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Pelageja am Steuer

Schon zu Zeiten der Sowjetunion arbeiteten Frauen oft in typischen Männerberufen. Aber als Fahrerinnen trifft man sie selten. Pelageja, Mutter von fünf Kindern, hat in ihrem Berufsleben alle Transport-Sparten kennengelernt. Als Rentnerin nun fährt sie Taxi und hat auf ihrer Fahrt mit Jewgenia Wolunkowa viel zu erzählen. Eine Reportage auf Takie Dela.

Source Takie dela

 Fotos © Kristina Syrtschikowa

Spät am Abend: Pelageja arbeitete noch in ihrem alten Lada, um was dazuzuverdienen. Sie beförderte Kunden. Ein Mann winkte den Wagen heran, stieg ein und nannte eine Adresse. Nach ein paar Kilometern, die Straße war leer, hielt er Pelageja eine Pistole an die Schläfe: „Raus aus dem Wagen!“

Pelageja stieg nicht aus. Sie drehte sich zu dem Mann um und sagte: „Wem bitte sehr, möchtest du hier Angst machen? Mir? Einer Mutter von fünf Kindern? Ich hätte mich letztens fast vor den Zug geschmissen wegen diesem verfluchten Leben. Ich habe keine Angst, schieß doch. Nur um die Kinder tut es mir leid, im Heim wird sicher nichts aus ihnen. Außer mir haben sie niemanden.“

Der Gedanke, sich vor den Zug zu werfen, war Pelageja früh am Morgen gekommen. Die Kinder schliefen noch. Schon bald würden sie aufwachen und etwas zu essen verlangen. Es war aber nichts zu essen im Haus.

Viele Jahre schon hatte Pelageja sich abgestrampelt, jeden Job angenommen. Und sie, diese fünf, waren wie die Heuschrecken. Sie kauft zehn Brote – und nach zwei Tagen ist alles weg. Sie weicht Brot in Wasser ein, streut Zucker drauf, sie essen es, und ab in den Hof. Zwei Stunden später stehen sie wieder da: „Mama, wir haben Hunger!“ Nicht auszuhalten.

Sie gab ihnen keinen Abschiedskuss, um sie nicht zu wecken. Drehte sich um und ging davon. Sie kam zur Bahnstation und stellte sich an die Gleise. Lange stand sie so da, endlich hörte sie in der Ferne das Pfeifen. Der Zug kam näher, Pelageja war bereit. Plötzlich sieht sie in einer Wolke über den Gleisen ihre Kinder. Alle fünf. Sie drücken sich aneinander, schauen erschrocken. Als wäre sie aufgewacht, trat sie von den Gleisen zurück, und brach in Tränen aus und sah, wie der Zug sich entfernte.   

„Ist das nicht gelogen mit den fünf Kindern?“
Die Pistole drückte immer noch gegen die Schläfe.
„Was soll ich denn lügen? Hier sind sie.“
Sie holte ein Foto hervor. Der Mann betrachtete es.
„Sieh mal an. Bist ja ne Heldenmutter. Na gut, los. Gib Gas.“ 
Sie fuhren zur Stawropolskaja. Der Mann stieg aus.
„Warte hier!“

Kurze Zeit später kam er zurück. Pelageja stand noch da.

„Warum biste denn nicht weggefahren? Bist wohl ne ganz Furchtlose?“
„Ich bin doch neugierig, wie die Sache ausgeht.“
„Oh Mann! Du bist mir vielleicht ein Weib! Hier nimm. Kannst fahren. Und schönen Gruß an die Bälger.“

Er warf Süßigkeiten und Sekt auf den Sitz. Zog Geld aus der Jackentasche, gab es ihr und verschwand in der Dunkelheit.

Pelageja sitzt seit 45 Jahren am Steuer

Die Atamanin

Pelageja Alexandrowna ist vor 15 Jahren in Rente gegangen, hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Putzfrau, Wachfrau, Verkäuferin. Und in den letzten paar Jahren: Taxifahrerin. Als sie zum Taxiunternehmen Lider in Samara kam, um sich zu bewerben, sah man sie verwundert an: „Wo wollen Sie denn hin, Großmütterchen?“ Aber Pelageja hat 45 Jahre Fahrerfahrung. Hat Lkws und Straßenbahnen gefahren. Und als sie zum ersten Mal am Steuer eines Pkw saß, war sie gerade mal zehn. Damals hatte der Großvater sie und ihre Großmutter mit dem Auto ins Nachbardorf mitgenommen. Dort hat er sich dann die Kante gegeben und konnte nicht mal mehr geradeaus gucken. Die Großmutter war völlig aufgelöst: Wie heimkommen? Also setzte der Großvater die Enkelin hinters Steuer. Ein paarmal gab er ihr eins auf den Hinterkopf – mal hatte sie den Motor abgewürgt, mal den falschen Knopf gedrückt. Letztlich hat Pelageja aber alle heil nach Hause gebracht.

