
Seit dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine ist die Fremdenfeindlichkeit in Russland massiv gestiegen. Gewaltbehörden verüben zusammen mit Neonazis Pogrome gegen sogenannte Gastarbaitery, staatliche Propagandaorgane stacheln Fremdenhass an und feiern russische Rechtsextremisten als Helden. Nach dem Terroranschlag in der Crocus City Hall im März vergangenen Jahres hat der Kreml die Repressionen gegen ausländische Arbeitskräfte nochmals verschärf. Trotz massiven Arbeitskräftemangels wollen hohe Politiker hunderttausende Menschen abschieben.
Das staatliche Fremdenhass-Programm dient laut Beobachtern und Leaks dazu, vom Krieg und damit verbundenen Inflation und Steuererhöhungen abzulenken. Zu den rechtsextremen Handlangern gehört etwa die 2020 gegründete Russkaja obschtschina (dt. Russische Gemeinschaft), die sich als christlich-orthodox positioniert.
Da aber auch viele russische Nazis zu Neuheidentum, Esoterik und Okkultismus neigen, musste eine nicht-christliche Gruppe erfunden werden: Seit 2022 füllt Sewerny Tschelowek (dt. Mensch des Nordens) diese Lücke. Diese selbsternannte Bewegung um Gründer Michail Niz folgt dem Staatstrend zum Magischen und mischt dabei unterschiedlichste Ideologien zusammen. Meduza berichtet, warum regionale Beamte gerne mit Mensch des Nordens zusammenarbeiten und wie man in Moskau dazu steht.
Bis zum Beginn des großen russischen Krieges gegen die Ukraine kannten viele in Russland Mischa Mawaschi (mit bürgerlichem Namen Michail Niz) als Musiker. Erst machte er Rap, und dabei war – anders als bei den meisten Vertretern dieses Genres – das wichtigste Thema seiner Texte ein gesunder Lebenswandel.
2021 nahm Mawaschi den Track 4 Unzen auf. In diesem Lied beschreibt er wohl den eigenen Lebensweg. Der lyrische Held überwindet seine Schwierigkeiten durch Sport, beginnt sich für das gesellschaftliche Leben zu interessieren und versucht, nachhaltig zu handeln.
Der Musiker meinte damals: „Alle Menschen sind einzigartig, wir bleiben Menschen.“ Ein Jahr später schon gründete er die Bewegung Sewerny Tschelowek (dt. Mensch des Nordens), deren Ideologie im Nationalismus wurzelt. Mawaschi selbst bezeichnete die Bewegung als „ethnisch“.
2024 nahm er den Track Russisches Banner auf, in dem von Gleichheit der Völker schon keine Rede mehr war:
Russischer Charakter, russischer Hardcore
Das ist keine französische Brotkruste.
Russisches Bollwerk, russischer Druck.
Der Kaukasier kapiert es, der Tschurka nicht.
Die Ränder sind auf dem Irrweg, ganze Länder. [sic]
Die Ränder, Länder wachsen auf russischem Blut.
Sag’s allen: Wir werden zur Stelle sein.
Sag’s allen, die jetzt entrechtet wurden.
Mawaschi hat öffentlich erklärt, dass die Bewegung keine Opposition ist: „Gegen die Maschine [des Staates] zu marschieren, hat überhaupt keinen Sinn“, weil Gegner der Staatspolitik „meist eingebuchtet“ würden. Dabei hatte der Musiker in einer seiner ersten Videobotschaften an potenzielle Teilnehmer der Bewegung versichert, dass er nicht mit der Regierung zusammenarbeiten würde.
Bis 2025 hatten sich Mawaschis Bewegung mehr Anhänger angeschlossen als erwartet: So haben 7200 Personen den Telegram-Kanal für Samara von Mensch des Nordens abonniert, beim Nowosibirsker Kanal sind es 8200, beim Sankt Petersburger 19.000 und den Moskauer Kanal haben 41.500 abonniert.
Als wichtigstes Ziel wird auf der Webseite der Bewegung die „Wiedergeburt und Verbreitung der Werte, Traditionen und Kultur der Russen und der anderen slawischen Völker“ genannt, und eine „Konsolidierung der Bürger auf der Grundlage der slawischen Ethnie“. Die Autoren und Abonnenten der regionalen Telegram-Kanäle kritisieren ausländische Arbeitskräfte, die zum Geldverdienen nach Russland kommen, dafür, dass sie angeblich nur „auf russischer Sozialhilfe und russischen Steuern sitzen“ würden.
