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Die stillgelegte Stadt

Rauchende Schornsteine und stampfende Maschinen – die Fabriken und Schmelzwerke waren einst stolzes Symbol der sowjetischen Wirtschaftsmacht. Viele von ihnen findet man bis heute in der Ural-Region, die während des Großen Vaterländischen Kriegs zu einem der wichtigsten sowjetischen Industriezentren ausgebaut wurde. So konnte weitab der Front die industrielle Produktion sichergestellt werden. Ein Propaganda-Gedicht besang die Region als „Stützregion der Staatsmacht“, als eine Kraft, die weit draußen im Hinterland dafür sorge, dem Feind ein jähes Ende zu bereiten. 

Vom Reißbrett aus schossen die Fabriken aus dem Boden. Viele von ihnen bildeten das Zentrum sogenannter Monostädte –Arbeitersiedlungen, die Stalin ab den 1930er Jahren rund um einen einzigen Betrieb oder ein Kombinat errichten ließ.
Statistisch gesehen liest sich die Geschichte der Monostädte wie eine magische Zahlenreihe: Über 400 Monostädte gab es in Russland, die einst 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschafteten. Jeder vierte russische Staatsbürger lebt in einer solchen Stadt. 
Die in der Ural-Region angesiedelten Monostädte entwickelten sich dank reicher Rohstoffvorkommen zu wichtigen Industriezentren mit einem Lebensstandard, der mancherorts weit über dem sowjetischen Durchschnitt lag.
Doch mit dem Ende der Planwirtschaft begann ihr Niedergang, auch die globale Wirtschaftskrise 2008 und die anhaltende Russische Wirtschaftskrise setzen ihnen zu. Zahlreiche Betriebsschließungen sind die Folge. 

Das trifft sowohl die Monostädte, als auch historisch im Ural verwurzelte Städte, die ihr Gesicht in der Sowjetunion zur Industriestadt wandelten. Solche Städte fernab der üblichen Transport- und Handelswege geraten zunehmend in Vergessenheit. So auch die Stadt Resh, einst eine Hochburg der Nickelproduktion, der die Journalistin Victoria Ivleva für Takie Dela einen Besuch abstattete. Die Stilllegung des Nickelwerks brachte nun schon die dritte große Entlassungswelle mit sich – mit verheerenden Folgen für die Bewohner.

Source Takie dela

Die Stilllegung hat hier alle kalt erwischt / Fotos © Fyodor Telkov/Takie Dela

Wenn man nach Resh hineinfährt, passiert man eine Stelle mit dem Datum der Stadtgründung: 1773. Ein Stückchen weiter fällt einem der etwas irritierende Schriftzug „Baden-Baden Smaragdküste“ ins Auge – und das mitten im Uralgebirge.

„Das ist dieses Kurbad hier bei uns, mit Thermalbecken, da können Sie sogar bei extremen Minusgraden draußen baden“, sagt mein Fahrer und fängt dann plötzlich an, von den echten Smaragden zu erzählen, die hier haufenweise herumliegen, und von der verlassenen Goldmine neben dem Haus seiner Großmutter, wo er immer schon mal hineinklettern wollte, aber er hat Angst, eins auf die Mütze zu bekommen, wenn er da „irgendwas ausbuddelt“, sagt er.

Kurz gesagt, ich bin umringt vom Ural.

Am Ortsanfang steht ein Schild ,Baden-Baden Smaragdküste‘ – und das mitten im Uralgebirge

Resh ist ein ruhiges Städtchen, hübsch anzusehen, es fügt sich ein in den Ural und seine reiche Natur, ohne sie zu erdrücken. Viel Himmel ist hier zu sehen, viel Wasser, alte Bäume, die Stadt wirkt malerisch im Sommer, im Winter wie eine Grafik. Resh mit seiner weitverzweigten Anlage nimmt einen für sich ein, seine verschlungenen, hinan- und hinabeilenden Straßen, der riesige alte, asymmetrisch geformte Teich, in dem man ganzjährig angeln kann, die noch aus dem 19. Jahrhundert erhaltenen Villen und die erstaunlich sanftmütigen Menschen. 

Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort

Die Hauptsehenswürdigkeit von Resh, von jedem Punkt aus zu erahnen, ist der rot-weiß gestreifte Schornstein des Nickelwerks, das die Stadt achtzig Jahre lang ernährt hat und das es nun, unerwartet für die Bewohner und anscheinend auch für das Werk selbst, plötzlich nicht mehr gibt. Es war der größte Betrieb der Stadt, 1000 Menschen arbeiteten dort.
Im Zuge der Betriebsschließung sollen alle entlassen werden, und die eigentliche Fabrik, in der der Betrieb früher Tag und Nacht nicht zum Erliegen kam, liegt bereits verlassen da. Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht. 
Das Werk und seine überraschende Stilllegung, die hier alle kalt erwischt hat, sind es auch, die mich nach Resh geführt haben.

Man muss wissen, dass Resh Nickel kein eigenständiger Betrieb ist. Er ist das Mittelglied in einer Kette, die von der Gewinnung des Nickelerzes bis zur Schmelzung des Metalls reicht. Resh Nickel stellt das Zwischenprodukt Rohstein her; das Reinnickel wird in einer Stadt mit dem märchenhaften Namen Werchni Ufalei gewonnen. Die Werke in Resh und Ufalei sowie die Nickelgrube in der Stadt Serow bilden zusammen die Firma Rus Nickel, die 15 Prozent des russischen Nickels produziert.

Totenstille. Zwei weitere Fabriken in Resh haben ihre Seele schon früher ausgehaucht

Iwan Iwanytsch Dimitrijew, Betriebsleiter von Resh Nickel:

 „Dass der Preis für Koks sich verdoppelt hat und gleichzeitig der Nickelpreis gesunken ist, das haben wir nicht verkraftet, das muss man so sagen. Aber das heißt ja nicht, dass man den Betrieb so Knall auf Fall dichtmachen musste, einfach hinschmeißen und dem Unkraut überlassen. Stillstandsphasen hatten wir auch früher schon, aber wir haben jedes Mal wieder neu angesetzt, haben Teile modernisiert, uns irgendwas überlegt …“

 „Und der Betrieb florierte?“

 „Na sicher doch. Hier war schließlich die wissenschaftliche Plattform der UPI [Uralski Gossudarstwenny Technitscheski Universitet, dt.: Staatliche Technische Universität des Uralgebiets – dek], hier pulsierte das wissenschaftliche Leben, der Erfindergeist, hier war es so interessant! Das ist es ja, was mich fertigmacht: Generationen haben das alles hier aufgebaut, und wofür? Es tut einem in der Seele weh. Gusseisen und Stahl können wir hier produzieren, wir haben eine extrem vorteilhafte geografische Lage, beste Infrastruktur. Wir müssen umstrukturieren, aber doch nicht das Werk stilllegen – ich könnte wirklich schreien! 2013/14 haben wir nämlich mit Gewinn gearbeitet, kleinem zwar, aber immerhin. Dann hat der Staat die Transportkosten erhöht – und das war´s dann. Man könnte meinen, er arbeite selbst auf die Liquidation hin, ist doch wahr, oder? Ich meine, schauen Sie mal – auf dem Wappen der Oblast Swerdlowsk da heißt es ,Stützregion der Staatsmacht‘, also vielleicht sollte man die nicht mal eben so weghauen, diese Stütze!“

Vom Betriebsleiter bis zu den Besitzern von Resh – das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran

Ach, Iwan Iwanytsch! Der ist so ein echtes Arbeitstier, zuerst war er Schmelzergehilfe in Werchni Ufalei, dann hat er eine Lehre gemacht, ist Werkmeister geworden und jetzt eben Betriebsleiter. Arbeiten will der Mann, Feuer und Flamme ist Iwan Iwanytsch für seinen leitenden Posten, und gerade mal 40 ist er heute. Aber Iwan Iwanytsch ist bloß der Betriebsleiter, von ihm bis zu den Besitzern von Resh Nickel, deren Namen im Betrieb kaum einer kennt, das ist eine Entfernung wie von hier bis zum Stern Aldebaran. 

Die Besitzer sind Leute von ganz anderem Schlag, die haben weder mit der Staatsmacht, noch mit dem Nickel oder den entlassenen Arbeitern irgendwas am Hut. Denn so ist es nun mal bei uns im Land: je größer das Geschäft, desto kleiner das Gewissen und das Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen.