Vor kurzem ist Pelageja von Lider zu Uber gewechselt. Sie hat gelernt, mit der neuen Technik umzugehen. Es ist Januar – der erste Monat in diesem Wagen. Vieles versteht sie noch nicht, aber es macht schon Spaß, weil sich damit etwas verdienen lässt.

„Hallo, Jewgenia, ich bin vor Ihrem Haus, kommen Sie bitte runter!“

Oft kommt Pelageja erst nach Mitternacht nach Hause

Pelageja fährt einen blauen Lada, den ihr Sohn auf Kredit gekauft hat. 16.000 Rubel [ca. 225 Euro] muss sie monatlich für das Auto zahlen. Der Rest geht an andere Banken, um weitere Kredite zu tilgen. Ein bisschen was muss sie noch zum Leben zurückbehalten. Sie bekommt 7000 Rubel [ca. 100 Euro] Rente. Drei Tilgungsraten werden direkt von der Bank eingezogen: 2017 hat Pelageja ein Bußgeld wegen verspäteter Kreditzahlung bekommen.

Die Oma kutschiert ihre Passagiere von früh bis spät, manchmal sogar die ganze Nacht hindurch, wenn die Kraft reicht. Bisher liegt ihr Rekord bei 100 Fahrten die Woche. Pelageja findet, das ist zu wenig, da ist noch mehr drin.

Pelageja ist auf Sachalin geboren – ihre Mutter hat dort geheiratet, hat den Mann aber dann verlassen und ist nach Samara gegangen. Damals war Pelageja sieben.

Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen

Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen. Klein beigegeben hat sie nur bei der Mutter. Die versuchte immerzu, ihr Liebesleben auf die Reihe zu kriegen, traf sich mit verschiedenen Männern, aber es wurde nie etwas Ernsthaftes daraus. Sie lebten in einer Baracke, in bitterer Armut. Die Mutter litt darunter und ließ es gelegentlich an Pelageja aus. Pelageja wird wohl nie vergessen, wie die Mutter ihr einmal den Kopf aufgeschlagen hat.

„Ich war in Hausschuhen rausgegangen, um Holz zu sägen. Sie hat es gesehen, sich einen Metalleimer auf der Veranda gegriffen und ihn nach mir geworfen. Das hat vielleicht geblutet! Aber ich bin der Mutter nicht böse. Ich kann sie verstehen, sie wollte ein gutes, glückliches Frauenleben. Und durch mich waren ihr die Hände gebunden. Damals mit acht habe ich mir geschworen, dass ich niemals trinken und meine Kinder niemals schlagen würde. Nur einmal konnte ich mich nicht beherrschen und hab meinem Sohn eine Ohrfeige gegeben. Aber ich habe mich sofort entschuldigt und gesagt, ich würde ihm nie wieder weh tun. Egal, was passiert, er soll zu mir kommen und es mir erzählen. Zusammen finden wir eine Lösung.“

Pelagea mit dem jüngsten Spross der Großfamilie – ein seltenes Spielstündchen

Pelageja hat drei Söhne und zwei Töchter. Alle sind schon groß, außer den beiden jüngsten Söhnen, Wanja und Ljonja, sind alle schon aus dem Haus. Verheiratet war Pelageja drei Mal. Der erste Mann hat getrunken. Hat sich letzten Endes totgesoffen. Der zweite war arbeitsam, ist aber auch gestorben: ist bei der Arbeit in einen Brunnen gefallen. Den dritten hat sie verlassen: Die ganze Schwangerschaft hindurch hat er sie schlecht behandelt, sie hat es ertragen. Aber als er sie nach der Entbindung nicht von der Klinik abgeholt hat, hat sie drauf gespuckt und ihn zum Teufel geschickt. Sie entschied, besser, sich allein abstrampeln, statt immer nur ertragen. Damit war es für Pelageja vorbei mit den Männern. Nur einmal traf sie noch einen netten, ging mit ihm aus. Aber als er ihr seine Liebe gestehen wollte, unterbrach ihn Pelageja: „Ich sag dir jetzt etwas, dann verschwindest du gleich: Ich habe fünf Kinder.“ Er ist nicht sofort verschwunden, hat sie noch nach Hause gebracht und sich danach nie wieder blicken lassen. Für Männer blieb sowieso keine Zeit, Pelageja hatte fünf Mäuler zu stopfen.

