Seit Februar 2017 ist die russische Medienszene um einen YouTube-Kanal und Medienstar reicher. vDud (rus. „вДудь“) heißt das Interview-Projekt des Sportjournalisten und Bloggers Juri Dud, das drei Jahre nach seinem Start über sieben Millionen Abonnenten und über 925 Millionen Aufrufe vorweisen kann. Der durchschlagende Erfolg des Projekts lässt die Novaya Gazeta bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen des ersten Videos vom „Dud-Effekt“ sprechen. Dieser zeige sich vor allem darin, dass die Abwesenheit im russischen Staatsfernsehen immer stärker von Erfolg gekrönt sei. Und in der Tat: der Dud-Effekt wirkt, vor allem auf junge Menschen. Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Der 1986 in Potsdam geborene Juri Dud hat seine Berufswahl bereits als Jugendlicher getroffen. Als sich sein Kindheitstraum, Fußballspieler zu werden, aufgrund chronischen Asthmas zerschlug, entdeckte er den Journalismus – nach der Prostitution der in Russland am leichtesten zugängliche Beruf, wie Dud witzelt.1
Als am 2. Februar 2017 der YouTube-Kanal vDud online ging, war der damals 30-jährige Dud bereits ein bekanntes Gesicht in der medialen Öffentlichkeit. Seine ersten Schritte im Journalismus hatte er schon als Kind gemacht: Mit elf schrieb er für eine Zeitung für Gleichaltrige, mit 13 absolvierte er ein Praktikum bei der Zeitung Segodnja. Bereits mit 14 wurde er freier Mitarbeiter bei der Izvestia, bekam dort mit 16 eine feste Anstellung als Sportreporter und absolvierte parallel dazu ein Journalistikstudium an der Moskauer Staatlichen Universität. Er war als Sportreporter für mehrere Fernsehsender wie NTW-Pljus, Rossija 2 oder Match TV tätig und von 2011 bis 2018 Chefredakteur des renommierten Internetportals Sports.ru. Für diese Medienauftritte wurde er 2016 und 2017 vom Männer- und Lifestyle-Magazin GQ – Gentlemen’s Quarterly zum „Mann des Jahres“ gekürt.2
Gegenpol zum Fernsehen
Die Erfolgsstrategien von Duds YouTube-Projektes sind einfach, transparent und unverhohlen kommerziell. Dies schmälert jedoch keineswegs seine gesellschaftliche und politische Relevanz und Brisanz. vDud ist als Gegenpol und Konkurrenz zum überästhetisierten und überregulierten staatlichen beziehungsweise staatsnahen Fernsehen konzipiert. Im Intro zu einer vDud-Spezialausgabe, die die „goldenen“ 1990er Jahre des Musiksenders MTV in Russland beleuchtet, formuliert Dud seine Kritik am heutigen Fernsehen explizit und schonungslos: „Wir sind es gewohnt, dass das Fernsehen eine Schande ist. Das wichtigste Massenmedium des Landes lügt, fügt Schaden zu, bereitet die Bevölkerung auf den Krieg vor und kommuniziert mit den Menschen in einer toten Komsomol-Sprache.“3
Mit dem Interview bedient Dud ein klassisches Fernsehformat, doch sein legeres Auftreten, sein Nicht-Still-Sitzen-Können und seine direkten Fragen – insbesondere in Bezug auf Geld, Vermögensverhältnisse und Sex – sind gerade ein Beispiel dafür, wie man es nach Lehrmeinung nicht machen sollte. Dennoch wirkt er, wie ihm wohlgesonnene Kritiker immer wieder bescheinigen, gut vorbereitet auf seine Gesprächspartner, stimmt die Fragen gezielt auf sein Gegenüber ab und nimmt sich die Zeit, die er für angemessen hält (die Dauer eines Interviews beträgt zwischen 40 Minuten und 2 Stunden).
Das Interview-Setting ist minimalistisch, die Kamera meist statisch auf die beiden frontal einander gegenübersitzenden Gesprächspartner gerichtet. Abgesehen von nur wenigen, kurz eingespielten Standbildern oder Videoclips und einer alternierenden Position, die die Gesprächspartner im Stehen zeigt, liegt die Konzentration auf dem Interview selbst.
Tabubruch und Freiheit
Tabubrüche gehören zu Duds grundlegenden Erfolgsstrategien, doch sie sind gemäßigt, wohldosiert und wohlkalkuliert. Sie ziehen die mediale Aufmerksamkeit auf sich – ähnlich wie in das Videobild eingeblendete Schlagwörter oder zentrale Aussagen und „starke“ Ausdrücke der Interviewpartner die Aufmerksamkeit der Rezipienten wecken. Bereits der Titel des Kanals spielt mit einem Sprachtabu, steckt darin doch nicht nur der Nachname seines Schöpfers, sondern auch das Thema Sex, über das dieser so gerne spricht (vdut’ ist gleichbedeutend mit dt. „durchficken“).