Heute gehört zum Beispiel das gesamte Gesellschaftsvermögen des Betriebs seinem Gläubiger, der B & N Bank; wie es aussieht, entschwindet die ganze Leidenschaft für den Nickel in unbekannte Höhen – bis über die Wolken – und landet bei dem Schlagerdichter Michail Guzerijew und seinem Neffen Michail Schischchanow.

Wie gesagt – von Iwan Iwanytsch bis zu denen, das ist wie von hier bis zum Aldebaran. 

Die ganze Abwicklung begann wie üblich damit, dass den Leuten Lügenmärchen aufgetischt wurden. In der letzten Januardekade, als der Liquidierungsfahrplan für den Betrieb längst stand (solche Pläne werden auf Grundlage einer Produktionsanalyse gemacht und nicht an einem Tag erstellt), kam der Generaldirektor in den Betrieb und erklärte wörtlich, es gehe „zum jetzigen Zeitpunkt nicht um Personalabbau“.

Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen?

Und schon ging es los mit dem Entlassen. Sicher, formal lief alles korrekt ab, Dinge wie die Zahlung des Monatslohns wurden eingehalten, da gibt es gar nichts groß auszusetzen. Wenngleich hartnäckige Gerüchte, es werde bald kein Geld mehr da sein, die Leute zu einer Kündigung im beiderseitigen Einvernehmen bewegten, was für die Fabrikbesitzer von Vor- und für die Arbeiter von Nachteil ist. 

Aber bei aller formalen Korrektheit weiß doch jeder, dass es unmöglich ist, in Resh Arbeit zu finden; es werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Das Einzige, was wie Pilze aus dem Boden schießt, sind irgendwelche Geschäfte. Und selbst auf der Homepage der örtlichen Behörde für Soziales heißt es, die Arbeitslosenquote liege über dem Durchschnitt der Oblast.

Und? Kam etwa der Gouverneur mit blitzenden Scheinwerfern angebraust? Oder ließ sich die städtische Obrigkeit am Werkseingang sehen? Eilte vielleicht die allmächtige Partei Einiges Russland den Arbeitern zu Hilfe, so wie diese ihr stets am Wahltag zu Hilfe geeilt waren? Oder packten wenigstens die Kommunisten, die sich jetzt schon das zweite Jahrhundert um die Sache der Arbeiterklasse bemühen, die Gelegenheit beim Schopfe?

Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein

Natürlich passierte nichts von alledem. Kein Mensch ließ sich sehen. Auf die Arbeiter pfeift man hier dermaßen, dass der B & N-Bankautomat neben dem Werk manchmal einfach kein Geld ausspuckt. Eine Filiale der B & N Bank gibt es in Resh erst recht nicht.

Sein Glück schmiedet jeder Entlassene nun für sich allein. Das ist nicht leicht für Menschen, die der Staat gelehrt hat, sich aus allem rauszuhalten, bang am Ofen zu sitzen und auf ein Wunder zu warten.

„Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof“
Die Entstehung von Metall ist viele tausend Mal beschrieben worden, und innerlich ist man gleichsam darauf vorbereitet: Jetzt gleich geht der Ofen auf, daraus ergießt sich ein feuerspeiender Strom und glühende Goldteilchen stieben nach allen Seiten. Aber wenn die Ofentür dann wirklich aufgeht und der Strom sich ergießt und eine weiße Rauchsäule aufsteigt und Fontänen von Funken die Augen blenden und der Feuerbrei die Rinnen füllt und Gestalten in seltsamen Anzügen, die wie Außerirdische aussehen und sich zu beiden Seiten des Stroms postiert haben, der glühenden Masse mit geschicktem Schwung ein wenig nachhelfen – dann verschlägt es einem angesichts dieser enormen Kraft dennoch den Atem, und es treten einem die Tränen in die Augen.

Das war Resh Nickel noch vor wenigen Monaten.  