„Mama hat immer gesagt: ‚Wozu zum Teufel kriegst du all die Kinder?!‘ Aber ich wollte, dass nach mir jemand bleibt … Um sie durchzukriegen, habe ich alles Mögliche getan. Habe in einer Fabrik als Putzfrau und als Wächterin gearbeitet. In einer Brauerei hab ich Kwas ausgeschenkt. Hab als Anstreicherin gearbeitet. Mit meinem kleinen Saporoshez hab ich was dazuverdient, Sachen ausgeliefert. Ein Auto bringt am meisten Geld. Du fährst einen Tag und hast zumindest das Nötigste zusammen.“

Die Kutscherin

Die Ausbildung zur Fahrerin machte Pelageja, als sie noch keine zwanzig war. Beim Spazieren mit einer Freundin sahen sie einen Aushang: Fahrausbildung in den Kategorien B und C. Sie besuchten den Kurs und schlossen mit Bestnoten ab. Schon bald saß Pelageja hinterm Steuer eines GAZ-51.

„Was hab ich nicht alles transportiert! Wie ich die Mehlsäcke entladen habe, das vergesse ich nie! Hatte sie von der Mehlfabrik geholt, fahre zum Lieferort, und da ist kein Träger. Was soll ich machen, der Wagen muss ja entladen werden. Ich öffne also den Laderaum … Was rast du denn so, du meine Güüüüüte! Links ist die Tram, ich muss doch hier durch!“, Pelageja ist abgelenkt durch ein Westauto, das sie geschnitten hat. „Also, stell dir das vor, fünfzig Mehlsäcke! Und ich war damals zwanzig. Als ich den letzten ausgeladen hatte, konnte ich nicht mehr fahren, so hab ich gezittert … Du brauchst gar nicht so zu schauen, so bin ich halt. Wenn etwas sein muss, tu ich es einfach, ich kämpfe für meine Ziele.“  

Pelageja arbeitet ohne Pause von montags bis sonntags. Am Wochenende schläft sie aus und beginnt erst um neun Uhr

Als Pelageja keine Lust mehr auf den Lkw hatte, machte sie eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin und hat ein paar Jahre Fahrgäste befördert. Als sie eines Tages schon auf dem Weg zum Depot war, kam eine Hochzeitsgesellschaft rein, etwa zwanzig Leute. Ins Depot wollten die aber nicht, sondern etwas weiter. Sie baten Pelageja sie hinzubringen, sie ging das Risiko ein. 25 Rubel hat sie für die Fahrt bekommen, damals war das viel Geld.

Die Hausbesetzerin

In den 1990ern ist Pelagejas Haus abgebrannt. Sie war mit den älteren Kindern in der Stadt, die drei kleinen waren zu Hause geblieben. Sie kam gerade noch rechtzeitig zurück, um die Kinder zu retten. Das Haus war zwar nicht vollständig ausgebrannt, aber leben konnte man darin nicht mehr. Die acht Monate alte Tochter unter den Arm geklemmt, marschierte Pelageja zur Verwaltung und bat um eine Wohnung. Aber Wohnungen gab es keine. Gehen Sie dorthin zurück, wo es gebrannt hat, hieß es. Für eine Zeit kam Pelageja bei Bekannten unter und machte sich ans Klinkenputzen bei den Beamten. Sie kam bis zur Regionalverwaltung.

„Als man mich überall abgewimmelt hatte, machte ich mich auf die Suche nach dem Gouverneur. Damals war das Titow [Konstantin Titow war von 1991 bis 2007 Gouverneur von Samara]. Im Erdgeschoss standen Wachmänner, aber irgendwie bin ich an denen vorbeigekommen. Ich habe die Türen eigenhändig geöffnet. Hinter der ersten lag da ein roter Läufer. Ich gehe rein, gehe weiter und sehe plötzlich ein Türschild: Titow, Oberhaupt der Region. Genau da will ich hin!