Im Februar 2024 haben Angehörige der Bewegung aus dem Moskauer Umland sogar an einer „Razzia“ von russischen Sicherheitskräften gegen ausländische Arbeitskräfte teilgenommen; was genau dabei ihre Rolle war, ist unklar.
Nachdem Mawaschi sich im Aktivistenmilieu einen Namen gemacht hatte, bezog er zunehmend auch zu politischen Fragen Stellung. Er kritisiert die Leiterin der Liga für ein sicheres Internet, Jekaterina Misulina, und den Sänger Schaman wegen zu teurer PR-Maßnahmen und Heuchelei. Er unterstützt Putin und den Krieg gegen die Ukraine, lobt das Oberhaupt der Oblast Wologda, Georgi Filimonow (der in seiner Region Alkohol und Abtreibungen verbieten will), und bekennt, dass er „immer“ Nikita Michalkows Sendung Besogon schaue.
„Es gibt unter Russen nicht nur orthodoxe Christen“
Nach dem Beginn des großangelegten Krieges wurden nationalistische Bewegungen in Russland populärer. Die Anhänger unterstützen nicht nur den Krieg, sondern scharen sich auch um eine weitere populäre und vom Staat geförderte Vorstellung, nämlich der vom „Kampf gegen Migranten“. Die bekannteste ist die 2020 gegründete Russkaja obschtschina (dt. Russische Gemeinschaft). Diese Bewegung gilt als christlich-orthodox; die Leitung des Moskauer Patriarchats empfahl sogar ihren regionalen Priesterschaften, Kontakt zu den Anhängern aufzunehmen.
In einigen Regionen, vor allem in der Moskauer und der Swerdlowsker Oblast, arbeiten Anhänger der Russischen Gemeinschaft eng mit lokalen Sicherheitskräften zusammen, sorgen dabei oft für Selbstjustiz. Im Frühjahr 2025 haben Leute von der Obschtschina einen Bewohner von Kowrow in der Oblast Waldimir in den Wald verschleppt und verprügelten ihn dort brutal. Das Portal Potok schrieb, dass der Konflikt zwischen ultrarechten Aktivisten und dem 18-jährigen Ilja begann, nachdem der junge Mann angeblich jemanden aus der Gemeinschaft beleidigt hat.
Später brachen Anhänger der Russischen Gemeinschaft in eine Wohnung in Wsewoloschsk in der Leningrader Oblast ein, wo sich ein armenischer Staatsangehöriger mit Freunden aufhielt. Bei dem Versuch, sich zu verteidigen, legte er Feuer und starb letztendlich.
Auch Mensch des Nordens schaffte es mehrmals in schauderhaften Kontexten in die Medien: Im Frühjahr 2023 zerhackten und verbrannten fünf Jugendliche aus Perm eine Ikone und wollten damit „den Christen eine Antwort auf die Verfolgung der Heiden geben“. Aktivisten von Mensch des Nordens spürten dann einen von ihnen auf, malträtierten und zwangen ihn, ein Video aufzunehmen, um „sich gegenüber den orthodoxen Christen zu entschuldigen“.
Im Sommer 2025 kam es zum Streit zwischen einem 13-Jährigen mit armenischem Hintergrund und einem anderen Kind; das Video landete im Internet. Nachdem Mischa Mawaschi sein Publikum auf das Video aufmerksam gemacht hatte, schickten Anhänger der Bewegung Drohungen an den 13-Jährigen und dessen Familie, berichtet das Portal 7×7.
