Dossier

1917/2017 – 100 Jahre Revolution

Das Jahr 1917 nimmt in der Geschichte Russlands eine besondere Stellung ein. Innerhalb eines Jahres erlebte Russland massive Umwälzungen, die die Entwicklung des Landes für viele Jahrzehnte stark geprägt haben. Bis heute ist das Erbe dieses Umbruchsjahres noch nicht vollständig verarbeitet: Viele Schlüsselereignisse, vor allem die Machtübernahme durch die Bolschewiki – in die Geschichte eingegangen als Oktoberrevolution – benötigen eine grundsätzlich neue Einordnung.

Zuvor, im Februar/März 1917, war die herrschende Zarendynastie zu Fall gebracht worden und eine parlamentarische Übergangsregierung entstanden. Nach einigen politischen Krisen mündete die Entwicklung – die als demokratischer Ansatz angelegt war – in der Machtergreifung einer einst wenig bedeutenden radikalen Splittergruppe, den Bolschewiki. Diese konnten sich in dem darauf folgenden blutigen Bürgerkrieg (1918–1921) behaupten.

Im heutigen Russland spielt die Vergangenheit mindestens eine genauso wichtige Rolle wie die Gegenwart. Die Debatten um historische Ereignisse und Persönlichkeiten beschäftigen nicht nur Fachkreise, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Bei Beobachtung dieser Debatte zeigt sich, dass es nicht nur Unterschiede in der Wahrnehmung der Geschichte gibt, sondern vielmehr eine Spaltung der russischen Gesellschaft selbst. Die Gegenwart wird mit historischen Epochen verglichen, die als Modelle fürs Heute dienen sollen. Geschichte wird so auch zu Politik. Das gilt ebenso für das Jahr 1917.

Der Historiker Boris Kolonizki meint, in der russischen Gesellschaft dauere die Revolution von 1917 immer noch an. Im Jahr 2017 ist sie in jedem Fall aktuell wie nie.

Das dekoder-Dossier wirft Schlaglichter auf das Jahr 1917 und stellt den Kontext zur Gegenwart her: Wie ist der Umgang mit der Geschichte 100 Jahre danach? Welche Ereignisse sind zentral? Und welche Debatten werden geführt? 

Inhalte

Gnose

Russischer Bürgerkrieg

Dieser Krieg veränderte den eurasischen Großraum zwischen Berlin und Wladiwostok, Budapest und Peking, Murmansk und Teheran tiefgreifender als der Erste Weltkrieg. Nikolaus Katzer über den russischen Bürgerkrieg, der seinen Platz in der Erinnerungslandschaft Russlands und Europas bis heute noch nicht gefunden hat. 

Gnose

Oktoberrevolution 1917

Die Revolutionen des Jahres 1917 markierten eine Zeitenwende in Russland: Im Februar der Sturz des letzten Zaren und nur wenige Monate später, am 7. und 8. November, der Sturz der Übergangsregierung durch die Bolschewiki unter Führung von Lenin. Robert Kindler über Ursachen und Folgen der Oktoberrevolution.

Gnose

Alte und neue Zeitrechnung

Orthodoxe Gläubige in Russland feiern heute Stary nowy god (dt. Altes neues Jahr). Aber wie kam es dazu? Leonid Klimov über die Kalenderreform, die alte und neue Zeitrechnung und chronologisches Doppeldenken in Russland.

Gnose

Sprache und Revolution

Die radikale Sprachreform, die die Bolschewiki wenige Wochen nach dem Oktoberumsturz verabschiedeten, wurde zum Symbol für das Abschneiden alter, orthodoxer Zöpfe und das Anbrechen einer neuen Zeit. Sandra Birzer über die Buchstaben, die der Reform zum Opfer fielen, und über die tiefgreifenden sprachlichen Umwälzungen.

Gnose

Kunst und Revolution

Die Revolution 1917 markierte eine Zäsur in der Kunstproduktion Russlands: Aufgaben und Themen der Kunst änderten sich drastisch, genauso die gesellschaftliche Stellung des Künstlers. Miriam Häßler über die Revolutionskunst, die die Alltags-Kultur der Sowjetunion nachhaltig prägte, und auf ihrem Höhenflug ein jähes Ende fand.

Gnose

Das Revolutionsjahr an der Peripherie

1917 war nicht nur das Jahr der Revolutionen in den Zentren des russischen Staates, sondern es war auch das Jahr, in dem etablierte Ordnungen an den Peripherien des Imperiums zerbrachen. Robert Kindler über nationale Unabhängigkeitsbewegungen, bolschewistische Nationalitätenpolitik und die Gewalteskalationen des Bürgerkriegs. 