Ich stürme rein, die Sekretärin ruft noch: ‚Wo wollen Sie hin? Er ist in einer Besprechung. Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?‘ Wie ich es geschafft hab, sie zur Seite zu schieben, weiß ich selbst nicht, sie war ganz schön wuchtig, aber ich war sauer. An wen ich mich mit meinen Problemen auch wende, keinen interessiert’s die Bohne … Ich gehe also rein zu Titow, das Zimmer ist voller Menschen. Ich sage: ‚Entschuldigen Sie bitte, Herrschaften, ich habe einen Notfall. Wenn Sie mir nicht helfen, wer dann?‘ Zufällig sitzt da auch der Chef unserer städtischen Straßenbahngesellschaft. Der hat mich wiedererkannt. Das ist meine Angestellte, sagt der. Also riefen sie mir einen Wagen und brachten mich und die Kinder in ein Wohnheim. Es war Winter, fast minus 30 Grad. Ich komme rein, die Wachfrau hat zwei Heizwärmer zu ihren Füßen und trotzdem wallt Dampf aus ihrem Mund. Und meine Olga ist zehn Monate alt, wie soll ich in dieser Bruchbude leben? Die Wachfrau ist sogar noch in unser Zimmer mitgegangen, um die Bettwäsche abzuziehen. Die ist neu, hieß es, Sie müssen Ihre eigene mitbringen. Wie soll ich denn meine eigene mitbringen, wenn sie verbrannt ist? Ich habe die Betten zusammengeschoben, die Kinder von allen Seiten umarmt und so saßen wir die ganze Nacht da, haben uns gegenseitig warmgehalten.“

In den 1990er Jahren brannte Pelagejas Haus ab, sie kam mit ihren Kindern eine zeitlang bei Bekannten unter

Nach der durchfrorenen Nacht war Pelageja klar, dass ihr niemand helfen würde. Sie beschloss, selbst eine Wohnung zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie auf dem Bau gearbeitet. Sie wusste, mit welchen Schlüsseln man reinkommt. Sie schnappte sich einen großen Schlüsselbund mit vielen gleichen und ging in einen Neubau, wo die Leute gerade erst anfingen einzuziehen. „Ich ging von Tür zu Tür, neben der vierten begann mein Herz zu pochen: bum-bum-bum. Das ist unsere Wohnung! Hab den richtigen Schlüssel rausgesucht und bin rein. Sie gehörte der Stadtverwaltung und stand noch leer. Dort sind die Kinder und ich eingezogen. Ich habe gleich einen Brief an die Verwaltung geschrieben, dass ich auf eigene Befugnis die Wohnung mit der Adresse soundso bezogen habe. Da drin gab es gar nichts, nur die nackten Mauern. Anfangs benutzen wir einen Eimer als Toilette und gingen in die öffentliche Sauna zum Duschen. Als die Verwaltung erfuhr, dass ich dort eingezogen bin, kamen sie, um uns rauszuwerfen. Ich hab mich geprügelt. Ich weiß noch genau, wie eines Tages zwei Männer und zwei Frauen dastanden, und sich plötzlich meine Kindern greifen wollten. Sie waren damals auch noch krank, ich hatte sie mit Gänseschmalz eingeschmiert. Ich sag zu ihnen: ‚Kinder, wollt ihr auf die Straße?‘ Und sie: ‚Nein, Mama!‘ ‚Dann wehrt euch!‘ Also winden sie sich, glitschig wie sie sind, ständig aus den Griffen der ungebetenen Gäste … Irgendwann sind die dann gegangen. Und ich blieb noch drei Jahre in dem Haus, erst dann habe ich endlich eine Dreizimmerwohnung bekommen.“ 

Die Ernährerin

Pelageja fährt sicher und ruhig. Bremst nicht abrupt, überholt selten, lässt alle Fußgänger durch. Wird sie von vorbeifahrenden Autos angehupt, kontert sie stets mit demselben: „Arschloch!“

„Wie fahre ich? Gut?“
„Sehr gut!“

„Ich gebe mir Mühe, dass die Kunden sich wohlfühlen. Ich unterhalte mich gern, mache auch mal einen Scherz. Manche fragen mich beim Einsteigen: ‚Kommen wir überhaupt noch lebend an, Großmütterchen?‘ ‚Mal sehen‘, sage ich dann. Bisher hat sich keiner beschwert. Ich habe drei Regeln: aufmerksam sein, Abstand halten und die Geschwindigkeitsbegrenzung beachten. Das war’s, mehr braucht man nicht … Arschloch!“, ruft Pelageja einem hupenden Auto hinterher.