Die Fabrik, die ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden

Heute schaue ich vom Dach der Schmelzhalle aus auf das Werk – sein Atem ist beinahe versiegt, auf dem riesigen Gelände ist kein Leben mehr. So weit das Auge blickt – kein einziger Mensch, kein einziger rollender Förderwagen, nicht das kleinste Geräusch, kein Ton ist zu hören.
In der Sonne glänzt, silbrig schillernd, der nagelneue Kühlturm, der Ende letzten Jahres aus unbekannten Gründen errichtet wurde. Der Turm hat zehn Millionen Rubel gekostet [etwa 144.000 Euro – dek], war nicht einen einzigen Tag in Betrieb, und jetzt wird er im besten Fall eingemottet, im schlimmsten in seine Einzelteile zerlegt. Die Fabrik, die wie jede andere Fabrik ein Wahrzeichen der Arbeit war, ist zum Friedhof eben dieser Arbeit geworden.

„Wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren?“
Wir wandern von Halle zu Halle mit Irina Schewtschenko – der einzigen Resh Nickel-Mitarbeiterin, die beschlossen hatte, wenigstens irgendwie, behutsam und vorsichtig, um den Betrieb zu kämpfen. Sie schlug damals vor, Putin und dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk einen Brief zu schreiben, aber das Gewerkschaftskomitee hatte Angst, fragte bei der Metallarbeiter-Gewerkschaft um Erlaubnis, der war es auch nicht geheuer, man fand eine Ausrede – angeblich liege der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb unter 50 Prozent, ja was soll man da schreiben? Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr.

Daran, dass die Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterschaft schützen soll, erinnerte sich natürlich ohnehin niemand mehr

Schewtschenko ließ nicht locker; sie liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert, war stolz auf ihn gewesen und konnte nicht glauben, dass von heute auf morgen plötzlich alles in sich zusammenfallen sollte. Die Briefe wurden geschrieben, von knapp der Hälfte der Kollegen unterzeichnet und an die Empfänger geschickt.

„Und wieso haben nicht alle unterzeichnet?“, frage ich Irina. 

„Manche waren schon gekündigt und sagten, der Betrieb gehe sie nichts mehr an, andere meinten, das würde nichts bringen, und wieder andere hatten Angst.“

„Sie hatten Angst, den Brief zu unterzeichnen?“

„Na klar.“ 

Irina liebte ihre Arbeit, hatte sich immer mit dem Betrieb identifiziert

Mir fällt Pikaljowo ein, eine kleine sogenannte Monostadt in der Leningrader Oblast, deren Bewohner aus Protest gegen die Schließung wesentlicher Betriebe eine wichtige Verkehrsader blockiert und damit erreicht hatten, dass der Präsident vor Ort erschien und eine relative Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde. Sieben Jahre ist das gerade mal her.

„Ha“, lacht Iwan Iwanytsch, „von wegen Pikaljowo, hier hat kein Mensch von Pikaljowo gehört, und wer davon gehört hat, der hat es längst vergessen. Den Leuten wird ja das Hirn derart vollgemüllt.“ 

„Womit denn?“, frage ich – vielleicht wird den Menschen im Ural das Hirn ja mit anderem Zeug vollgemüllt als in Moskau.

„Ich sag nur Mara Bagdassarjan“, knurrt Iwan Iwanytsch unvermittelt, und ich weiß im ersten Moment gar nicht, wen er meint, so abwegig ist hier, in der erlöschenden Fabrik, der Gedanke an diese verwöhnte Moskauer Bonzengöre.  

Jeden Freitag zwischen acht und zehn Uhr morgens versammeln sich in der Eingangshalle des Resh Nickel-Werks die Mitarbeiter zur Registrierung: Um drei Monate lang den durchschnittlichen Monatslohn zu bekommen, muss man hier erscheinen und nachweisen, dass man noch keine Arbeit gefunden hat und dass man noch am Leben ist. Und es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt. Die Abteilungsleiter notieren den Namen auf der Liste – man kann wieder gehen.

Es fühlt sich an, als wäre man selbst es, der dem Unternehmen etwas schuldig ist, und nicht umgekehrt

Die Leute gehen aber nicht gleich nach Hause, sie stehen noch zusammen und reden. Diskutieren, was man jetzt machen soll. Wirken aber irgendwie verloren. Am Nebentisch schlägt eine adrett gekleidete und apart frisierte Dame mit Namensschild vom Arbeitsamt Resh mir vor, die Stellenanzeigen durchzuschauen; sie hält mich für jemanden vom Betrieb. Ich schaue sie mir an – insgesamt etwas über 100 Jobs, in erster Linie für Menschen mit Hochschulabschluss. Für einfache Leute ohne Ausbildung gibt es auch etwas: Reinigungskräfte für Produktionsräume werden gesucht, für 8000 Rubel [etwa 115 Euro – dek] und ein paar Zerquetschte. 

Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie. Nun wird es damit auch nichts mehr werden

„Ach herrje, also da hat mein Mann mal gearbeitet, da hauen sie alle wieder ab, das ist nur furchtbar da“, sagt eine Frau neben mir. „Das sind sowieso fast alles nur so windige Jobs, die da angeboten werden“, fügt eine andere hinzu. „Zu Privatunternehmern darf man nicht gehen, die hauen einen nur übers Ohr. Normale Stellen gibt es für uns nur auf dem Friedhof, die scheißen doch alle auf uns, unser lieber Präsident inbegriffen, vom großen Glockenturm runter.“

Ich bin zu Besuch bei zwei der entlassenen Resh Nickel-Mitarbeiter, bei Irina und ihrem Mann, dem Gabelstaplerfahrer Sergej. Sergej schlägt sich inzwischen mit Gelegenheitsjobs durch – mal was ausfahren oder austragen, irgendwo mit anpacken. Sie wohnen in einem klitzekleinen eigenen Häuschen, das Sergejs Großmutter seinerzeit gebaut hat. Fließend Wasser haben sie keins. Und einen öffentlichen Hydranten gibt es in der ganzen Straße nicht. Sergej karrt das Wasser mit dem Auto von irgendwo an. Eine Gasleitung verläuft wenige Meter von ihrem Haus entfernt, aber das Geld für einen eigenen Gasanschluss hatten Serjosha und Ira nie, und nun wird es damit auch nichts mehr werden. 

Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen

So etwas ist mir an vielen Orten in Russland begegnet – das Gasrohr vor der Haustür und die Leute kochen ihr Essen auf dem Holzofen. Irina kocht mit Flaschengas. Das Grundstück, auf dem das Haus steht, misst 300 Quadratmeter, dort wird das Gemüse angebaut, das die Familie ernährt, alles von Kartoffeln bis Tomaten. Vieh halten Serjosha und Ira nicht mehr, das alles lohnt sich nicht mehr, dafür gibt es einen Hahn.

„Der ist bloß zum Krähen!“, erklärt Serjosha.

Das Haus hatte Sergej angefangen umzubauen, sie wollten eine zweite Etage draufsetzen, und die Sache zog sich eh schon hin wie bei Cipollinos Freund Gevatter Kürbis. Jetzt ist das ganze Bauprojekt natürlich auf unbestimmte Zeit vertagt.

„Was mir nicht in den Kopf will“, sagt Sergej, „wir leben hier auf Metall und Eisen, warum soll es sich auf einmal nicht mehr rentieren? Wir sitzen auf Gas und Erdöl, und das Benzin ist so teuer, dass wir im Urlaub kaum 200 Kilometer weit kommen.“

„Haben Sie damit gerechnet, dass das Werk dichtgemacht wird?“

„Wir dachten, es würde einen Betriebsstillstand geben, das hatten wir ja früher auch schon, davon geht die Welt nicht unter. Wir haben den Nickelpreis an der Londoner Börse im Fernsehen verfolgt, von dem hängen wir ab, hieß es. Bisher haben wir noch keine Kündigung unterschrieben, weder Irina noch ich, wir wollen warten bis zum Schluss – vielleicht machen sie ja plötzlich doch noch wieder auf.“

„Ich habe meine Arbeit sehr geliebt, ich hänge sehr an ihr und dem ganzen Betrieb, Prüferin war ich nämlich, in der Buntmetallproduktion“, ergänzt Irina. 

Wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen

„Es fällt einem schwer zu glauben, dass wir nicht mehr gebraucht werden, wir haben ja nun auch nicht zwei linke Hände oder so, wir können unsern Teil beitragen für unser Land, wir bitten nicht um Geld, wir wollen keine Almosen, sondern die Chance, uns unseren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, in unserer Stadt, da wo wir hingehören. Aber wie es aussieht, braucht man uns lediglich bei den Wahlen. Eine Art Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“, sagt wiederum Sergej. 

