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Der Wortwichser am Abend

Ein älterer Herr mit Bart und Sonnenbrille sitzt auf einer efeuumrankten Treppe und trällert zu einfachen Gitarrenakkorden ein paar muntere Zeilen. So weit, so Youtube. Doch bei dem älteren Herrn handelt es sich um die russische Rocklegende Boris Grebenschtschikow und seine munteren Zeilen handeln unzweideutig von einem Propagandamacher aus dem Fernsehen, der als wetscherni mudoswon (dt. etwa: Wortwichser am Abend) besungen wird. 

Wenig später erreicht das Lied im Internet ein Millionenpublikum, gewichtige Gestalten aus dem russischen Staatsfernsehen melden sich zu Wort, allen voran der für seine aggressive Rhetorik bekannte TV-Moderator Wladimir Solowjow. Das Bellen eines getroffenen Hundes? Meduza mit einer Kurz-Chronik des bizarren „Ich bin's nicht!“-Rummels.

Quelle Meduza

Samstag, 28. September

Boris Grebenschtschikow, Bandleader von Aquarium, veröffentlicht auf seinem Youtube-Kanal ein Video zum Lied Wetscherni M [Wetscherni Mudoswon, dt. etwa: Wortwichser am Abend]. Darin geht es um einen „echt emsigen Kopf unserer Zeit“ – einen Propagandisten vom russischen Fernsehen: „Er alles sagt, was bestellt wird, seine Antworten bleiben nie aus.“ Namen nennt Grebenschtschikow keine. 



Ich wandle mein Leben lang durch die Weiten / Und bin bereit, das noch weiter zu tun. / Wen du auch fragen willst, alle rauschen im Taxi vorbei. / Und niemand wird dir beibringen, wie man leben soll. / Doch im Zentrum der Weiten gibts einen Ort, wo es hell ist und wo alle hinschauen. / Dort bringt man nach bestem Wissen und Gewissen allen bei, wie es läuft in der Welt, / allen Kindern, den Alten und Jungen.
 
Wortwichser am Abend! / Du echt emsiger Kopf, / Wortwichser am Abend / er ist ehrlicher, aufrichtiger und besser als alle, / der Wortwichser am Abend. / Er erklärt dir alles, was du willst, / gibt auf jede Frage eine Antwort. / Das Volk hat eine Seele, ist aber arm wie eine Kirchenmaus, / Dafür haben sie allen eins auf die Nase gegeben!
 
Er strahlt wie ein druckfrischer 50iger / Er trieft vor Pomade und Lack, / Und wenn der Pöbel Jesus vermöbelt, / erklärt er uns, warum genau Jesus der Feind ist.

Sonntag, 29. September

Die russischen Medien greifen das Lied auf. Der Wetscherni M wird in den sozialen Netzwerken fleißig geteilt. Und die User rätseln: „Auf wen ist der Song wohl gemünzt?“ Mutmaßungen kommen auf, der anonyme Propagandist könnte Wladimir Solowjow sein, der Moderator der Sendung Der Abend mit Wladimir Solowjow.

Montag, 30. September

Solowjow reagiert per Twitter und Telegram auf Grebenschtschikows Lied: Der Leader von Aquarium sei „vom Dichter zum Coupletsänger verkommen“. Wobei der Moderator auch anmerkt, dass ihn der Song überhaupt nicht kränke. Zumal es darin, wie ihm scheine, um Iwan Urgant  gehe. Der hatte ihn mit seinen Späßen über „Nachtigallscheiße“ schon mal beleidigt. „In Russland gibt es eine Sendung, die das Wort ‚Abendlicher‘ im Titel hat – Sie wissen nicht zufällig, welche?“, fragt der Moderator.

Am selben Tag

Boris Grebenschtschikow beteiligt sich an der Diskussion. Der Musiker hinterlässt unter seinem Youtube-Video folgenden Kommentar: „Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich feststellen, was ohnehin klar ist: Zwischen Wetscherni U und Wetscherni M liegt eine unüberwindbare Distanz – wie zwischen Würde und Schande.“     

Dienstag, 1. Oktober

Solowjow kommt mit einer neuen Version. Im Gespräch mit dem TV-Sender 360 hält er es durchaus für möglich, dass mit dem umstrittenen Song in Wirklichkeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky gemeint ist: „Es kann natürlich auch sein, dass Herr Grebenschtschikow sein Lied dem Präsidenten der Ukraine gewidmet hat ... Was derzeit ein großes Thema in den amerikanischen Medien ist.“

Am selben Tag

Eine Agentur für Satire-News namens Panorama veröffentlicht eine Fake-Meldung über Solowjow, wonach dieser versuche, Urgant gegen Grebenschtschikow zu verteidigen. Man beachte das ausgedachte Solowjow-Zitat: „Das Lied handelt natürlich nicht von mir, aber ich halte seine weitere Verbreitung oder Wiedergabe für unzumutbar.“ 