Pelageja erzählt. „Ich mag es, während der Fahrt mit meinen Fahrgästen zu plaudern und die Bäume am Straßenrand zu bewundern“

„Ist es anstrengend, den ganzen Tag am Steuer zu sitzen?“

„Ach was, hier erhole ich mich! Wenn ich im Haus arbeite, tun mir Arme und Beine weh. Böden wischen, Badewanne schrubben – dann bin ich kaputt. Ich lege mich hin und komm kaum wieder hoch. Aber ich rappel mich wieder auf. Die Kinder fragen: ‚Mama, wo willst du hin? Du bist doch kaputt!‘ Und ich: ‚Ich fahr mich erholen.‘ Ich mag Autofahren sehr.“

„Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub?“

„Urlaub hatte ich 1992.“

„Sind Sie irgendwo hingefahren?“

„Wo soll ich schon hinfahren, Schätzchen? Ich war zu Hause bei den Kindern. Und habe nebenbei gearbeitet. Ich bin Mama und Ernährerin, Erholung ist für mich nicht vorgesehen.“

Pelageja kauft fast nur Dinge, die heruntergesetzt sind. Sonderangebote oder im Ausverkauf. Für sich selbst kauft sie so gut wie nichts. Letztes Jahr hat sie sich ein Nachthemd gegönnt. Und dieses Jahr billige Sportschuhe, damit sie es hinterm Steuer bequemer hat. Aber jetzt ist es kalt, die Füße frieren. Sie überlegt, ob sie sich warme Stiefel kaufen soll, kann sich aber nicht dazu durchringen: Was wenn es dann nicht mehr reicht, um die Schulden abzubezahlen?

Schulden hat Pelageja viele. Die ersten Kredite hat sie aufgenommen, um das Haus zu kaufen. Sie hatte ihre Dreizimmerwohnung verkauft, weil sie ein Stück eigenes Land haben wollte, sie dachte, so wäre es einfacher, die Familie zu ernähren.

Pelageja tut es leid, dass die Kinder sich selbst überlassen waren, während sie arbeiten musste. Die älteren haben nach den jüngeren gesehen. Dafür wussten sie aber von klein auf, was es heißt, Geld zu verdienen. Als der Nachbarsjunge eine Spielkonsole bekam, wollten sie auch eine. Sie sagte: „Wenn ihr was wollt, verdient es euch.“ Sie hat ein Treppenhaus übernommen, und die Kinder haben die Böden gewischt. Als sie die nötige Summe zusammen hatten, kauften sie eine Spielkonsole. Genauso ist auch der Kassettenrekorder ins Haus gekommen.

Ihr Auto ist für Pelageja von größtem Wert. Ein Auto zu besitzen, bedeutet Geld zu verdienen

Als sie das Haus gekauft haben, konnten die Kinder kaum glauben, dass sie nun eigene Kartoffeln und Fleisch haben werden. Pelageja hatte auch Ferkel gekauft. „Mama gehört das jetzt alles uns? Wirklich?“ Das Geld, das vom Wohnungsverkauf übrig war, investierte sie in einen alten Wagen, einen Schuppen, die Ferkel und die Einrichtung des Hauses.

Für die Wasser- und Heizungsleitungen hat es nicht mehr gereicht, sie musste wieder zur Bank. Erst ein Kredit, dann der nächste, und noch einer. Für dies und das. Aber sie kam irgendwie über die Runden. Bis 2016 zahlte Pelageja immer pünktlich, doch dann wurde es immer schwieriger, mit dem Taxifahren Geld zu verdienen: zu wenig Aufträge, es reichte gerade mal für den Sprit. Sie ging zur Bank: „Macht mit mir was ihr wollt, ich hab kein Geld, um zu zahlen.“ Sie beschlagnahmten das Auto und ihre Rente. Dann hörte Pelageja von Uber.