Gnose

Lenin in der russischen Revolution

„Vom Fieberwahn gezeichnet“, „Bürgerschreck“ und leibhaftiger „Antichrist in der Einbildung der Spießbürger“ – so schmähten 1917 Lenin die bürgerliche Öffentlichkeit und Vertreter der sozialistischen Parteien. Diese Dämonisierung trug dazu bei, dass Lenin eine Aura bekam, in der seine Maßlosigkeit und Manie umso attraktiver wurden. Benno Ennker über den Bolschewisten-Führer im Jahr 1917, der heute vor 151 Jahren geboren wurde.

Gnose

Russland im Ersten Weltkrieg

Am 11. November 1918 endete der Erste Weltkrieg. Robert Kindler über Russlands Rolle in diesem Krieg, der als Auslöser der Revolutionen im Jahr 1917 gilt – und in der Erinnerungskultur heute im Schatten der Oktoberrevolution steht.

Gnose

Lenins Fahrt in die Revolution

Als „weittragendes und schicksalsentscheidendes Geschoss“ in der neueren Geschichte bezeichnete Stefan Zweig den „versiegelten Zug“, in dem Lenin im April 1917 aus dem Schweizer Exil nach Russland zurückkehrte. Frithjof Benjamin Schenk über eine mythenumwobene Episode der Russischen Revolution.

Gnose

Frauen und die Revolution

Es waren Frauen, die mit ihrer Demonstration am 8. März die Ereignisse in Gang setzten, die vor 100 Jahren den Zaren stürzen und den radikalen Politikwechsel ermöglichen sollten. Zu der Zeit kämpften Frauen in Russland immer mehr um ihre Rechte – und gestalteten die revolutionären Umbrüche aktiv mit. Carmen Scheide über die historische Frauenbewegung, ihre Vorstellungen von einer sozialistischen Zukunft und den Verlust revolutionärer Utopien.

Gnose

Nikolaus II.

Nach der Februarrevolution 1917 gab es bis in höfische Kreise hinein nur wenige, die Nikolaus II. eine Träne nachweinten. Matthias Stadelmann über den letzten russischen Zaren, seine Heiligsprechung und weshalb diese den heutigen Umgang mit der historischen Figur so schwierig macht.

Gnose

Die Februarrevolution

„Um mich herum sind Verrat, Feigheit und Betrug“, notierte Zar Nikolaus II. am 2. März (15. März) 1917 in sein Tagebuch, nachdem er am Tag zuvor in einem Eisenbahnwaggon seine Abdankungsurkunde unterzeichnet hatte. Frithjof Benjamin Schenk über die dramatischen Entwicklungen im Winter 1917, die als Februarrevolution in die Geschichte eingegangen sind. 

Gnosen
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Die Februarrevolution

„Um mich herum sind Verrat, Feigheit und Betrug“1, notierte Zar Nikolaus II. am Abend des 2. März 1917 in sein Tagebuch, nachdem er am Tag zuvor in der alt-russischen Stadt Pskow in einem Eisenbahnwaggon seine Abdankungsurkunde unterzeichnet hatte. Die dramatischen Entwicklungen, die diesem Tag vorausgegangen waren, sind als Februarrevolution in die Geschichte eingegangen. Mit ihr endete die über dreihundert Jahre währende Herrschaft des Hauses Romanow im Russischen Reich. Gleichzeitig läutete sie die Phase der spannungsreichen Doppelherrschaft der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Rat (sowjet) der Arbeiter- und Soldatendelegierten ein.

Demonstranten versammeln sich vor dem Taurischen Palast / Foto © unbekannter Autor/Wikipedia

In den Jahren 1916/1917 erlebte Russland seinen dritten, in diesem Jahr besonders kalten Kriegswinter. Die Last des Ersten Weltkrieges, eingefrorene Verkehrswege und streikende Arbeiter führten zu einer dramatischen Versorgungskrise in der Hauptstadt. Die angekündigte Rationierung der Brotvorräte trieb die Menschen in Petrograd auf die Straßen. Es kam zu Brotkrawallen und Protestmärschen. Einer Demonstration von Textilarbeiterinnen und Hausfrauen am Internationalen Frauentag (23. Februar/8. März) schlossen sich in den Außenbezirken eine große Zahl von Arbeitern an.
 