Trotz alledem schien Mensch des Nordens einem sibirischen Unternehmer dennoch „eine ruhigere Geschichte“ zu sein als die Russische Gemeinschaft. „Für mich gab es keine Alternative. Deswegen habe ich mit alten Mitstreitern [in der rechten Bewegung] beschlossen, in unserer Stadt eine lokale Organisation zu gründen“, erzählt der Unternehmer gegenüber Meduza. „Ich würde nicht sagen, dass es Unterstützung durch die Regierung gibt. Wir machen Sport, richten Plattformen ein, organisieren Veranstaltungen, singen Lieder, halten Literaturabende ab. Und wir unterstützen unsere Jungs bei der militärischen Spezialoperation.“

Ein Lämpfer im Kriege gegen die Ukraine, der mit Mawaschi persönlich bekannt ist, meint, dass sich dessen Bewegung Leute anschließen, die von der „ethno-religiösen“ Schieflage der Russischen Gemeinschaft enttäuscht sind. „Das ist eine ziemlich wackelige Position, weil es unter den Russen nicht nur orthodoxe Christen gibt, sondern auch Neopaganisten, Anhänger von Natur- und Ahnenkulten, Atheisten und Moslems. Dabei streben dem Menschen des Nordens vor allem Leute zu, die dem Neuheidentum anhängen.“
„Man setzt sich zusammen, konsolidiert sich“
Die Veranstaltung von Literaturabenden und wöchentliche Sporttrainings seien für alle Basisorganisationen der Bewegungen Pflicht, erklärte Mawaschi in einem Videoclip, der kurz nach der Gründung 2022 aufgenommen wurde:
„Wir trainieren als Familien, das ist wichtig. Die Jungs trainieren mit Männern, die Mädchen trainieren mit Frauen im gleichen Saal. Wenn ihr euch beim Fußball verausgaben wollt, kein Problem. Ich denke aber, dass Männer Kontaktsport machen und in Form sein sollten […] Frauen können Kickboxen für Frauen machen, oder Fitness.“

Für die „Literaturclubs“, die einmal pro Woche in jeder Stadt zusammenkommen sollen, in der es einen Ableger von Mensch des Nordens gibt, empfiehlt Mawaschi eine „Erörterung von Büchern“ (ohne zu sagen, welcher), Musizieren und Vorträge von „Professoren“, die verwandte Ansichten vertreten. „Jedes Quartal sollte es eine offizielle Veranstaltung geben, unter Abstimmung mit der Verwaltung.“
Die regionalen Organisationen von Mensch des Nordens, das betonte Mawaschi, sollten „sich selbst tragen“, also keine Spenden von Unbekannten annehmen, um nicht bei den „ausländischen Agenten“ zu landen. Zahlungen von bekannten Unternehmern, die mit der Bewegung sympathisierten, seien aber willkommen, wie auch Kontakte zu Vertretern des Staates, für den Fall, dass Konflikte gelöst werden müssten. „Jemand kennt einen Febos (Mitarbeiter des FSB), ein anderer kennt einen aus der Verbrecherwelt der Stadt. Man setzt sich zusammen, konsolidiert sich, aktiviert Journalisten.“
Ein Unternehmer aus Sibirien meint, dass die Behörden in seiner Stadt der Bewegung „im Großen und Ganzen nicht helfen“, aber auch keine Hindernisse in den Weg legen, wenn Massentrainings unter freiem Himmel oder Veranstaltungen in Hinterhöfen oder öffentlichen Plätzen organisiert werden. Das Gleiche berichtet ein Aktivist der Bewegung aus dem Föderationskreis Nordwest.
In einigen Regionen arbeitet Mensch des Nordens allerdings enger mit den Behörden zusammen (trotz der Worte von Mischa Mawaschi, dass die Bewegung nicht zu einer „Polit-Agitur“ werden dürfe). So organisierte beispielsweise im Sommer 2025 in Tscheljabinsk der dortige Ableger der Bewegung die städtischen Festivals zum Tag der Taufe Russlands und zum Tag der Familie, Liebe und Treue zusammen mit der Oblast-Regierung und der Stadtverwaltung.
Einem der Abgeordneten des Stadtrates zufolge, mit dem Meduza sprach, und der anonym bleiben möchte, „begeistert sich“ der Bürgermeister von Tscheljabinsk „für traditionelle Werte – entweder zum Scherz oder aus Opportunismus oder im Ernst“; und er habe die Zusammenarbeit mit Mensch des Nordens selbst initiiert.
Alexej Loschkin ist nicht der einzige Bürgermeister, der mit Mensch des Nordens zusammenarbeitet. Das Stadtoberhaupt von Wladiwostok, Konstantin Schestakow, dankte im Frühjahr 2024 der Bewegung für die Beteiligung am russischen Pankration-Pokal, der in der Stadt stattfand.