„Ich bin kein Drückeberger. Solange ich die Kraft dazu habe, arbeite ich. Ich mag Uber, das sind gute Jungs. Und Prämien sammeln sich auch an. Hauptsache ich kann die kleinen Kredite abbezahlen, dann bleiben nur noch die drei großen ...“

„Wissen die Kinder von Ihren Problemen?“

„Wozu denn? Sie haben genug eigene. Der Sohn, der bei mir wohnt, hat drei Kredite. Meine Tochter kümmert sich ums Kind, ihr Mann sorgt allein für den Lebensunterhalt. Lena zahlt die Uni-Ausbildung ihres Sohnes, arbeitet von früh bis spät. Dima hat zwei Kinder … Wanja und Lena helfen ihm, die Kommunalka zu bezahlen, letztens haben sie mir bei der Gasrechnung geholfen. Mein Sohn macht was zu essen, wenn ich heimkomme, unterstützt mich. Jeder hilft, wo er kann.“

„Haben sie Jobs?“

„Ja … Aber hör mal, solange Arme und Beine funktionieren, warum soll ich herumsitzen? Wir kommen schon über die Runden.“

Unsere Fahrt endet im von Pelageja heißgeliebten Imbiss Blinari. Sofort zerrt sie mich von der Theke mit den Grillhähnchen weg, hin zu der anderen, mit dem „vernünftigen“ Essen: „Da ist es viel zu teuer, schau da gar nicht hin.“ Sie bestellt Reiskascha und Kissel. Ich überrede sie noch zu Kartoffelpuffern. Bis zum Flughafen sind wir auf Rechnung gefahren – zurück einfach so. Ich halte ihr 500 Rubel hin: „Für meine Heimfahrt.“ Pelageja zieht eine Brieftasche hervor, entweder unter der Achsel oder aus dem BH. Legt den Geldschein hinein und versteckt sie wieder.

Ich steige vor meinem Haus aus. Sie steckt den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster und ruft:

„Versprich, dass du dich immer liebhast und nie zulässt, dass dir einer was zuleide tut.“
„Versprochen!“
„Ganz sicher?“
„Ich verspreche es!“

Draußen sind es  minus 15 Grad. Wenn du in Sachalin aufgewachsen bist, wirst du niemals frieren, sagt Pelageja

Am nächsten Morgen klingelt um 11 Uhr das Telefon, Pelageja ist dran:

„Guten Morgen, Shenja-Schätzchen. Ich bin jetzt erst auf dem Heimweg.“

„Waren Sie etwa die ganze Nacht unterwegs?“

„Ja.“

„Wie viele Fahrten waren es denn?“

„Um die zwanzig. Jetzt fahre ich zu meinem Sohn ins Krankenhaus, bringe ihm Toilettenpapier und was zu trinken vorbei. Dann schlafe ich ein bisschen und weiter geht’s.“

„Sie müssen sich schonen, man braucht doch auch Erholung.“

„Alles gut, Kindchen, mach dir keine Sorgen. Diese Woche habe ich etwa 12.000 Rubel [170 Euro] verdient, ich brauche aber 20.000 [280 Euro] … Dafür ist die Freude umso größer, wenn ich das Geld kriege und einen Teil vom Kredit tilgen kann! Also gut, mein Sonnenschein, hab einen schönen Tag. Ich muss weiter!“

Text: Jewgenia Wolunkowa
Fotos: Kristina Syrtschikowa
Übersetzung: Maria Rajer
erschienen am 03.04.2018

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Gesellschaftsvertrag

Im Russland der 2000er Jahre steht der Begriff Gesellschaftsvertrag für ein implizites Einvernehmen zwischen Bevölkerung und politischer Führung: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. Spätestens seit der Wirtschaftskrise von 2014/15 haben sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Russland jedoch derart verändert, dass das „Ende des bisherigen Gesellschaftsvertrags“ diskutiert wird.

Nach den leidvollen Erfahrungen der postsowjetischen Transformationsperiode (vgl. die 1990er), die geprägt war von Kriminalität und Terrorismus, Armut und Arbeitslosigkeit sowie ausbleibenden Löhnen und Pensionen, sehnten sich große Teile der russischen Gesellschaft nach Sicherheit und Wohlstand. Im Austausch für politische Stabilität, innere Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung war die Mehrheit der Bevölkerung daher bereit, auf unabhängige Medien und politische Teilhabe weitgehend zu verzichten. Diese Parallelexistenz von Politik und Gesellschaft – verkürzt: Loyalität und Nichteinmischung gegen wirtschaftliche Verbesserungen – wird zuweilen als ungeschriebener Gesellschaftsvertrag bezeichnet.1