In den folgenden Tagen spitzte sich die Lage in der Hauptstadt dramatisch zu. Jeden Tag schlossen sich mehr Menschen den Protestmärschen an. Am 24. Februar traten etwa 210.000 Arbeiter in den Ausstand, am folgenden Tag herrschte in Petrograd praktisch Generalstreik. Der Protest nahm zunehmend politischen Charakter an. Die Demonstranten „eroberten“ das Denkmal für Zar Alexander III.  auf dem Snamenskaja-Platz, hissten rote Fahnen und proklamierten „Nieder mit dem Krieg!“ und „Nieder mit der Autokratie!“
 
Nach Jahren eines entbehrungs- und verlustreichen Krieges war die Autorität der Zarenregierung untergraben. Das Russländische Reich steckte in einer tiefen Systemkrise. Ungeachtet umfassender Agrarreformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war die russische Landfrage nach wie vor ungelöst. Hinzu kamen prekäre Lebensbedingungen der wachsenden Zahl an Industriearbeitern und sich verschärfende Nationalitätenkonflikte an den Rändern des Vielvölkerreiches. Auch liberale Kräfte aus den gebildeten Schichten der Städte wandten sich zunehmend von der herrschenden Dynastie ab. Gerüchte kursierten, die Kaiserin stehe in Kontakt mit der Regierung des Deutschen Reiches und plane, Russland an den Feind zu verraten.

Spirale der Gewalt

Die Geschwindigkeit, mit der sich die Lage zuspitzte, ist unter anderem damit zu erklären, dass Nikolaus II. nicht vor Ort, sondern im Hauptquartier der Truppen im weißrussischen Mogiljow weilte. Vom Ernst der Lage in Petrograd machte er sich offenbar keine Vorstellung, Stadtregierung und Militärs informierten ihn nur bruchstückhaft über die sich ausbreitende Anarchie in der Hauptstadt. Der Befehl des Zaren vom 25. Februar, die Demonstranten mit Hilfe des Militärs auseinanderzutreiben, erwies sich als fatal. Gegebenenfalls wäre es möglich gewesen, die Protestwelle durch ausgleichende Maßnahmen und eine Verbesserung der Lebensmittelversorgung einzudämmen. So drehte sich die Spirale der Gewalt immer weiter. Am folgenden (zweiten) Blutsonntag der russischen Geschichte (26. Februar 1917) kamen bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und zarentreuen Truppen bereits unzählige Menschen ums Leben. Einen Wendepunkt markierte die Entscheidung meuternder Soldaten, nicht auf Zivilisten und „unsere Mütter und Schwestern“ zu schießen. Die Unterstützung durch diese bewaffneten Regimenter verlieh der Protestbewegung Stärke und Organisation.
 
Als am 27. Februar bewaffnete Arbeiter und Soldaten Arsenale, Waffenfabriken, die Telefonzentrale sowie einige Bahnhöfe besetzten und über 8.000 Häftlinge aus den Gefängnissen befreiten, hatte die Zarenregierung die militärische Herrschaft über die Hauptstadt so gut wie verloren. Auf den Straßen herrschten nun anarchische Zustände. Auf der Peter und Pauls Festung wehte am 28. Februar die revolutionäre Rote Fahne.
 
Der Gewalt fielen nicht nur Denkmale und Symbole der Autokratie zum Opfer. Marodierende Demonstranten plünderten Geschäfte und machten Jagd auf Aristokraten und Menschen in „bürgerlicher Kleidung“. Die Aktionen waren dabei von keiner revolutionären Partei oder Führung gelenkt, sondern eine relativ spontane Reaktion auf die Versorgungskrise und den Missbrauch beziehungsweise den dramatischen Verfall der Ordnungsmacht der Autokratie. In den Februartagen gab es in Petrograd mehr Tote als während der Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917.

Neue Machtzentren

Angesichts der chaotischen Zustände in der Hauptstadt formierten sich am 27. Februar in den gegenüberliegenden Flügeln des Taurischen Palastes zwei neue Machtzentren. Im linken Trakt tagte der Petrograder Rat (sowjet) der Arbeiter- und Soldatendelegierten, der sich als Vertretung der demonstrierenden Arbeiter und Soldaten verstand und dessen Exekutivkomitee von sozialistischen Kräften dominiert wurde. Im rechten Flügel formierte sich aus dem Progressiven Block des russischen Parlaments (Duma) eine zwölfköpfige Abgeordnetengruppe, die als Provisorische Regierung für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in der Hauptstadt sorgen wollte. Nachdem der Ministerrat der Zarenregierung am 27. Februar seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde in der Duma der Ruf nach Abdankung des Zaren laut. 
 