Während die Unterhaltungsprogramme und Talk-Shows in den großen russischen Fernsehkanälen immer pompöser, gleichförmiger und starrer werden, vermitteln bereits die Anordnung und der Ablauf von Duds Interviews den Eindruck des Ungezwungenen und Spontanen. Der YouTube-Kanal vDud und sein Schöpfer strahlen Freiheit aus – die Freiheit, sich nicht an Sprachkonventionen halten zu müssen und die russische Vulgärsprache Mat nach Lust und Laune verwenden zu können (was insbesondere für die Interviewpartner gilt). Die Freiheit, politisch brisante und gesellschaftlich tabuisierte Themen diskutieren zu können und schließlich die Freiheit, die Interviewpartner unabhängig von politischen Vorgaben auszuwählen.
Waren es am Anfang hauptsächlich noch Vertreter der Musikszene (den Auftakt bildeten die Rapper Basta und L’One sowie der Punk-Rock-Star Sergej Schnurow), die er interviewte, so weitete Juri Dud den Personenkreis sehr schnell auf ausgeprägte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, der Medienszene und sogar der Wissenschaft aus. Unter den Gästen der regelmäßigen Interviews finden sich der Chefredakteur von Radio Echo Moskwy Alexej Wenediktow, der Fernseh-Interviewer Nummer eins Wladimir Posner oder der ehemalige Fernsehmoderator Sergej Dorenko.
Duds Auswahl der Gesprächspartner zielt immer wieder auch darauf ab, Persönlichkeiten in die mediale Öffentlichkeit zurückzuholen, die die russischen Staatsmedien mit einem Bann belegt haben. Dies gilt für Alexej Nawalny genauso, wie für Michail Chodorkowski. Gleichzeitig finden sich unter Duds Gästen aber auch Vertreter des politischen Establishments, wie Wladimir Shirinowski oder der Präsidentschaftskandidat der Kommunisten Pawel Grudinin, mediale Gallionsfiguren des patriotischen Lagers, wie der Regisseur Nikita Michalkow und der mächtige Medienmann Dimitri Kisseljow oder der ukrainische Fernsehmoderator Dimitri Gordon.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2018 hat sich Juri Dud mit dem Kandidaten der Kommunisten getroffen und ihn über sein Verhältnis zu Stalin befragt
Ist die Rede von Interviewpartnern, so scheint die Verwendung der geschlechtsspezifischen männlichen Form hier durchaus adäquat, stellen weibliche Gäste doch die Ausnahme dar. So waren im Laufe der ersten drei Jahre nur wenige Frauen bei Dud zu Gast, unter anderem die Journalistin und Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak und die ehemalige Pussy Riot-Aktivistin und Performance-Künstlerin Nadeshda Tolokonnikowa.
Generationen verbinden
Die Auswahl der Gäste wie auch die Diskussionsthemen zeigen, dass Dud einerseits seine eigene Generation und vor allem junge Menschen ansprechen will, während er andererseits über seine Diskussionspartner die jüngere Vergangenheit des Landes ergründet. Das Interesse an der Zeit und den Personen, die ihn persönlich geprägt haben, verpackt er häufig in bewusst naive, mitunter provokative, jedenfalls aber ungewohnt direkte Fragen. Gerade dies verleiht den Interviews eine Lebendigkeit, Natürlichkeit und Aufrichtigkeit, die man im Fernsehen mittlerweile kläglich vermisst. Im Interview mit Chodorkowski lautete beispielsweise eine Frage, warum dieser damals, im Jahr 1996, – bei aller Wertschätzung für Boris Jelzin – auf einen „lebenden Leichnam“ gesetzt hätte.
Hipster und Volksaufklärer
Juri Dud vereint in seinem Internet-Auftritt verschiedene soziale Rollenbilder, die vor allem greifbar werden im Kontrast zu dem, was er nicht ist und nicht sein will. Den ideologisch deklarierten traditionellen Werten und dem politischen Patriotismus setzt Dud Weltoffenheit und liberale Werte entgegen, dem Zynismus der offiziellen Medienmacher Aufrichtigkeit, dem journalistischen Dilettantismus und Opportunismus Professionalität und Leistungsbereitschaft, dem radikalen Protest gemäßigte Kritik am System, dem antimaterialistischen Habitus der spätsowjetischen Intelligenzija Konsum und Markenbewusstsein. Rein äußerlich ist er ein Hipster mit perfekt gestyltem Haar, lässig gekleidet in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, das iPhone stets griffbereit.