„Gab es mal eine Zeit, in der Sie nicht aufs Geld schauen mussten?“, wechsle ich das Thema. 

„Ach, na woher denn!“ Irina winkt ab. „Dicke hatten wir es noch nie. Dass man sich einfach das kaufen kann, was einem gefällt – das gab es bei uns nicht. Ich nehme immer nur das Billigste, egal ob Lebensmittel oder Kleidung. Wir haben alles Geld in das Haus gesteckt, vor drei Jahren haben wir einen Kredit über 150.000 [etwa 2186 Euro – dek] aufgenommen, jetzt zahlen wir 5000 [etwa 73 Euro – dek] im Monat ab. Wie das jetzt werden soll, wissen wir auch nicht, unsere Tochter geht ja auch noch zur Schule, dieses Jahr wird sie fertig, sie will Architektin werden.“

„Menschen auf den Knien sind wir, billige Arbeitskräfte, die ihre Rechte nicht kennen“

In dem winzigen Kämmerchen, das ihre Tochter Nastja bewohnt, hängt ein von ihr selbstgemaltes Plakat an der Wand. Darauf steht: „Du und nur du allein hast dein Leben in der Hand.“ 

Bloß – in der Hand haben Sergej und Irina nicht allzu viel. 

Nach dem Besuch bei den beiden ist einem bitter zumute, schreien möchte man, so laut, dass es bis zum Aldebaran zu hören ist, und sagen: Du Gutsherr, oder wie soll man ihn sonst nennen, diesen Patron in weißem Anzug und teurem Hut, da hast du hier ganz wunderbare, einfache Arbeiter vor dir, wieso fährst du denn nicht zu ihnen hin, rufst sie alle zusammen und redest mit ihnen, aber nicht in der Saldo-Popaldo-Sprache und auch nicht von oben herab runtergepöbelt, sondern ganz normal und geradeaus, von Mensch zu Mensch, falls du dich noch erinnerst, wie das geht – sich ganz normal-menschlich, nicht überheblich, mit den Leuten unterhalten, erklären, was passiert ist. Und dann: Die eigene Gier im Zaum halten und etwas für die tun, die dir und deinesgleichen so fleißig dabei behilflich waren, Geld zu scheffeln, und dabei selber weniger verdient haben als einer von den Tabakkrümeln in deiner Hosentasche gekostet hat …

Aber so laut, dass man es bis zum Aldebaran hört, kann man nicht schreien.

Wir erinnern uns, wie in Tschechows Kirschgarten der greise Firs, der seiner Herrschaft das ganze Leben voller Ergebenheit gedient hat, in der Eile [von seinen eigenen Leuten im Haus – dek] vergessen wird. Hier sollen jetzt 1000 Menschen vergessen werden, und bald womöglich auch Resh selbst. 

Und der Ton, nicht einmal nur der einer gerissenen Saite – vielmehr einer ganzen Stadt! – wird niemanden erschaudern lassen.

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Russische Wirtschaftskrise 2015/16

Die Wirtschaftskrise im Herbst 2014 hatte Russland ökonomisch vor eine unsichere Zukunft gestellt. Drei unabhängige Entwicklungen setzten die russische Wirtschaft gleichzeitig unter Druck: der Einbruch des Ölpreises, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland sowie strukturelle Probleme, das heißt fehlende Anreize zu Investitionen und zur Steigerung der Produktivität. Erst mit der Erholung des Ölpreises 2017 kam es wieder zu einem leichten Wirtschaftswachstum.

Schon 2013 war die russische Wirtschaft trotz hoher Ölpreise kaum gewachsen (+1,8 Prozent)1. Da in Russland schon seit vielen Jahren weniger investiert wird als in vergleichbaren Ländern, wird pro Arbeitsstunde in Russland noch immer nur halb so viel hergestellt wie im EU-Durchschnitt.2 Durch die fehlende Wachstumsdynamik und weniger Spielraum im Staatshaushalt war die Ausgangslage vor der aktuellen Krise deutlich schlechter als im Vorfeld der globalen Finanzkrise 2009 (Wachstum in Russland 2008: +5,2 Prozent3).

