Wie ist das zu erklären: Das renommierte Lewada-Institut hatte im vergangenen Jahr nach der herausragendsten Persönlichkeit Russlands gefragt. 38 Prozent der Befragten nannten Stalin, damit landete der einstige Diktator auf Platz 1, vor Puschkin und Putin.
Die Politologin Ekaterina Schulmann geht auf Inliberty diesen Zahlen nach und damit der Frage: Warum ist Stalin so beliebt? Und sie stellt die Gegenfrage: Ist er das überhaupt?
Wenn man die Aktionen, Maßnahmen und Bekundungen anschaut, die sich als Anzeichen einer schleichenden Re-Stalinisierung oder einer Rehabilitierung Stalins deuten lassen, dann zeigt sich: Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine private Initiativen. So werden die Stalin-Denkmäler, die in letzter Zeit auftauchen und deren Anzahl tatsächlich wächst, meist unter der Ägide des jeweiligen KPRF-Ortsverbands errichtet.
Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine privaten Initiativen
Im Jahr 2009, in einer anderen politischen Epoche unter Präsident Medwedew, wurden bei der Restaurierung der Moskauer Metrostation Kurskaja folgende Worte der sowjetischen Hymne wiederhergestellt: „Uns erzog Stalin – zu Treue zum Volk“. Das rief Empörung hervor, wobei die Behörden argumentierten, dass das der historischen Wahrheit entspreche, dass lediglich in ursprünglicher Form wiederhergestellt werde, was hier einst gewesen sei.
Die Moskauer Metro ist seither bekanntlich zu einem mächtigen Instrument der prosowjetischen und stalinistischen Propaganda geworden: Züge mit Stalinportraits oder Aktionen wie solche im Rahmen des Geschichtsfestivals Zeiten und Epochen 2017. Dabei ist klar, dass all das nicht von unten, aus dem Volk, kommt, sondern von der Metro-Administration und dem politischen Management der Stadt Moskau und der Russischen Föderation.
2015 wurde in einem Holzhäuschen im Dorf Choroschewo ein Stalin-Museum errichtet, unter der Ägide des Kulturministeriums und mit persönlicher Billigung des Kulturministers.
In den Jahren 2014, 2015 und 2016 gab es in Moskau Kunstausstellungen mit Stalinportraits und Bildern aus der Stalinzeit, die die bolschewistischen Führer verherrlichten. Diese Kulturschätze wurden nicht etwa auf Verlangen des Kunstpublikums oder der Museumsmitarbeiter in der Tretjakow-Galerie gezeigt. Natürlich gibt es durchaus Menschen – und es ist wichtig sich darüber im Klaren zu sein – die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen oder sogar bereit sind, für die Wiedererrichtung eines Stalindenkmals zu spenden.
Natürlich gibt es durchaus Menschen, die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen
Worin besteht denn die Funktion der Staatspropaganda? Indem sie von einer hierarchisch höheren Position aus agiert, etabliert sie von oben eine Norm. Sie sagt dem Publikum, was richtig, was akzeptabel und was überhaupt möglich ist. Sie schafft den Kontext, der den Leuten klarmacht: dass es ungefährlich, wenn nicht gar lobenswert ist, mit einem Stalin-Plakat herumzulaufen. Dass die zahlreichen Schriften zu seiner Rehabilitierung, die in den Buchhandlungen aller russischen Städte ausliegen, nicht als extremistisch eingestuft werden. Dass all das normal ist, dass es nicht strafbar, sondern womöglich unterstützenswert ist.
Wenn es im Fernsehen und von staatlicher Seite heißt, man solle „niemanden dämonisieren und beide Seiten sehen, den Krieg haben wir ja schließlich gewonnen“, dann ist das ein Signal: Sowohl die, die tatsächlich positive Gefühle damit verbinden als auch die, die bisher keine Gefühle hatten, werden jetzt plötzlich welche haben; die, die bisher keine Meinung hatten, haben jetzt plötzlich eine, denn man hat ihnen gesagt, dass das normal und sogar gut ist.
Konformismus ist der psychologische Normalfall – das mag man betrüblich finden, dennoch ist es wahr. Es liegt in der Natur des Menschen, sich auf die Seite der Mehrheit zu schlagen und seine Meinung der landläufigen Meinung anzupassen. Deshalb tragen diejenigen, die im Namen des Staates, der allgemein Mächtigen sprechen, besondere Verantwortung. Das Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle, nicht als Nachrichtenmedium wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht. So und nicht anders nehmen die Menschen es wahr.
Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht
2008 wurde der TV-Wettbewerb Russlands Name durchgeführt: Es ging um die hundert bedeutendsten Russen. Die Idee ging auf den BBC-Wettbewerb Hundred Greatest Britons zurück, doch sie wurde auf landestypische Weise umgesetzt. Die Fernsehzuschauer sollten die hundert bedeutendsten historischen Gestalten wählen. Von denen sollte dann am Schluss ein Sieger übrigbleiben. Damals wurde keine Mühe gescheut und hartnäckig der Eindruck erzeugt, beim Zuschauervotum habe „eigentlich“ Stalin gewonnen. Da das jedoch unerhört gewesen wäre, habe der Erste Kanal am Ergebnis herumgeschraubt und Alexander Newski zum Sieger gemacht.
Wie ist die Abstimmung damals wohl wirklich gelaufen? Wir haben seither an Erfahrung und Wissen gewonnen und können uns ungefähr vorstellen, wie eine sogenannte Willensbekundung des Volkes vonstatten geht, vor allem im Fernsehen. Doch hier ist das Modell vielleicht erstmals in dieser Deutlichkeit zu beobachten: „Sie wollen ihren Stalin, aber wir, die Machthaber, gehen vorerst noch nicht darauf ein. Wir versuchen noch, sie irgendwie zu besänftigen.“
Blicken wir der Wahrheit ins Auge: Wir haben es hier mit Staatspropaganda zu tun. Der Staat drängt uns eine bestimmte Vorstellung davon auf, was normal und akzeptabel, was gut und rühmlich, was groß und überragend ist. Diese Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen.
Wie lassen sich diese Bedürfnisse beschreiben, die die reale Basis von Stalins Popularität darstellen?
Bestimmte Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen
Diese Frage wurde mir erstmals bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin gestellt: „Wie kann es sein, dass Stalin im Volk beliebt ist?“
Wenn man direkt mit dieser Frage konfrontiert wird, beginnt man dieses ganz grundsätzliche Bedürfnis nach einer bestimmten Art von Gerechtigkeit zu verstehen: nach diesem paradoxen, anti-elitären Stalin. Den haben diejenigen im Sinn, die sagen: „Stalin hätte es euch schon gezeigt.“
Stalin als Geißel der Nomenklatura, als derjenige, der sich mit den Reichen und Mächtigen anlegt und für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber. Vielen, die so reden, geht es um die Berufung auf ein strenges Gesetz, strikte Ordnung und Gleichheit, um eine Art ursprünglicher apostolischer Einfachheit.
Aus Gesprächen mit Taxifahrern zu zitieren, gehört sich vielleicht nicht als Wissenschaftlerin. Aber auch ich habe mir schon anhören müssen, dass Stalin nur einen Mantel und ein Paar Stiefel hatte, während die jetzigen Machthaber in Saus und Braus leben und sich alles mögliche leisten. Dieses anti-elitäre Bedürfnis spielt hier ganz offenbar eine Rolle. Aber allein die Vorstellung, dass es überhaupt möglich, normal und ungefährlich ist, sich auf ihn als Instanz zu berufen, ist durch die staatliche Propagandamaschine gegeben.
Stalin als derjenige, der für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber
Anhand von Daten können wir überprüfen, inwieweit die jahrzehntelange Arbeit dieser Propagandamaschine erfolgreich war. Eine ganz einfache Frage des Lewada-Zentrums lautet: „Wie ist Ihre persönliche Einstellung zu Stalin?“ Wenn wir uns die Entwicklung der Antworten von 2001 bis 2015 ansehen, gibt es keine Anzeichen für radikale Veränderungen. Man kann nicht sagen, dass der Respekt, die Bewunderung und die Sympathie für Stalin stark zugenommen hätten.
Quelle 1: Lewada-Zentrum / Quelle 2: Lewada-Zentrum. Falls die Infografiken nicht laden sollten, bitte hier aktualisieren.
Quelle: Lewada-Zentrum
Zurückgegangen sind Abneigung und Feindseligkeit. Gleichzeitig ist die Anzahl derer, die Stalin gleichgültig gegenüberstehen, stark angestiegen. Das erklärt sich durch das Fortschreiten der Zeit. Stalin ist als historische Gestalt schon sehr stark mythologisiert. Wenn es in einer Wendung, die uns zu Ohren kommt, heißt „Die Großväter haben gekämpft“, so müssen wir uns klarmachen, dass von der Generation der heute 30- bis 40-Jährigen kein einziger Großvater gekämpft hat. Ihre Großväter und Großmütter waren im Krieg Kinder. Für die jetzt tätige Bevölkerung liegt der Krieg sehr, sehr weit in der Vergangenheit. Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich in den Pantheon entrückt wie andere historische Persönlichkeiten, zum Beispiel Napoleon, bei dessen Namen man eher an eine Torte als an den französischen Kaiser denkt, oder Hitler, der als lustiges Bild-Mem im sozialen Netzwerk VKontakte herumspukt.
Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich entrückt wie etwa Napoleon, bei dessen Namen man eher an die Torte als an den französischen Kaiser denkt
Man mag das richtig finden oder nicht, es ist jedenfalls unvermeidlich. Die lebendige historische Erinnerung verschwindet nach und nach. Was bleibt, ist ein symbolisches Feld. Wir sehen also: Es ist schlichtweg nicht wahr, dass das ganze Volk Stalin liebt und dass das Bedürfnis, ihn zu bewundern und zu idealisieren, immer größer wird.
Wie schätzt die Jugend diese historische Ära ein, die für sie so weit zurückliegt? Bei einer Erhebung im Jahr 2015 wurden russische und amerikanische Studenten gefragt, auf welche historischen Ereignisse in der Geschichte ihres Landes man stolz sein könne und welcher man sich schämen müsse.
Quelle: HSE/InLiberty
Quelle: HSE/InLiberty
Quelle: HSE/InLiberty
Quelle: HSE/InLiberty
Die russischen Studenten nannten als wichtigsten Grund zum Stolz den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und als wichtigsten Grund zur Scham die Repressionen unter Stalin. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung unweigerlich auf halbem Weg scheitern muss, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird. Dennoch können wir feststellen, dass der moralische Kompass der jungen Leute im Großen und Ganzen gut funktioniert.
Jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung muss unweigerlich auf halbem Weg scheitern, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird
Schauen wir uns die Frage an, in welcher historischen Epoche das Leben in Russland am besten war.
Quelle: Lewada-Zentrum
Da sind die Ergebnisse wirklich interessant. Auffällig ist, dass nach 2014 erheblich weniger Leute in ihrer Antwort die Zeit vor der Revolution 1917 nennen. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber der Krim-Konsens hat verblüffenderweise dazu geführt, dass die gute alte Zarenzeit – die dobeszarja, wie es jetzt heißt – an Beliebtheit verloren hat. Die Stalinära wird kaum genannt, und es ist hier auch keine Veränderung festzustellen. Stalin zu verehren ist eine Sache, aber in dieser Epoche leben möchte man lieber nicht.
Die Breshnew-Zeit wird als eher behaglich und ruhig angesehen, aber ihre Beliebtheit nimmt ab. Die Perestroika mag niemand, ebenso wenig die Jelzin-Zeit. Viele wissen nicht, was sie antworten sollen. Und da der zeitliche Abstand zwischen 1994 und 2017 ziemlich groß ist, finden die Leute, dass die Jetztzeit bei dieser kärglichen Auswahl doch eigentlich gar nicht so schlecht aussieht.
Wie verhält sich die Einstellung zu Stalin und zur Stalinära – beides darf, wie wir gesehen haben, nicht gleichgesetzt werden – zu den allgemeinen sozialpolitischen Ansichten der Menschen? Aufschluss darüber geben Daten aus der Studie Protoparteiliche Gruppierungen in der russischen Gesellschaft in den 2000er und 2010er Jahren. Der Autor der Studie ist Kirill Rogow. Es handelt sich um eine zusammenfassende Auswertung von Meinungsumfragen, die das Lewada-Zentrum seit 18 Jahren durchführt.
Besonders eng mit der Figur Stalins verbunden ist hier die Frage: „Brauchen wir jemanden, der mit harter Hand regiert?“
Quelle: Lewada-Zentrum
Auch hier ist nach 2014 eine sehr seltsame Veränderung zu beobachten, für die es noch keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Vielleicht werden wir in fünf oder sieben Jahren sagen, dass sich das Jahr 2014 in Russland ganz anders auf die öffentliche Meinung ausgewirkt hat, als es uns im Fernsehen erzählt wurde. Nach 2014 sagten plötzlich immer mehr Leute, keinesfalls solle die ganze Macht einer einzelnen Person überlassen werden.
Auch bei der Frage danach, welche Rechte den Russen am wichtigsten sind, ist in den letzten Jahren der rätselhafte, kontraintuitive „Post-Krim“-Effekt zu beobachten. Nach 2014 schätzten die Bürger das Recht auf Information und die Freiheit des Wortes drastisch höher ein. In Bezug auf das Eigentumsrecht dagegen zeigten sie sich etwas ernüchtert.
Quelle: Lewada-Zentrum
Aus diesem Diagramm lässt sich beim besten Willen nicht schließen, dass das Volk sich Autoritarismus wünscht und von einer harten Hand träumt.
Der Gesellschaft wird ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen
Der Gesellschaft wird also ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen. Was ist der Grund dafür? Warum muss man den Leuten sagen, sie würden von der Wiedereinführung der Todesstrafe träumen, obwohl sie das gar nicht tun?