Ein anonymer Bekannter des Wladiwostoker Bürgermeisters berichtet gegenüber Meduza, dass Schestakow „sich für das Thema Sport interessiert“, weil er selbst Kampfsport betreibt, in anderen Bereichen arbeite er mit der nationalistischen Bewegung aber nicht zusammen.
Dafür hat der Gouverneur der Oblast Wologda, Georgi Filimonow, schon 2023 PR-Clips von Mensch des Nordens weiterverbreitet. 2025 beteiligte sich die Bewegung in Tscherepowez an der Organisation des Festivals Himmel der Slawen. Das Festival ist eines von Filimonows Herzensprojekten, wurde nach einem Songtitel der [rechtsextremen – dek.] Gruppe Alissa benannt und vermittelt markant nationalistische Motive.
Mawaschi bezeichnet Filimonow als „Freund und Mitstreiter“. Der Gouverneur wiederum ist ein enger Bekannter von Putins Tochter Jekaterina Tichonowa, und sein Vater Juri Filimonow steht dem politischen Leiter der Präsidialadministration, Sergej Kirijenko, nahe.
„Die Möglichkeit für den Sponsor, sich in die patriotische Agenda einzubringen“
Das Logo von Mensch des Nordens besteht aus einem Schild, auf dem ein bärtiger Krieger in mittelalterlichem Helm zu sehen ist. In verschiedenen Regionen sind 26 Ableger der Bewegung offiziell registriert. Zur Zentrale wurde die 2022 in Woronesh gegründete „[Organisation] für die Wiedergeburt und Stärkung der Werte slawischer Völker, Mensch des Nordens“.
2024 hat das Kulturministerium der Oblast Woronesh den örtlichen Ableger von Mensch des Nordens mir 999.000 Rubel für das Projekt Poetisches Duell. Die Poesie soll leben gefördert. Mit diesem Gelde wurde ein Wettbewerb für junge Dichter veranstaltet. Mawaschi saß in der Jury. Das Finale fand „in Form eines Dichter-Duells“ (Poetry Battle) statt, hieß es in einer Pressemitteilung.
Ein Polittechnologe, der für die Regionalregierung und für Kandidaten von Einiges Russland arbeitet, die die finanziellen Möglichkeiten haben, Projekte wie Mensch des Nordens zu unterstützen, erklärt gegenüber Meduza, er verfolge eingehend die Entwicklung der Bewegung:
„Ich beobachte, dass in einigen Regionen städtische oder regionale Abgeordnete die jeweiligen Ableger der Bewegung unterstützen. Oft bauen sie [die Ableger von Mensch des Nordens] Plätze für sportliche Aktivitäten nicht mit eigenen Geldern. Die Unterstützung wird nicht an die große Glocke gehängt, aber wer es wissen will, weiß davon. Das ist gut für jene, die ein Unternehmen in der Baubranche, im Handwerk oder im Einzelhandel haben. Und auch die [entsprechenden] Überzeugungen müssen da sein. Das ist eine Möglichkeit für den Sponsor, sich in die patriotische Agenda einzubringen. Zudem bekommt er durch die Anhänger der Bewegung ein Netzwerk von Agitatoren, das ihm bei Wahlen von Nutzen sein kann.“
Ein Polittechnologe aus der Umgebung der Präsidialadministration bezeichnet Mensch des Nordens als „Light-Variante für Patrioten – für Unternehmer wie auch für gewöhnliche Leute“: „Bei der Russischen Gemeinschaft gab es Fragen, mit der Regierung gab es Probleme … Mensch des Nordens hat mehr Konjunktur: Sport, Nüchternheit, Familie. Deshalb kann der Gouverneur einen örtlichen Ableger [der Bewegung] zum Thema Patriotismus unter seine Fittiche nehmen, ohne dass es groß Fragen gibt. Bislang, jedenfalls.“
Der sibirische Unternehmer, der der Bewegung angehört, macht sich gleichwohl Sorgen um seine Perspektiven: „Ich fürchte, es wird so wie früher. Früher oder später wird jede rechte Initiative auseinandergejagt.“ Der Grund hierfür liegt seiner Ansicht darin, dass „die Rechten“ zu eigenständig seien: Sie teilen Ansichten, die oft nicht mit der Position des Kreml übereinstimmen. „Bislang jedoch sind die Linien einigermaßen deckungsgleich, man kann [damit leben]“, meint er abschließend. „Wenn sie auseinanderlaufen, beginnt wieder der Kampf.“