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Nawalnys Wahlkampagne

Ein Hinterhof im Zentrum von Jekaterinburg. Pfützen, Schotter, parkende Autos – und eine Tür mit der Aufschrift „Stab Alexeja Nawalnogo“. Dahinter weiße, schlichte Tische mit schwarzen Klappstühlen, an den Wänden der Slogan „Es ist Zeit, zu wählen“ und Plakate mit dem Konterfei Nawalnys. Alles ist in einheitlichem Stil gestaltet, der Schriftzug Nawalny 20!8 allgegenwärtig. In magenta und türkisblau steht er auf weißem Grund. Frische Farben, die entfernt an das rot-blau-weiß der russischen Flagge erinnern. Man mag darin einen Zufall sehen, doch das Bild passt zu einer der Kernaussagen der Kampagne: Russland, aber anders.

Auch wenn die Präsidentschaftswahlen offiziell erst im Dezember 2017 ausgerufen wurden, erklärte Nawalny bereits im Dezember 2016 seine Absicht, zu kandidieren. Nach neun Monaten Kampagnenarbeit hatte sein Team Anfang Oktober 2017 insgesamt 80 Regionalbüros eröffnet, in jedem Büro drei bis vier Mitarbeiter fest eingestellt und tausende Freiwillige mobilisiert, die für ihn auf der Straße und im Internet agitierten.
Doch aufgrund einer Bewährungsstrafe infolge eines zweifelhaften Strafprozesses durfte er laut russischem Gesetz im Endeffekt zur Wahl nicht antreten. Dies hatte die Zentrale Wahlkommission (ZIK) Ende 2017 endgültig bestätigt. Nawalny antwortete auf sein Antrittsverbot mit einer neuen Strategie, die ihm ermöglichen sollte, sich zumindest indirekt an den Wahlen zu beteiligen: Nach der Ablehnung seiner Kandidatur rief er zu Protestaktionen und einem „Streik der Wähler“ auf. Im Gegensatz zu einer passiven Wahlboykott-Haltung sei der Streik ein aktiver Ausdruck zivilen Ungehorsams gewesen, so Gleb Pawlowski.1

Da Nawalny als parteiloser Kandidat angetreten wäre, war seine Zulassung an 300.000 Unterstützer-Unterschriften aus mindestens 40 Regionen gebunden, die er im Zeitraum zwischen Ende Dezember 2017 und Ende Januar 2018 hätte sammeln müssen. So will es das Wahlgesetz. Da diese Zeit zu kurz für eine wirkungsvolle Mobilisierungskampagne schien, sammelten die Regionalbüros seit Mitte 2017 etwas anderes: Versprechen auf Unterschriften. Wenn es dann darauf ankommt, so die Idee, geht es schneller.
Wahlkommissionen erklären Unterschriften für oppositionelle Kandidaten häufig für ungültig: sie stammten von fiktiven Personen, so die übliche offizielle Begründung. Daher nahmen Nawalnys Mitarbeiter zusätzlich die persönlichen Daten jedes Unterstützers auf, jeder Pass wurde gescannt und mit dem amtlichen Personenregister abgeglichen.

Wahlkampf gegen Windmühlen

Sowohl diese hohen formalen Anforderungen als auch informelle Ausschlusspraktiken sind Teil der Funktionslogik des russischen politischen Systems, das oft als elektoral-autoritär bezeichnet wird. Entscheidende politische Ämter werden zwar durch Wahlen vergeben, doch der politische Wettbewerb im Vorfeld wird zugunsten des Status Quo verzerrt: Wahlfälschungen sind dabei nur das letzte Mittel – viel wichtiger sind präventive Maßnahmen wie Diskreditierung, Einschüchterung und Nichtzulassung zu Wahlen.

Die Strategen in Nawalnys Kampagne versuchten, diese Funktionsprinzipien offenzulegen. Daher wurde jede Durchsuchung und jede Verhaftung zum Ereignis in den Sozialen Medien, jeder Gerichtstermin zur Bühne für politische Reden. Und auch die vielen kleinen Nadelstiche in den Regionen wurden genau dokumentiert – ob physische Attacken auf Mitarbeiter, Erstürmungen der Wahlkampfbüros durch Pro-Putin-Demonstranten, Einsatz der Administrativen Ressource in Form von Konfiskationen oder Druck des FSB auf Vermieter der Büroräume. Denn all dies gehörte bei Nawalnys Wahlkampagne zum Alltag.