Warum erzählt man ihnen, sie seien ein Volk, das am liebsten Stalin wieder zum Leben erwecken würde und sich über Massenrepressionen freue?
Das Regime befindet sich in einer ziemlich vertrackten Lage: Es will Macht und Ressourcen in den eigenen Händen konzentrieren und an der Macht bleiben. Dabei ist es keine vollwertige Autokratie, es verfügt über keinen entwickelten Repressionsmechanismus, über keine herrschende Ideologie, die es den Leuten aufzwingen kann. Es will sich aber auch nicht den Verfahren demokratischer Machtwechsel unterwerfen.
Also hält es sich durch ein ganzes Arsenal an ziemlich raffinierten Instrumenten an der Macht. Zum großen Teil sind dies verschiedene Simulationsmodelle und -schemata, die zur Propaganda gehören. Einerseits werden demokratische Institutionen und Prozesse simuliert, wie zum Beispiel Wahlen, ein Mehrparteiensystem oder Medienvielfalt. Und bei all ihrer äußerlichen Vielfalt, sagen die Medien, ein- und dasselbe. Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition.
Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition
Andererseits müssen Sie als Machthaber die rhetorischen Instrumente der Autokratie simulieren – also, salopp gesagt, sich im öffentlichen Raum furchterregender geben als Sie sind. Dabei sollten Sie sich nicht als schrecklicher Diktator oder blutrünstiger Tyrann präsentieren, sondern, im Gegenteil, als zivilisierte und zurückhaltende Kraft, die ein rohes Volk mit autoritären Neigungen regiert, das sie immerzu bändigen und dessen Blutrünstigkeit sie dauernd beschwichtigen muss.
Also müssen Sie ambivalente Botschaften aussenden, à la „Wir sollten Stalin nicht dämonisieren, sondern die Sache besser von verschiedenen Seiten betrachten“. Sie müssen den Eindruck erwecken, dass Sie dem ständigen Druck der Gesellschaft, die Archaisierung, Verschärfung, Feuer und Blut fordert, zugleich nachgeben und widerstehen, und dass es nur Ihrem Widerstand zu verdanken ist, wenn hierzulande noch nicht alle an Laternenmasten aufgeknüpft worden sind. Dabei sind Sie selbst der mächtigste Akteur und haben diesen Wunsch überhaupt erst erzeugt.
Wozu ist es nötig, dem eigenen Volk einen so schlimmen Ruf anzuhängen? Um zu rechtfertigen, dass Sie permanent seine politischen Rechte einschränken, besonders das Wahlrecht. Wenn die Leute rohe, blutdürstige Barbaren sind, kann man ihnen natürlich nicht erlauben, bei den Wahlen ihre Regierung tatsächlich selbst zu wählen. Mal heißt es, sie würden dann einen „Hitler“ wählen, ein nationalistisches Schreckgespenst, dann wieder, sie würden einen „Stalin“ wählen – ein links-etatistisches Schreckgespenst. Beides wird als Argument benutzt, um das Selbstbestimmungsrecht der Bürger einzuschränken. Genau dafür braucht es die hohen Beliebtheitswerte Stalins.
Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint. Aber das entspricht längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität.
Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint
Unsere Gesellschaft ist komplex, vielschichtig und heterogen. Beim Versuch, eine öffentliche Meinung zu ermitteln, eine gemeinsame Wertebasis der Bewohner Russlands, ergibt sich etwa folgendes Bild: Die russische Gesellschaft teilt die gewöhnlich als „europäisch“ bezeichneten Werte. Sie ist individualistisch, konsumorientiert, in vieler Hinsicht atomisiert, kaum religiös und vorwiegend säkular geprägt. Ihre Toleranz gegenüber staatlicher Gewalt ist recht niedrig – wiederum anders als gemeinhin gesagt wird.
Die Werte der russischen Gesellschaft werden von Forschern in der Regel als „europäisch, aber schwach“ charakterisiert. Die Russen sind im Großen und Ganzen konformistisch und eher passiv und ihre Bereitschaft, die eigene Meinung zu äußern, ist nicht sehr ausgeprägt. Aber sie sind auch nicht aggressiv oder blutrünstig, und sie streben die Einführung eines autoritären Regimes in Russland weder an noch träumen sie davon.
Um eine solche Gesellschaft mit undemokratischen Mitteln zu regieren, muss man sie natürlich falsch darstellen. Man muss ihnen das Stalinfähnchen in die Köpfe hämmern, um dann mit dem Finger auf sie zu zeigen und zu sagen: „Schaut euch doch an, was das für welche sind.“