Медиа

Argument mit Sahne

Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow liefert sich derzeit einen Schlagabtausch mit der russischen Opposition: Nachdem er sie erst auf einer Pressekonferenz als „Volksfeinde“ bezeichnet hatte, sorgte er weiter mit Posts in Sozialen Medien für Aufruhr.

Während der Kreml-Sprecher abwiegelt, reagierte die Opposition alarmiert. Zumal auch die Spuren zur Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015 nach Überzeugung der Opposition in die nächste Umgebung Kadyrows führen – PARNAS-Politiker Ilja Jaschin veröffentlicht seinen Bericht dazu am 23. Februar.

Iwan Dawydow analysiert in der New Times, weshalb auch ein Tortenwurf eine Atmosphäre der Angst entstehen lassen kann.

Источник The New Times

Anfang Februar gegen halb zehn Uhr abends nimmt der Vorsitzende der Partei der Volksfreiheit PARNAS, Michail Kassjanow, in einem Moskauer Restaurant sein Nachtmahl ein. Drei Unbekannte platzen herein und werfen dem Politiker eine Torte ins Gesicht. „Feind!“ schreien die Angreifer. Es waren „ungefähr zehn Personen“ von „nicht-slawischem Aussehen“, so steht es später in Kassjanows Anzeige bei der Polizei. Moskauer Polizisten nehmen in der Nähe des Restaurants drei ihrer Kollegen aus Tschetschenien fest, doch der Geschädigte identifiziert sie nicht als Täter.  

Man könnte meinen, damit habe auch die Geschichte mit Ramsan Kadyrows Instagram-Video ein Ende gefunden, in dem Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu sehen war.

In den Social Media entflammte unter Oppositionellen sogar eine Diskussion: Darf man über den Vorfall scherzen oder nicht? Es handele sich ja schließlich um ein klassisches Motiv aus alten Schwarz-Weiß-Komödien: Ein Mensch kriegt eine Torte ins Gesicht. Direkter Verweis auf Charlie Chaplin und Buster Keaton. Ein unfehlbarer Gag, der noch immer funktioniert. Sie haben Blutvergießen erwartet? Wir servieren eine Farce!

Kadyrow hat alle übertrumpft. Aber hat das überhaupt etwas mit Kadyrow zu tun? Komm, los, beweis erst mal, dass das mittlerweile gelöschte Video etwas mit dem Vorfall in Moskau zu tun hat. Sind etwa patriotisch gestimmte „Personen nicht-slawischen Aussehens“ in der Hauptstadt des Imperiums eine Seltenheit?

Kadyrow selbst reagierte mit: „Schon wieder ich?“ und einem Schwarm lustiger Smileys. Um später ein Foto zu posten – wie immer, bei Instagram –, auf dem der Sänger Nikolaj Baskow bei einem Fest in Grosny eine Torte ins Gesicht kriegt. Und alle, inklusive Baskow, amüsieren sich prächtig. Eine liebenswürdige Tradition in den Bergen, muss man eben verstehen.  

Dieselbe Muss-man-eben-verstehen-These äußerte Kadyrows Sprecher Alwi Karimow: „Ramsan Achmatowitsch hat einen sehr feinen Humor, äußerst tiefgründig. Der ist einfach einzigartig, basierend auf unserer Folklore, die schon über Jahrhunderte lebt. Leider hat nicht jeder Sinn für Humor. Selbst wenn er etwas im Spaß sagt, kommt es vor, dass Leute das ernst oder gar persönlich nehmen. Spaß muss man eben verstehen.“   

Aber noch etwas muss man verstehen: Das Leben jedes Menschen, der es riskiert, das Regime zu kritisieren, ist transparent – wenn die wollen, finden sie dich. Sogar in einem feinen Restaurant. Und die Security schützt dich nicht.

Wenn du ein bekannter Politiker bist, wird der Kreml natürlich reagieren. In diesem konkreten Fall etwa riet der Pressesprecher des Präsidenten, Dimitri Peskow, dazu, die Angreifer „nicht mit der Führung Tschetscheniens und anderer Regionen Russlands“ gleichzusetzen. Die Polizei wird sich tätig zeigen. Aber eben nur, wenn du ein bekannter Politiker bist.          

Die schreckliche russische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, dass es sich um Terror handelt, wenn getötet wird, und zwar massenhaft. Oder zumindest, wenn „lange Haftstrafen sich in endlosen Etappen dahinziehen“, ebenfalls zu Tausenden.

Aber Terror, das ist, wenn man Angst hat. Drohungen in sozialen Netzwerken – sind Terror. Das Eindringen in die Privatsphäre und die Verfolgung wegen politischer Ansichten – auf ihre Art vielleicht lustig, mit Argumenten aus Sahne statt Blei – ist Terror. Anschläge auf Freiheiten, auf das Recht der freien Meinungsäußerung (übrigens nur innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens, denn mit jenen Widersachern, die diesen Rahmen übertreten, geht der Staat schon lang nicht mehr zimperlich um) – all das ist Terror.       

