In Unterhosen, sonst gerade mal mit Pilotenmütze, einer Krawatte oder Hosenträgern bekleidet – so lassen die Pilotenschüler aus Uljanowsk die Hüften kreisen, zu den Klängen von Satisfaction des italienisches DJs Benny Benassis. Das Video stellten die Kadetten im Netzwerk Vkontakte ein. Was sie sicher nicht ahnten: Ihre Parodie auf das Musikvideo Satisfaction ging viral.
Ähnliches hatten britische Soldaten bereits 2013 gemacht. Doch in Russland löste das Video einen Sturm der Entrüstung aus, Politiker, Medienschaffende, alle mischten sich ein: Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt in Uljanowsk, drohte zunächst gar, die beteiligten Kadetten (deren Gesichter man im Video nur schwer erkennt) von der Schule zu schmeißen. Von einer „Schande“ sprachen manche, andere stuften die Aktion als „pervers“ ein.
Doch mit der Empörung kam auch eine Welle der Solidarität: Das Katastrophenschutzministerium, die russischen Biathletinnen, Rentnerinnen aus St. Petersburg … es ist eine lange Liste von Namen, die sich am virtuellen Flashmob beteiligten und ebenfalls Satisfaction-Parodien ins Netz stellten, die mitunter ebenfalls viral gingen.
Warum ein harmloses Vergnügen von Jugendlichen dem Staat Angst macht, das analysiert Andrej Archangelski auf The Insider.
Pilotenschüler aus Uljanowsk lassen zu Satisfaction die Hüften kreisen – das Video ging viral
Die vorliegende Geschichte hat mich als Autor rund eine halbe Stunde Recherche im Netz gekostet – für einen Journalisten ein ganz gewöhnlicher Aufwand. Doch diesen Aufwand muss, wie es aussieht, mittlerweile jeder Mensch leisten. Das Internet ist eine Parallelwelt, außerdem ist es eine Welt der Postmoderne – und um die Zitate, Parodien und Parodien der Parodien dieser neuen Welt zu verstehen, muss man ihre Sprache lernen.
Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, dass die folgenden Personen sich die Mühe gemacht haben zu recherchieren: 1) Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt. Er verglich die Studenten mit „Pussy Riot, die in der Kathedrale ihren Spott getrieben hatten“ und versicherte, dass „diese jungen Männer keinen Platz in der zivilen Luftfahrt finden werden“, erst recht diejenigen nicht, die „Fünfen haben und im Rückstand sind“. 2) Andrej Beljakow, der stellvertretende Vorsitzende der Rosawiazija [Föderale Agentur für Lufttransport – dek], der die Prüfung des Instituts eingeleitet hat. Seine Behörde sprach im Zusammenhang mit dem Ereignis von „empörenden Filmaufnahmen“, einem „hässlichen Vorfall“, „frivolen Tänzen“ und einer „Beleidigung aller Mitarbeiter der zivilen Luftfahrt“. 3) Sergej Morosow, Gouverneur der Region Uljanowsk. Er stufte das Ganze als „äußerst pervers“ ein und sandte eine weitere Kommission in die Hochschule; er hatte befunden, das Video beleidige nicht nur die Region, sondern auch die Veteranen.
Das Fernsehen spricht von „schwulem Feuerchen“
Es ist nicht mal sicher, dass jene diesen Rechercheaufwand betrieben haben, die den Tanz zu einem Ereignis von nationaler Bedeutung aufbauschten – die Mitarbeiter des staatlichen Senders Rossija 24, wo das Video als „schwules Feuerchen“ bezeichnet und wo behauptet wurde, die „Jungsparty in Lack und Leder“ habe mit der Exmatrikulation aller geendet, die mit Vorliebe andere Körperteile in die Kamera strecken als ihre winkende Hand. Was die Exmatrikulation betrifft, war der Sender zum Glück etwas voreilig.