Die größte Resonanz sowohl an Aufrufen wie auch in der öffentlichen Debatte erzielt Dud allerdings weniger mit den Interview-Ausgaben, als vielmehr mit Dokumentarfilmen über gesellschaftlich brisante Themen. Bereits im ersten Jahr erweiterte Dud das reine Interview-Format in Richtung eines Interview-basierten dokumentarischen Porträts, als er dem Schauspieler und Idol des ersten postsowjetischen Jahrzehnts Sergej Bodrow eine vDud-Ausgabe widmete. Dem folgten weitere Porträts über Kultur- und Medienschaffende der vergangenen Jahrzehnte, die für ganze Generationen prägend waren, etwa über den Kultregisseur Alexej Balabanow oder über Oleg Tabakow, einen der bekanntesten sowjetischen Schauspieler seit der Tauwetterzeit.
Duds Interesse an diesen Persönlichkeiten ist stets von Fragen der Gegenwart und der subjektiven Wahrnehmung seiner Generation motiviert. Zu seinen besonderen Stärken zählt dabei, das Charakteristische der jeweiligen Person im Intro der einzelnen Folge konzis zu formulieren. Im Fall von Oleg Tabakow etwa die Verbindung von Konservatismus und Interesse für das Neue, im Fall von Balabanow die Liebe zu Russland bei gleichzeitiger Kritik. Auf diese Weise – und unabhängig vom Format – enthüllt Dud mit jeder Ausgabe ein weiteres kleines Stück seiner Lebenshaltung und seines Verständnisses von Gesellschaft, Politik und Geschichte. Man könnte auch sagen, er arbeitet kontinuierlich an seiner Rolle als moralisches Vorbild, Volksaufklärer und Volksbildner im YouTube-Format.
Am deutlichsten kommt diese Rolle in drei thematisch fokussierten Dokumentarfilmen zum Ausdruck: in Kolyma – rodina naschego stracha (Kolyma – Heimat unserer Angst), Beslan. Pomni (dt. Beslan. Gedenke) und WITSCH w Rossii (dt. HIV in Russland). Die Grundfragen, die er in diesen Filmen stellt, sind so einfach wie erhellend, so selbstverständlich für die Aufgeklärten wie eine wahre Entdeckung für die Nichtwissenden. Kolyma, der Inbegriff des stalinistischen Gulag, soll vor allem jenen als Entdeckung dienen, die noch nie etwas vom Stalinterror gehört haben – laut einer Umfrage betrifft das fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland. Im Fall von HIV geht es dagegen darum, die russische Gesellschaft allgemein und insbesondere junge Menschen über die Krankheit und über das Leben mit der Krankheit zu informieren.
Weltoffener russländischer Patriotismus
Solide journalistische Recherchen und ausgesprochen gut gewählte Interviewpartner sind in Duds Dokumentarfilmen gepaart mit starken, eingängigen Thesen.
Die Hauptthese in Kolyma lautet, dass das (Über)Leben im Kommunismus zu einer Grundangst der Eltern- und Großelterngeneration geführt habe, die sich etwa in der Devise „Nur ja nicht auffallen!“ – „Ne wysowywaisja!“ – zeige.
In Beslan rollt Dud die zeitliche Abfolge der Geiselnahme 2004 minutiös auf, um die Frage der politischen Verantwortung für die Katastrophe noch einmal aus heutiger Sicht und mit heutigem Wissensstand zu stellen und nicht zuletzt auch, um die Opfer ausführlich zu Wort kommen zu lassen.
In seiner Gesamtheit ist vDud ein gelungener Hybrid, in dem das alte Fernsehinterview mit seinem Fokus auf Gesprächsinhalte, die Fernsehdokumentation und das dokumentarische Porträt an die neuen ökonomischen Regeln und Bedingungen der digitalen Medien angepasst werden. Dud bewirbt in integrierten Werbespots Gadgets und Dienstleistungsangebote jeder Art und macht kein Hehl daraus, dass sich damit gutes Geld verdienen lässt. Damit inszeniert er sich als Vertreter einer westlich orientierten, dynamischen Pop- und Konsumkultur. Gleichzeitig macht die große öffentliche Resonanz des Projekts deutlich, dass Dud das Potenzial hat, gesellschaftlichen Konsens zwischen unterschiedlichen Gruppen und Positionen herzustellen – zwischen Alt und Jung, intellektuell und kommerziell, traditionell und liberal. Einem engstirnigen Nationalismus setzt er seine Vorstellung eines weltoffenen russländischen Patriotismus entgegen, indem er vermittelt, dass „die Welt groß und klasse ist“ und man sich daher besser als ein Teil dieser Welt definiert, „als sie misstrauisch durch den Zaun zu beäugen“.4 Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.