Das Bild, das die Kampagne von ihrem Gegner zeichnete, wurde so für die potentiellen Unterstützer Stück für Stück mit Inhalt gefüllt. Dazu gehörte auch, die Staatsmacht gezielt herauszufordern und zur medienwirksamen Überschreitung von Grenzen zu verleiten. So reizte die Kampagne etwa den Spielraum des Demonstrationsgesetzes voll aus: Wo Kundgebungen von den örtlichen Behörden abgesagt wurden, wurde trotzdem mobilisiert – mit der Begründung, dass das Gesetz keine Absagen, sondern nur Verschiebungen gestattet. So konnte man der Staatsmacht im Falle von Verhaftungen vorwerfen, sich nicht an die eigenen Gesetze zu halten.

Der Staat, dargestellt als brutaler und inkompetenter Leviathan, stand dabei stets dem eigenen Beispiel einer effizienten, modernen Massenorganisation gegenüber. Der einschlägige visuelle Stil der regionalen Büros war dabei kein Zufall, er spiegelte die Organisationsstruktur der gesamten Kampagne wider. Denn zwar warb Nawalny für politische Liberalisierung und Demokratisierung, zwar betonte er, wie wichtig regionale und lokale Selbstbestimmung seien, die Kampagne aber funktionierte straff hierarchisch und vollständig zentralisiert. Jedes Regionalbüro hatte klare Ziele zu erfüllen. In Großstädten galt es beispielsweise, 10.000 Unterschriften zu sammeln, einige hundert Wahlbeobachter auszubilden, eine bestimmte Anzahl Agitationsmaterialien zu verteilen. Dafür zahlte das Hauptquartier jeweils drei bis vier Mitarbeitern Gehälter, finanzierte die Büroausstattung und koordinierte die Kommunikation mit den freiwilligen Helfern. Die Kampagne war effizient – demokratisch war sie nicht.

Programm und Unterstützer

So gab es auch keine Möglichkeit für die Unterstützer, inhaltlich zum Programm beizutragen. Die sechs Thesen seines Wahlprogramms, je in Verbindung mit einigen Forderungen, waren dabei kaum mehr als ein Gerüst.2 Dieses wirkte in der Gesamtschau zudem uneinheitlich: Einerseits wurde die – tatsächlich enorme – ökonomische Ungleichheit angeprangert, es wurden Erhöhungen des Mindestlohns und der Renten versprochen sowie Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Gesundheitswesen in Aussicht gestellt. Andererseits sollten Steuern und Abgaben für kleine Unternehmen vollständig aufgehoben, Regularien abgeschafft und der Staatsapparat deutlich verkleinert werden. Mehrausgaben sollten durch Kürzung anderer Posten finanziert werden – etwa des Verteidigungsetats. Und durch kolossale Einsparungen, die dem Budget infolge von Nawalnys angekündigten Anti-Korruptions-Reformen hätten zufallen sollen.

Gesellschaftspolitisch war die Richtung hingegen etwas klarer: Nawalny positionierte sich deutlich liberaler als das politische Establishment. Und doch verwies er oft auf seinen orthodoxen Glauben und hielt sich bei Forderungen bezüglich der Rechte sexueller Minderheiten zurück. Seine nationalistische Rhetorik schließlich hatte Nawalny für seine Kampagne stark reduziert. Einzig übriggeblieben war davon die Forderung nach einer Visapflicht für Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien.

In Magenta und Türkisblau ist der Schriftzug „Nawalny 20!8“ allgegenwärtig / Foto © navalny.com

Die Strategie der programmatischen Ausrichtung war klar: Solange Nawalny der einzige blieb, der glaubhaft demokratische Veränderungen und effektive Korruptionsbekämpfung versprach, bot er allen, die diese Forderungen teilten, etwas an. Und er versuchte dabei, möglichst wenige abzuschrecken. Was von seinen Forderungen Taktik, was Überzeugung war, blieb unklar.

Aus diesem Grund fanden sich unter seinen Unterstützern und Mitarbeitern Menschen mit durchaus unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Ansichten. Verwendet man die europäischen Labels, könnte man sagen: Sozialdemokraten arbeiteten mit Liberalen zusammen, Konservative mit Libertären. Sozialisten hingegen sahen die wirtschaftsliberalen Forderungen meist skeptisch und konnten sich nur in Ausnahmefällen zu Solidaritätsbekundungen durchringen.3 Doch auch im liberal-oppositionellen Lager hatte Nawalny nicht nur Freunde. Manche warfen ihm einen autoritären Führungsstil vor und sahen in ihm keine plausible Alternative zur heutigen vertikalen Organisation von Politik;4 andere beklagten den populistischen Stimmenfang durch Vereinfachung - insbesondere in Bezug auf die linken Elemente in seinem Programm.5