Der Satz „Das Video sorgte bei den Nutzern der Sozialen Netzwerke für Empörung“ ist ein Paradebeispiel für Propaganda. Diese Floskel wird später sicher mal im Unterricht beim Thema „Geschichte der russischen Propaganda“ durchgenommen. Wenn die Propaganda Präsident Poroschenko oder die Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, der USA oder anderer Feinde Russlands verspotten will und keinen triftigen Grund dazu hat, hält die „Meinung der Nutzer Sozialer Medien“ als Informationsquelle her. Es ist ein Versuch im Namen einer nicht existenten sozialen Gruppe zu sprechen, die nicht einmal gemeinsame Merkmale aufweist. Dieser „Empörung der Nutzer Sozialer Netzwerke“ liegt eine Sowjetformel zugrunde, die so alt ist wie die Welt: „Empörung des arbeitenden Volkes“. Unter Bezugnahme darauf war beispielsweise 1937 möglich.
Doch mir geht es nicht um die banale Tatsache, dass es überhaupt keine einheitliche „Meinung der Netzwerke“ geben kann. Sondern darum, dass jedes unschuldige virtuelle Ereignis in Russland erschreckende reale Konsequenzen nach sich zieht und Anlass für alle erdenklichen Kontrollen, Kommissionen und Exmatrikulationen bietet – und das noch im besten Fall.
Eine Kluft zwischen den Generationen
Am meisten verblüfft natürlich die gesellschaftliche Kluft zwischen zwei Generationen, die, wie man meinen könnte, gar nicht so weit auseinanderliegen: den 17-jährigen Studenten und den 30-,40-, und 50-jährigen Leitungspersonen. Da prallen zwei Welten aufeinander, die in unterschiedlichen Dimensionen existieren und einander absolut nicht verstehen.
Auf der einen Seite ist da die Satisfaction-Welt, eine Welt sich kreuzender Parodien und Zitate mit all ihren ästhetischen Kontexten und Subtexten; auf der anderen die Welt der Kommissionen, Behörden und verletzten Gefühle. Das ist ein echter Konflikt zwischen Moderne und Archaismus, ein Konflikt der Kulturen – zwischen der Welt der Freiheit und des Drills.
Am virtuellen Flashmob beteiligten sich auch die russischen Biathletinnen
Wenn staatliche Kommissionen extra losfahren, um einen Tanz junger Männer zu untersuchen (!), dann sieht das Ganze selbst wie eine noch bösere Parodie des Musikvideos Satisfaction aus.
Was hat ein staatlicher Sender – und somit auch der Staat – mit dieser Geschichte am Hut?
Regierungsfreundliche Sender benutzen solche Dinge gern für Verallgemeinerungen wie: „Wir haben die Jugend nicht im Griff“ sowie für obligatorische Aufrufe, „zu bewährten sowjetischen Erziehungsmethoden zurückzukehren“, denn „damals hätte es so etwas nicht gegeben“. Letzten Endes liegt der Schluss nahe, dass all diese Skandale aus dem Nichts wohl nötig sind, um Emotionen anzuheizen mit dem Ziel, die Gesellschaft durch „abschreckende Beispiele“ zu einen und so eine neue Verhaltensnorm für alle zu etablieren.
Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens schaffen lässt
Das Verblüffende daran: Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens bezüglich Verhaltensnormen schaffen lässt, nicht einmal bei echt skandalträchtigen Fällen. Also müssen sie vom Gas gehen und etwas Versöhnliches sagen. Jeder dieser Versuche endet in der Sackgasse, zugegebenermaßen dann, wenn das Publikum – so loyal es auch sein mag – seine Meinung einigermaßen frei äußern kann. Denn es kann keine „einheitliche Anstandsnorm“ in einem Land geben, dass formal immer noch ein demokratischer Staat ist. Es wird auch keine gesamtgesellschaftliche Verurteilung nach sowjetischem Vorbild geben, denn die Sowjetzeit ist nun mal vorbei, das Land ist kein einheitlicher Körper mehr, der sich synchron zum Staat bewegt und atmet.