Als der Ölpreis sich 2014 innerhalb weniger Monate halbierte, zog dies den Wert der russischen Exporte und damit auch die Nachfrage nach dem Rubel nach unten. Zusätzlich schwächten die westlichen Wirtschaftssanktionen die Währung. Großkonzerne wie Rosneft mussten Rubel in Dollar eintauschen, um ihre Kredite bei westlichen Banken zurückzuzahlen. Insgesamt flossen aus Russland 2014 netto 154 Milliarden US-Dollar Kapital ab – mehr als doppelt so viel wie 2013.4 Der Rubel verlor in der zweiten Jahreshälfte knapp 50 Prozent seines Werts zum Dollar.

 

Über den schwachen Rubel wurde die Krise für die russische Bevölkerung deutlich spürbar. Fast alle importierten Güter verteuerten sich schlagartig. Dies betraf keineswegs nur die bei der Mittelschicht beliebten Waren wie Elektronik, Möbel und Autos, sondern auch Lebensmittel und Medikamente. Die Beschränkung des Lebensmittel-Angebots durch die russischen Gegensanktionen verschärften diese Entwicklung noch. Die Inflation stieg in der Folge auf über 15 Prozent, für Lebensmittel auf über 20 Prozent.5 Da die Gehälter stagnierten, senkte die Inflation die realen Einkommen der russischen Bevölkerung, was den privaten Konsum im ersten Quartal 2015 um 8,8 Prozent einbrechen ließ.6 Im Vergleich zum Vorjahr erhöhte sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Russland um 2,1 Millionen.7

Der schwache Rubelkurs und die Inflation bewegten die russische Zentralbank im Dezember 2014 zu einer radikalen Erhöhung des Leitzinses auf 17 Prozent (zum Vergleich: In der Eurozone waren es zu diesem Zeitpunkt 0,05 Prozent).8 Höhere Zinsen können zwar eine Währung stärken und die Inflation dämpfen, allerdings erhöhen sich mit ihnen auch die Kosten der Kreditfinanzierung für Unternehmen und Privathaushalte. Durch den hohen Leitzins, das weiter sinkende Realeinkommen und die wetterbedingt besonders üppige Ernte stiegen die Verbraucherpreise im Jahr 2017 um nur noch 2,5 Prozent – für Russland ein historisch niedriger Wert.

Die fehlende Konsumnachfrage und die gestiegenen Finanzierungskosten stellten die russischen Unternehmen in der Wirtschaftskrise vor große Probleme.9 Im Jahr 2015 schrumpfte die russische Wirtschaft um 2,5 Prozent. Auch für 2016 gab die russische Statistikbehörde ROSSTAT noch ein leichtes Minus bei der Wachstumsrate bekannt (-0,2 Prozent).10

Das russische Finanzministerium verzeichnete 2015 ein Defizit im Staatshaushalt in Höhe von 3,4 Prozent des BIP. 2016 fiel der Fehlbetrag mit 3,7 Prozent des BIP noch größer aus, wobei die Regierung ihre Bilanz durch (Teil)Privatisierung von Staatskonzernen um etwa ein Prozent des BIP aufbesserte. Bei dem Fehlbetrag schlagen vor allem die gesunkenen Einnahmen aus Öl-Exporten sowie die um ein Drittel gestiegenen Militärausgaben zu Buche. Das Defizit verringerte sich 2017 auf 1,5 Prozent und wurde, wie bereits in der Krise 2009, aus dem Reserve-Fonds finanziert, der etwa 5 Prozent des russischen BIPs beträgt. Im Jahr 2018 erwartet das Finanzministerium durch den wieder gestiegenen Ölpreis einen leichten Haushaltsüberschuss.11


