigkeit um den Jahreswechsel 2011/2012 ihren Höhepunkt erreichte. Im Dezember traten sie mit dem Song Tod dem Gefängnis, Freiheit dem Protest! auf. Sie sangen auf einem Schuppen vor einem Moskauer Untersuchungsgefängnis, in dem verhaftete Demonstranten festgehalten wurden, im gleichen Monat sangen sie auf dem Roten Platz Revolte in Russland – Putin hat sich eingepisst. Auch dies war noch nicht strafwürdig, erst die Aktion in der Kathedrale führte zur Anklage von Tolokonnikowa, Samuzewitsch und Maria Aljochina.

Obwohl die Anklage im Prozess das erste Mal den 2007 verschärften Chuliganstwo-Artikel (Störung der öffentlichen Ordnung)1 bemühte, gehört der Prozess aufgrund des zugeschriebenen Motivs der „Verletzung religiöser Gefühle“ in eine Reihe mit den Kunstgerichtsprozessen gegen die Ausstellungen Achtung, Religion! und Verbotene Kunst. Zwar hatten sich die Frauen in ihrem Punkgebet ja gerade an die Gottesmutter gewandt, sie möge doch Putin verjagen, doch wurden die Frauen nicht wie politische Aktivistinnen, sondern wie diabolische Junghexen behandelt. Jede politische, künstlerische oder auch nur kulturelle Facette ihrer angeblich blasphemischen Handlungen sollte ausgeblendet werden. Ihr aus der Punk-Szene übernommener Pogo-Tanz wurde so zum Veitstanz umgedeutet. Zeugen der Verteidigung wie die Theologieprofessorin Jelena Wolkowa oder der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurden nicht zugelassen, kirchliche Kodizes durchziehen die Urteilsbegründung – für Tolokonnikowa und Aljochina endete der Prozess mit Straflager, Samuzewitsch erhielt eine Bewährungsstrafe.

Während das Urteil im Ausland mit großer Empörung aufgenommen wurde, ging das innenpolitische Kalkül der Kampagne gegen Pussy Riot durchaus auf. Insbesondere die vom Lewada-Zentrum für Meinungsforschung regelmäßig durchgeführten Umfragen zum Prozess dokumentieren, dass die massenmediale Inszenierung der Ereignisse um Pussy Riot in den kunst- und oppositionsfernen Schichten der russischen Bevölkerung der Regierung Putin merkliche Unterstützung brachte. Und das  in einer Zeit, in der sie durch Vorwürfe der Korruption und Wahlfälschung unter Druck geraten war.

Seit Tolokonnikowa und Aljochina wieder auf freiem Fuß sind, leihen sie ihren politischen Zielen ihre von der Staatsmacht gewaltsam entblößten, medienwirksamen Gesichter. Neben der Gründung einer NGO, die sich für Gefangenenrechte in Russland einsetzt, kam es zu diversen Interaktionen mit big Politics, Musik- und Showbusiness. So traten Pussy Riot in einer Folge der Netflix-Serie House of Cards auf und produzierten für den Abspann mit Johanna Fateman der Riot-Grrrl-Band Le Tigre ein Musikvideo für den Abspann. Auf dem alten Blog von Pussy Riot kritisierten anonym gebliebene Aktivistinnen den „Ausverkauf“ von Pussy Riot scharf. Im Sommer 2015 beging die Frau mit der Sturmmaske virtuellen Selbstmord auf dem ursprünglichen Blog von Pussy Riot. Bemerkt hat diese Auflösung der Ursprungs-Gruppe jedoch kaum jemand.

Zur Fußball-WM 2018 in Russland traten Mitglieder der Gruppe erneut in Erscheinung, als sie zum Endspiel in Polizei-Kostümen auf das Spielfeld rannten, um so auf eingeschränkte Meinungsfreiheit im Gastgeberland aufmerksam zu machen. Sie forderten unter anderem die Freilassung aller politischen Gefangenen im Land. Für ihre Aktion wurden vier Mitglieder von Pussy Riot zu 15 Tagen Haft verurteilt. Einer von ihnen, Pjotr Wersilow, kam am 11. September mit plötzlichen Sehstörungen und anderen Symptomen ins Krankenhaus. Als er schließlich in der Berliner Charité behandelt wurde, sprachen die Berliner Ärzte von einer „hohen Plausibilität“ dafür, dass Wersilow vergiftet wurde. Nach seiner Entlassung sprach er mit dem russischen Exil-Medium Meduza und sagte, dass er den Grund für die Vergiftung nicht in der Aktion beim WM-Endspiel, sondern bei seinen Recherchen in der Zentralafrikanischen Republik sehe. Dort waren Ende Juli drei russische Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet worden.
Nur zwei Tage nach dem  WM-Finale kam Pussy Riot erneut in die Schlagzeilen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass die Russische Föderation mit ihrem Urteil über das Punk-Gebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale die Menschenrechte der Aktivistinnen verletzt hatte. Russland muss nun Schmerzensgeld und Schadensersatz an die Verurteilten zahlen. Da der Oberste Gerichtshof Russlands schon im April 2018 eine Entscheidung des EGMR mit Schulterzucken quittierte, bleibt es fraglich, ob Russland tatsächlich die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzung gegenüber Pussy Riot-Mitgliedern übernehmen wird.


1.In der Form, in der er zur Anwendung kam, besteht der Artikel seit 2007. Damals hatte eine Gesetzesänderung auch nichtgewaltsame Handlungen unter strafrechtliche Verfolgung gestellt, wenn sie die „öffentliche Ordnung grob verletzen“, indem sie z. B. durch „politischen, ideologischen [...] religiösen“ Hass eine „tiefe Verachtung der Gesellschaft“ deutlich machen. Für einen Überblick über die Gesetzesänderungen siehe Livejournal Rimma Poljak: Kakie izmenenija preterpela pri Putine statʼja 213 UK RF «Chuliganstvo» 
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