Am selben Tag

Iwan Urgant kommentiert Grebenschtschikows Lied live auf dem Ersten Kanal, wobei er sich über sich selbst lustig macht – mehr noch allerdings über Solowjow (wieder ohne ihn namentlich zu nennen): „Wir hätten liebend gern Boris Borissytsch eingeladen, dieses Lied live bei uns zu singen, doch aus firmenethischen Gründen können wir im Ersten Kanal keine Lieder über Mitarbeiter anderer Sender bringen.“ 



[...] Ich habe gerade noch in der Garderobe das neue Lied von Grebenschtschikow gehört. Nun, einige haben es schon gehört, andere noch nicht. Wieder andere haben es sich schon sehr sehr oft angehört ...
Jedenfalls gibt's da gerade einen total bescheuerten Skandal: BG hat ein Lied auf Youtube gestellt. Es heißt Wetscherni M, und es geht darin um den Moderator einer Abendshow. Und im Grunde weiß keiner … , wen er meint ...
 
Können wir mal reinhören?
Nein, das geht leider nicht wegen des Wortes mudoswon/Wortwichser“, das darin vorkommt.
 
Also, wegen des Titels ist klar, dass es um einen Talkmaster geht. Der eine Abendshow moderiert. Also, der Kreis wird immer enger, um wen es gehen kann.
Aber wir Abendshowmaster halten zusammen wie eine Familie [...].
Und wir zerbrechen uns den Kopf: Über wen hat BG geschrieben? Wen konkret tunkt er da ein, in sein Aquarium? Er nennt ja keine Namen, nichts. Und dann ist mudoswon noch dazu ein russisches Wort, also ist von einem Russen die Rede und da können ja wir wieder alle gemeint sein [...]

2. Oktober

Wladimir Solowjow (den Grebenschtschikows Lied überhaupt nicht kränkt) nimmt die Version mit Iwan Urgant wieder auf. Im Gespräch mit dem Telegram-Kanal Podjom wiederholt er die Idee aus der Meldung von Panorama und verspricht, den Kollegen gegen die Angriffe des Aquarium-Leaders zu verteidigen: „Es gibt in unserem Fernsehen eine ganz konkrete Sendung, die mit ‚Abendlicher‘ beginnt, und ich finde, Boris Borissowitsch hat völlig zu Unrecht einen wunderbaren, feinsinnigen, klugen Moderator des Ersten Kanals beleidigt. Ich habe ihn gegen diese unfairen Anfeindungen verteidigt und werde das auch weiterhin tun.“


Fortsetzung folgt.

Ergebnisse der Meduza-Leserumfrage: Wem ist das Lied Wetscherni M gewidmet?

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„Ein fremder Baum, der in unsere Erde gepflanzt wird, kann keine Früchte tragen“1 , so bewertete die Zeitung Komsomolskaja Prawda im Jahr 1982 die Rockband Maschina Wremeni. Dieses Zitat  spiegelt sinnfällig das jahrzehntelange Misstrauen wieder, das das sowjetische Regime gegenüber einheimischen Künstlern empfand, die musikalische Formen oder Ideen aus dem Westen auf russische Bühnen brachten.

Die Rockmusik in der Sowjetunion orientierte sich stark an Vorbildern aus England oder den USA. Allerdings handelte es sich beim russischen Rock, der sich seit den späten 1960er Jahren entwickelte, nicht um eine bloße Nachahmung des Westens. Die politischen Rahmenbedingungen in der Sowjetunion bewirkten, dass Rockmusik von Anfang an einen oppositionellen Charakter hatte.

Künstler und Fans maßen den Texten eine ausgesprochen große Bedeutung bei, in denen sich häufig verschlüsselte kritische Aussagen über die sowjetische Gesellschaft verbargen. Auch in Kleidung und Verhalten bildeten die Rockmusiker einen Gegenentwurf zu dem, was die offizielle sowjetische Musikkultur ausmachte.

Lieferte den Soundtrack einer neuen Zeit – die Gruppe Aquarium / Foto © Dmitriy Konradt

Staat und Partei in der Sowjetunion betrachteten schon seit dem Oktoberumsturz 1917 alles, was an musikalischen Neuerungen aus dem Westen kam, mit ausgeprägtem Misstrauen. Als „Grunzen eines metallenen Schweines“ und „Balzgequake eines riesigen Frosches“ verunglimpfte der Schriftsteller Maxim Gorki etwa den Jazz. Dennoch gelangte – selbst unter Stalin – unablässig westliche Musik in die Sowjetunion. Als Mittler fungierten westliche Radiosender, aber auch sowjetische Diplomaten, die Schallplatten für ihre Kinder aus Westeuropa oder Amerika mitbrachten.

Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs

Das Jahr 1964 bedeutete nicht nur für Europa eine Zeitenwende. The Beatles dominierten – nach ihrem Durchbruch in Großbritannien und Westeuropa – die amerikanische Hitparade. Ihre auf Schallplatte oder Tonband ins Land geschmuggelte Musik verursachte auch in der Sowjetunion nachhaltige Erweckungserlebnisse. Das „Yeah, yeah, yeah“ aus dem frühen Beatles-Hit She Loves You ertönte als die kommunistischen Funktionäre verschreckender Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Da die englischen Top-Gruppen in der Sowjetunion nicht auftreten durften, heimsten Bands große Erfolge ein, die Musik und Auftreten der Briten nachahmten.2

Die Politik der bedingten Duldung ermöglichte in den 1970er Jahren die Existenz von vielen frühen Rockgruppen wie zunächst Maschina Wremeni (dt. „Zeitmaschine“) und später auch der von Boris Grebenschtschikow gegründeten Band Aquarium. Seit den 1970er Jahren verstanden sich viele Rockmusiker als Akteure der Gegenkultur. Während einige Künstler wie Alexander Gradski zumindest im Fernsehen und auf Schallplatte auch Lieder von „offiziellen“ Komponisten sangen, lehnten viele andere die staatlich geförderte Unterhaltungsmusik der sogenannten Estrada ab.

Generation der Hausmeister und Wächter

Die Machthaber missbilligten die Rockmusik nicht allein wegen ihrer musikalischen Form. Besonderen Argwohn erfuhren die Texte, die sich oft kritisch mit den sowjetischen Gegebenheiten auseinandersetzten. Sie würden angeblich „fremde Ideale und Auffassungen“ propagieren, wie es in einer Verordnung des Kulturministeriums hieß. Ohne die Möglichkeit, offizielle Konzerte zu geben oder Schallplatten zu veröffentlichen, mussten sich die Musiker der sogenannten „Generation der Hausmeister und Wächter“ ihren Lebensunterhalt in einfachsten Brotberufen verdienen. Häufig fanden Konzerte – die sogenannten kwartirniki (von kwartira, dt. „Wohnung“) – in heimischen Wohnzimmern statt. Die Alben erschienen als Kassetten im Samisdat und wurden von Gerät zu Gerät weiter überspielt, bis statt der Musik nur noch ein Rauschen zu hören war.

Soundtrack der neuen Zeit

Das äußere Erscheinungsbild der Rockmusiker mit ihren langen Haaren, westlichen Designerjeans und Basketballschuhen erregte das weitere Missfallen der Funktionäre. Die Rockmusik erschien den Jugendlichen im Gegensatz zur offiziellen Musikkultur mit ihren allgegenwärtigen Baritonen authentisch: Sie eröffnete ihnen glaubwürdige emotionale Gegenwelten zum offiziellen sowjetischen Raum. Rockmusik wirkte in der Zeit von Perestroika und Glasnost durchaus systemverändernd: Die Musik von Gruppen wie Aquarium, Kino oder DDT bildete gleichsam den Soundtrack der neuen Zeit. Seit Anfang der 1980er Jahre gab es mit dem Leningrader Rock-Klub sogar eine offizielle – wenngleich streng vom Geheimdienst KGB beobachtete – Institution, die Musikern Auftrittsmöglichkeiten verschaffte.

Für die russische Rockmusik sind die Texte von besonderer Bedeutung. Viele Lieder wie Poworot (dt. „Wendung“) von Maschina Wremeni oder Chotschu peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) von Kino waren offen gesellschaftskritisch. Die Texte anderer Lieder erschienen melancholisch und unverständlich oder hatten einfache und alltägliche Inhalte. Sie vermittelten den Zuhörern, auch wenn sie nicht prononciert systemkritisch waren, ein Gefühl von Freiheit und begleiteten damit den gesellschaftlichen Umbruch der 1990er Jahre.

Den gegenkulturellen Nimbus hat die Rockmusik heute in Russland wie im Westen längst verloren, auch wenn die seit den 1970er Jahren tätigen Musiker immer noch aktiv sind und junge Musiker, die ein nonkonformistisches Image pflegen, ebenfalls ihr Publikum finden. Längst bedienen sich aber auch Rechts- oder Linksextremisten der musikalischen Ästhetik des Rock. Den Machthabern jagt die Rockmusik keine Angst mehr ein, wenngleich ihre Protagonisten – wie Juri Schewtschuk (DDT) – immer wieder regierungskritisch Stellung beziehen und dafür auch – wie Andrej Makarewitsch (Maschina Wremeni) – bedrohliche Medienkampagnen in Kauf nehmen müssen.


-> Mehr zu russischem Rock in diesem Artikel auf dekoder.


1.Komsomolskaja Prawda: Ragu iz sinej pticy
2.Besonders erfolgreich waren die Pojuščie gitary aus Leningrad, die in den späten 1960er Jahren Stadien füllten. Ihre Musik konnte dabei so gut wie niemand hören, weil die technischen Anlagen nicht annähernd ausreichten, um Stadien zu bespielen. Wichtiger war dem Publikum offenkundig ohnehin das Gefühl, Teil eines Konzerterlebnisses zu sein, das sie für ein oder anderthalb Stunden in eine andere Welt entführte. Zwar kamen die Pojuščie gitary in den offiziellen Medien kaum vor, ihre Musik war aber immerhin nicht verboten, und vereinzelt konnten auch Schallplatten mit Beatmusik erscheinen.
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)