Die Finanzkrise von 2008/09 gab ersten Anlass zu Zweifeln, ob dieses Arrangement dauerhaft aufrecht erhalten werden könnte. Zwar federte der Staat mit massivem Einsatz finanzieller Mittel – unter anderem einer drastischen Rentenerhöhung – die Effekte der Krise ab, jedoch sank die Zuversicht der Bürger bezüglich ihrer wirtschaftlichen Lage erheblich.2 Dass dies sich nicht sofort auf die Beliebtheit Putins auswirkte, führt der Politikwissenschaftler Daniel Treisman auf den Georgienkrieg vom August 2008 zurück, der eine große Mehrheit der Bevölkerung im Angesicht eines außenpolitischen Konflikts hinter ihrer Regierung versammelte.3 Dieser sogenannte rally-round-the-flag-Effekt zeigt sich auch im Ukraine-Konflikt. Die neue Kiewer Regierung wurde als Bedrohung für ethnische Russen im Osten der Ukraine betrachtet, die Annäherung des Landes an den Westen beschwor Ängste vor einem Nato-Beitritt herauf. Mit der Angliederung der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine gewann die russische Führung erheblich an Popularität hinzu.

War die wirtschaftliche Leistung seit 2009 schon nicht mehr geeignet, dauerhafte Regimeunterstützung zu generieren, so wurde der Gesellschaftsvertrag der 2000er Jahre mit dem Ukraine-Konflikt endgültig transformiert. Die finanzielle Unterstützung der Krim, die enorme Aufstockung des Militärhaushalts (um 33 Prozent im Jahr 2015) sowie die wirtschaftlichen Einbußen infolge der westlichen Sanktionen verlangen der russischen Bevölkerung große finanzielle Opfer ab. Der Staat kürzt 2015 seine Ausgaben für Bildung (um 8 Prozent), Gesundheit (um 10 Prozent) und Wohnungsbau (um 40 Prozent), und die Reallöhne gehen 2015 um mindestens 9 Prozent zurück.4 Gleichwohl zeigen die Ratings des Präsidenten Werte wie zu besten Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs.5

An die Stelle des alten scheint also ein neuer Gesellschaftsvertrag zu treten: Das Wirtschaftswachstum und der Wohlstand der eigenen Bevölkerung werden angesichts der wahrgenommenen Bedrohungslage zurückgestellt. Im Austausch für Loyalität bietet die politische Führung nun ein neues Russlandbild an: nach zwei Jahrzehnten internationaler Bedeutungslosigkeit sei das Land nun „von den Knien auferstanden“ und habe seine Rolle als Großmacht wiedergefunden. Das Versprechen wirtschaftlichen Wohlergehens ist auf der Bürgerseite des Vertrages damit durch die Bereitstellung eines neuen Selbstbildes ersetzt: Das Psychologische tritt – zumindest teilweise – an die Stelle des Ökonomischen.

Folgt man dieser Interpretation, die auch Alexander Baunow vom Carnegie Moscow Center unterstützt6, so stellt sich die Frage, wie lange das neue Modell verlässliche politische Unterstützung erzeugen kann. Vor allem die armutsgefährdete Schicht unterhalb der Mittelklasse (Falscher Mittelstand) spürt die negativen wirtschaftlichen Folgen des neuen Gesellschaftvertrags, unter anderem durch die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und die Entwertung des Rubels. Da sie das gesellschaftliche Rückgrat von Putins Regime bildet, wird derzeit diskutiert, wie lange diese Gruppe einen Vertrag einhält, von dem sie wirtschaftlich nicht profitiert.


1.Schröder, Hans-Henning (2011): Kündigen die Bürger den Gesellschaftsvertrag? In: Russland-Analysen 2011 (231), S.12-14. Siehe auch Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609
2.Greene, Samuel (2012): Citizenship and the Social Contract in Post-Soviet Russia, in: Demokratizatsiya 20(2), S.133-140
3.Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, S.607, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609
4.Siegert, Jens (2015): Wirtschaftskrise in Russland - und keiner protestiert, in: Russland-Analysen 2015 (303), S.12-14
5.Lewada.ru: Odobrenie dejatelʼnosti Vladimira Putina
6.Baunow, Alexander (2015): Ever So Great: The Dangers of Russia’s New Social Contract
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