1.The World Bank: GDP growth (annual %) 
2.OECD.Stat: Level of GDP per capita and productivity 
3.The World Bank: Russia Economic Report 33: The Dawn of a New Economic Era? (hier interessant: S. 5) 
4.International Monetary Fund: Russian Federation: 2015 Article IV Consultation – Press Release; And Staff Report 
5.OECD.Stat: Consumer prices – annual inflation und OECD.Stat: Consumer prices – annual inflation, food 
6.OECD.Stat: Key Short-Term Economic Indicators: Private consumption (volume) 
7.The World Bank: Russia Monthly Economic Developments, August 2015 
8.The World Bank: Russia Economic Report 33: The Dawn of a New Economic Era? (hier interessant: Figure 19) 
9.Eine Ausnahme sind exportierende Unternehmen außerhalb der Ölindustrie, die vom schwachen Rubelkurs profitieren.
10.Bis Juli 2015 belief sich das Defizit allerdings bereits auf 2,8 % des BIP, siehe: Ria Novosti: Deficit federalʼnogo bjudžeta Rossii za janwarʼ-ijulʼ sostavil 2,8 % VVP 
11.Kluge, Janis (2018): Russlands Haushalt unter Druck, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 14/2018 
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Sanktionen

Als Reaktion auf die Angliederung der Krim und Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine verhängten die EU und die USA im Jahr 2014 Sanktionen gegen Russland. 2018 beschlossen die USA neue Sanktionen, unter anderem wegen Hackerangriffen und Syrien. Seitdem wird diskutiert: Sind Sanktionen sinnvolle Mittel, um Moskau Grenzen aufzuzeigen? Oder schüren sie nur die Eskalation? Janis Kluge über die Strafmaßnahmen und ihre Wirkung.

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Gegensanktionen

Als Reaktion auf die westlichen Sanktionen, die nach der Angliederung der Krim gegen Russland verhängt wurden, reagierte Russland mit Gegensanktionen. Das russische Handelsembargo beinhaltet vor allem Einfuhrverbote für Lebensmittel. Während westliche Hersteller Exportverluste erlitten, verteuerten sich in Russland, nicht zuletzt durch die umstrittene Vernichtung von Lebensmitteln, die Preise für zahlreiche Nahrungsmittel.

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Zentralbank

Die Russische Zentralbank ist die Hüterin der Währungsstabilität. War die vorrangige Aufgabe der Zentralbank in den 1990ern, die Inflation des Rubels zu begrenzen,so konnte sie im letzten Jahrzehnt dank steigender Rohstoffexporte große Währungsreserven anhäufen. Ende 2014 musste die Zentralbank einen Teil der Reserven jedoch verkaufen, um den drastischen Kursverfall des Rubels zu verhindern.

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Higher School of Economics

Die Higher School of Economics zählt zu den wichtigsten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

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Jewgeni Jasin

Jewgeni Jasin (1934–2023) war ein liberaler russischer Ökonom, der zunächst als Berater von Boris Jelzin und von 1994 bis 1997 dann als Wirtschaftsminister die Wirtschaftsreformen der Jelzinzeit entscheidend mitprägte. Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik war er weiterhin gesellschaftspolitisch aktiv: Jasin war Forschungsdirektor der Higher School of Economics, leitete die Stiftung Liberale Mission und war Kolumnist beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Als Vertreter der wirtschaftsliberalen Elite kritisierte er die zunehmende Autokratisierung in Putins Regime und forderte mehr Rechtsstaatlichkeit ein.

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Jegor Gaidar

Jegor Gaidar (1956–2009) war einer der wichtigsten Reformer der 1990er Jahre und gilt als Vater der russischen Marktwirtschaft. In der russischen Gesellschaft ist Gaidar sehr umstritten: Während seine Befürworter ihm zugute halten, dass er die Rahmenbedingungen für das private Unternehmertum in Russland schuf und das Land vor dem totalen wirtschaftlichen Kollaps bewahrte, lastet ihm der Großteil der Bevölkerung die Armut der 1990er Jahre an. Nach Gaidars Tod wurde ihm zu Ehren eine Stiftung gegründet: Diese fördert unter anderem (Wirtschafts)Wissenschaftler und engagiert sich für eine liberale Grundordnung. 

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Krim

Es war kein Zufall, dass die russische Präsidentschaftswahl 2018 am 18. März stattfand. Die Wahlbeteiligung und die rund 90-prozentige Zustimmung für Putin auf der Krim stellt der Kreml als eine Art zweites Referendum über die Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland dar. Gwendolyn Sasse über die mythenumwobene Region, das Narrativ der „russischen Krim“ und die Selbstwahrnehmung der Krim-Bewohner nach der Angliederung an Russland. 

 

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