Symbole eines ehrlichen Neuanfangs

Wichtiger als konkrete Programmpunkte – hier sind Nawalny und Putin einander ähnlich – erwies sich die emotionale Seite der Kampagne, die Vertrauen in Nawalnys Person schaffen sollte. Nawalny und sein Team, allen voran Kampagnenchef Leonid Wolkow, fungierten als Symbole eines ehrlichen Neuanfangs. Gleichzeitig setzte die Kampagne gezielt darauf, Protagonisten der Machtelite als verbraucht, gestrig und verlogen darzustellen. Die technisch aufwändigen, in unterhaltsamer YouTube-Manier präsentierten und mit beißendem Sarkasmus kommentierten Enthüllungsvideos angeblicher Korruption hoher Amtsträger sprachen ein ums andere Mal dieselbe Botschaft: Wenn Putin diese Exzesse duldet, verdient er nicht das Vertrauen der Wähler.

Genaue Daten zu Freiwilligen und Unterstützern bleiben auch nach der Wahl offen. Augenfällig ist jedoch die hohe Zahl von Schülern und Studenten, insbesondere bei den Demonstrationen und Kundgebungen. Doch dass Nawalny auch andere Unterstützer hatte, lässt sich an den Spendensummen ablesen: insgesamt 168 Millionen Rubel (rund 2,5 Millionen Euro) seien es von Dezember 2016 bis kurz vor der Wahl gewesen. Zwar basierte die Kampagne auf Online-Crowdfunding (Stabschef Wolkow war der erste, der diese Methode in Russland für politische Arbeit einsetzte). Doch es ist gut vorstellbar, dass zur Crowd neben Kleinspendern auch gut situierte Unternehmer gehörten, die sich von einem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und von der angekündigten Bekämpfung der Oligarchen eigene Vorteile versprachen6

Eine Million Unterschriften

Das erklärte Ziel Nawalnys Kampagne war es gewesen, durch schiere Mobilisierungskraft seine Zulassung zu erzwingen. Ende Dezember hatte Nawalny bereits über 630.000 Unterschriften, eine Million sollten es bis zur Wahl werden. Dazu kommen die Protestaktionen vom 26. März und 12. Juni, die in knapp 100 Städten so viele Menschen auf die Straßen brachten, wie zuletzt dieProteste nach den Parlamentswahlen 2011. So viele Bürger könne der Kreml nicht ignorieren und müsse dann dafür sorgen, dass das Urteil gegen Nawalny revidiert wird, so das Kalkül.

Es sind beeindruckende Zahlen, die Nawalny vorlegen konnte, doch sollte die Schlagkraft der Kampagne trotzdem nicht überschätzt werden. Umfragen sprachen ihm eine Bekanntheit bei 55 Prozent der Gesellschaft zu – ein Wert, der im Sommer vor der Wahl trotz der Proteste stagnierte.7 Das Fernsehen verbreitete Schmähungen, die politische Elite schwieg Nawalny tot. Und auch bei der Jugend, die so zahlreich die Proteste unterstützte, war nur ein Bruchteil von demokratisch-oppositionellen Themen zu begeistern.8 Nach der Entscheidung der Zentralen Wahlkommission war klar geworden, dass die politische Führung sich nicht auf einen Wahlkampf mit Nawalny einlässt. Doch seine Kampagne in den Regionen konnte bereits einen anderen, möglicherweise nicht einmal beabsichtigten Effekt vorweisen: Sie brachte Menschen zusammen, stimulierte Koordination und Diskussion, förderte Solidarität. Daraus kann noch immer etwas Neues erwachsen – auch ohne Nawalny. Ob dafür allerdings der Zusammenhalt unter den Aktivisten ausreicht, die vor allem der Kampf für ihren Kandidaten einte, ist ungewiss.


1.zit. nach: svoboda.org: „Vybory zakončilis’“
2.2018.navalny.com: Bazovye punkty predvybornoj programmy Alexeja Naval’nogo
3.Eine dieser Ausnahmen: jacobinmag.com: Not Just an Artifact
4.The New York Times: Will Russia’s Only Opposition Leader Become the Next Putin?
5.znak.com: „Naval’ny čudoviščno upraščaet: On chočet vlasti zdes’ i sejčas“
6.Die Kampagne veröffentlicht keine Details zu Spendern oder einzelnen Summen, Aussagen dazu sind also spekulativ. Aus persönlichen Gesprächen mit der Kampagne nahestehenden Personen lässt sich jedoch schließen, dass Navalnyj auch Unterstützung aus der Wirtschaft erfährt.
7.Siehe die Umfragen des Levada-Zentrums vom März und Juni 2017
8.Krawatzek, Felix (2017): Russische Jugend zwischen Rebelion und Integration, in: Russlandanalysen Nr. 341, S. 7-9
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