Um in diesen schweren Stunden näher bei seiner Familie zu sein, machte sich Nikolaus II. am 28. Februar im kaiserlichen Zug auf den Weg von Mogiljow in Richtung Petrograd. Da Revolutionäre jedoch bereits einen Teil der Bahnlinie in die Hauptstadt erobert hatten, war ihm der Weg dorthin versperrt. Die Reise endete am 1. März in Pskow. Hier, circa 200 Kilometer südlich der Hauptstadt, wollte Nikolaus die weitere Entwicklung abwarten. Mittlerweile hielt jedoch auch die Armeeführung den von der Duma geforderten Rücktritt des Zaren für unumgänglich. Nachdem ihm alle Frontkommandeure zu diesem Schritt geraten hatten, unterzeichnete Nikolaus am folgenden Tag im Salonwagen seines Zuges schweren Herzens seine Abdankungsurkunde zugunsten seines Bruders Michail. Dieser verzichtete jedoch einen Tag später ebenfalls auf den Thron.

„Die Sache war erledigt − es gab keinen Kaiser Nikolaus II. mehr“

Im Anschluss, so erinnert sich sein Adjutant, saß Nikolaus „friedlich und ruhig da. Er hielt die Unterhaltung in Gang, und nur seine Augen, die traurig und nachdenklich waren und in die Ferne starrten, und seine nervösen Bewegungen, wenn er nach einer Zigarette griff, verrieten seine innere Verstörtheit“.2 Wenig später verließ der Zug der Sondergesandten der Duma, die die Abdankungsurkunde entgegengenommen hatten, den Bahnhof von Pskow in Richtung Petrograd. Später erinnerte sich der Hofhistoriograf Dimitri Dubenski an die Szene: „Eine kleine Menschengruppe beobachtete die Abfahrt. Die Sache war erledigt − es gab keinen Kaiser Nikolaus II. mehr.“3
 
Die Provisorische Regierung hatte zwar die Verantwortung für die politische Führung des Landes übernommen, verfügte de facto jedoch nur über beschränkte Macht. Der Petrograder Sowjet, andererseits, etablierte sich immer deutlicher als wichtiges Zentrum der Macht, weigerte sich jedoch zunächst, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Hinzu kam, dass die Provisorische Regierung grundlegende Entscheidungen über die Neuordnung des Landes einer verfassungsgebenden Versammlung übertragen wollte, deren Wahl sich lange verzögerte. Auch vor einer Beendigung des verhassten Weltkrieges schreckte die neue Regierung, auch auf massiven Druck der verbündeten Mächte Großbritannien und Frankreich, zurück. So entstand eine politische Konstellation, die radikalen Kräften von rechts und links neue Spielräume für politische Agitation und Angriffe auf die neue, labile Ordnung bot.


1.militera.lib.ru: Nikolaj II Aleksandrovič. Dnevniki
2.Mordvinov, Anatolij A. (1923): Otryvki iz vospominanii, in: Russkaja letopis´ Nr. 5 (1923), Paris, S. 65-177, Zitat: S. 113. Dt. Übers. nach: Figes, Orlando (2001): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, München, S. 369
3.Dubenskij, Dmitrij N. (1927): Kak proizošel perevorot v Rossii, in: Ščegolev, P.E. (Hrsg.): Otrečenie Nikolaja II. Vospominanija očevidcev, Leningrad (Repr. Moskau 1990), S. 37-84, Zitat: S. 72
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Heute vor 31 Jahren trafen sich die Staatsoberhäupter von Russland, Belarus und der Ukraine und vereinbarten, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu gründen. Damit besiegelten sie faktisch das Ende der Sowjetunion. Welche Dynamiken damals die einstige Supermacht zum Zerfall brachten, skizziert Ewgeniy Kasakow.

 

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Frauen und die Revolution

Es waren Frauen, die mit ihrer Demonstration am 8. März die Ereignisse in Gang setzten, die vor 100 Jahren den Zaren stürzen und den radikalen Politikwechsel ermöglichen sollten. Zu der Zeit kämpften Frauen in Russland immer mehr um ihre Rechte – und gestalteten die revolutionären Umbrüche aktiv mit. Carmen Scheide über die historische Frauenbewegung, ihre Vorstellungen von einer sozialistischen Zukunft und den Verlust revolutionärer Utopien.

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