Im Grunde genommen sind all diese Versuche, den Tanz zu verurteilen, ein unbewusstes Aufbegehren gegen das Selbst, gegen Individualität. Versuche, den Menschen zu verbieten, sie selbst zu sein und das zu haben, was man Persönlichkeit nennt. Im weitesten Sinne betrifft das jede kollektive oder individuelle Feier – sei es der Sieg, der Schulabschluss oder einfach der Spaß an der Freude. Im Jahr 2016 waren zwei Gruppen solchen Angriffen ausgesetzt: Die Absolventen der Akademie des Föderalen Sicherheitsdienstes, die einen Autokorso in Geländewagen veranstalteten, und die Fußballspieler der russischen Nationalmannschaft, die ungeachtet ihrer Niederlage Sekt tranken und draußen in der Natur Spaß hatten. Auch an diesen beiden Fällen war nichts Kriminelles, und auch hier gab es keine Argumente außer der „Ehre der Uniform“.
„Ehre der Uniform“: Menschen als Staatseigentum
Hinter all den Versuchen, einen universellen Anlass zur Empörung zu finden, steht nur eines: eine archaische, nicht einmal sowjetische, sondern imperiale Vorstellung von allen Menschen, die wie auch immer, Hauptsache irgendwie, mit dem Staat in Verbindung stehen, als Soldaten, Hörige, Knechte, Leibeigene. Als Menschen ohne Persönlichkeitsrechte und somit ohne Recht auf Ausdruck ihrer Individualität. Dann wird davon ausgegangen, dass jeder, der eine Uniform anlegt, a priori Staatseigentum ist. Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv und authentisch volkstümlich.
Die Tatsache, dass sogar angehende Piloten und Offiziere ein Privatleben, Hobbies und allgemein Spaß haben, jenseits ihrer Staatspflicht, geht den Bewachern im Fernsehen, die sich selbst als Staatsdiener begreifen, schwer gegen den Strich. Dabei sind die angehenden Piloten einfach nur jung. Sie haben dieselben Interessen wie ihre Altersgenossen weltweit, wie der Flashmob zu ihrer Unterstützung beweist. Darin liegt kein Widerspruch mehr: Auch wenn du im öffentlichen Dienst arbeitest, hast du ein Recht auf Privatleben, dieses Recht ist durch die Verfassung verbürgt.
Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv
Genau das ruft bei den Hütern der staatlichen Moral unkontrollierbaren Zorn hervor. So handelt es sich also jedes Mal um einen Angriff gegen die Individualität und im weitesten Sinne gegen die Persönlichkeit. Der Staat möchte nicht, dass Menschen zu Persönlichkeiten werden, er reagiert energisch auf jeden solchen Versuch, doch er findet keine hinreichenden Argumente für ein Verbot. Diese Inkongruenz zwischen den erklärten fundamentalen Werten und dem praktischen Leben ist Russlands Hauptproblem.
Auch Petersburger Rentnerinnen parodieren Satisfaction
Auch im 27. Jahr des Bestehens eines formal demokratischen Staates sind die demokratischen Lebensnormen nicht in eine zugängliche, allen verständliche Sprache übersetzt. Ein Rädchen der totalitären Gesellschaft hat nur ein Recht auf Leben, wenn es jederzeit bereit ist, fürs Vaterland zu sterben. In einer Demokratie ist es erlaubt, für sein eigenes, individuelles Glück zu leben – das scheint sehr einfach. Solange ein Mensch sein individuelles Glück sucht, ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, hat niemand das Recht ihn daran zu hindern. Im Grunde ist das auch die normale nationale Idee: für sein eigenes Glück zu leben. Würde dieses Konzept als legitim anerkannt und laut ausgesprochen, würde es auch zum nationalen Konsens und zum perfekten Mittel, um derartige Konflikte zu lösen.
Menschen freuen sich? Haben Spaß? Feiern? Ohne jemandem zu schaden? Das ist ihr gutes Recht. Doch diese simple Idee gilt heutzutage wahrscheinlich auch schon als Beleidigung von Heiligtümern. Der wichtigste offizielle Maßstab für moralisches Verhalten ist nach wie vor die Kriegserfahrung. Aber das Leben in Friedenszeiten sollte sich nicht auf Kriegserfahrung stützen, und sei dieser Krieg noch so gerecht. In Friedenszeiten sollte man nach Gesetzen des Friedens leben, nicht nach denen des Krieges oder Arbeitslagers. Eben dieser Widerspruch führt zu einer Spaltung der Gesellschaft, wo der eine Teil zu Satisfaction tanzt und der andere zu den Worten: Kommission, Behörde, Kontrolle.