Und wenn sich der Staat nicht einmischt, heißt das, der Terror ist zumindest staatlich genehmigt. Und gut und nützlich für die Machthaber.

Ach, wird etwa in Russland getötet? Bald jährt sich der Todestag von Boris Nemzow. Wird etwa verhaftet? Viele der Bolotnaja-Aktivisten haben ihre Strafen schon abgesessen nach völlig abstrusen Urteilsbegründungen, ein paar warten auf ihre Verhandlung, die Ermittler sind noch an der Arbeit ...

Selbst wenn es sich bei alldem nur um nationale Besonderheiten „basierend auf Folklore“ handelt – nein, das ist kein regionaler Trend, sondern ein staatlicher. Um staatlich genehmigten Terror auszuüben, muss man lange anstehen.

Da stehen Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung des Abgeordneten Jewgeni Fjodorow an, die es der Fünften Kolonne schon lange heimzahlen wollen (am 11. Februar bewarfen sie das Auto von Kassjanow mit Eiern, auch sehr witzig), da steht die Antimaidan-Bewegung. Und das jetzt, wo der Staat nicht direkt sagt: „Los, macht schon“, sondern lediglich durch seine Untätigkeit zu verstehen gibt: „Ist schon ok.“   

Dass es Bedarf an Terror und an Terrorbereitschaft gibt, ist offensichtlich – und Nachfrage erzeugt Angebot.

Gegenspieler mit Torten und Eiern zu bewerfen, damit rühmten sich einst Aktivisten der in Russland mittlerweile verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. Doch die Nazboly überfielen seinerzeit die Großen dieser Welt und mussten für ihre Scherze bitter bezahlen.

Die heutigen Tortenwerfer hetzen Menschen, die weder Polizei noch Justiz noch Staatsanwaltschaft stärkend hinter sich haben. Sondern nur ihre Sicht auf das Schicksal des Landes. Das ist, milde ausgedrückt, widerlich. Einfach widerlich.

Ansonsten, klar, irre lustig. Eine Torte ins Gesicht – ganz wie bei Charlie Chaplin.          

Пожертвовать

читайте также

Гнозы
en

Michail Kassjanow

Die Figur Michail Kassjanow polarisiert: den einen gilt er als typischer Vertreter der mit den Oligarchen verbandelten Machtelite, den anderen als konsequenter Putin-Kritiker und möglicher Teil der politischen Zukunft Russlands. In jedem Fall ist er heute einer der liberalen Politiker mit der größten Erfahrung in Regierungsverantwortung.

Mit einem Abschluss als Ingenieur trat Kassjanow 1983 zunächst in die sowjetische Behörde für Wirtschaftsplanung Gosplan ein. Nach dem Zerfall der UdSSR machte er Karriere im russischen Wirtschafts- und Finanzministerium. Hier erreichte er in Verhandlungen mit Gläubigern des russischen Staates eine erhebliche Reduktion der Auslandsverschuldung. Aus dieser Zeit stammt auch sein Spitzname „Mischa zwei Prozent“, der ihm in russischen Medien noch immer anhängt: Für Insiderinformationen über die russischen Staatsschulden, so das Gerücht, habe er regelmäßig Provisionen aus den dadurch entstandenen Gewinnen seiner Geschäftspartner kassiert.1

Vom Regierungschef zum Herausforderer Putins

Im Jahr 1999 stieg Kassjanow zum Finanzminister auf, unter Präsident Putin saß er ab Mai 2000 dem ersten Kabinett mit den liberalen Ministern German Gref und Alexej Kudrin vor. Als Premierminister setzte Kassjanow viele marktwirtschaftliche Reformen um, unter anderem die neoliberale Rentenreform (vgl. Rentensystem). Die Inflation ging erheblich zurück und Russland erlebte einen Wirtschaftsboom (vgl. Stabilisierung). Wenngleich Kassjanow nie ganz unumstritten war2, avancierte er als erfolgreicher Regierungschef zum ernsthaften Herausforderer für Präsident Putin.

Nach Meinung vieler Beobachter fiel Kassjanow durch seine Kritik an der Verhaftung Michail Chodorkowskis im Jahr 2003 bei Putin in Ungnade. Er wurde 2004 entlassen und ging in die Opposition. Nach der Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur 2006 geriet er unter Druck: Seine Wahl zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei Russlands wurde durch einen vom Kreml organisierten parallelen Parteitag verhindert, die russische Justiz verfolgte ihn wegen einer zwielichtigen Privatisierung zweier Sommerhäuser3, und seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2008 wurde abgelehnt, offiziell aus formalen Gründen.

Im Fokus der Öffentlichkeit

Seit 2006 war er – zeitweilig zusammen mit den liberalen Oppositionspolitikern Boris Nemzow und Wladimir Ryschkow – im Vorstand der Republikanischen Partei Russlands. 2012 fusionierte diese mit der Partei der Volksfreiheit zur RPR-PARNAS, der Kassjanow bis heute vorsteht. Er unterhält gute Kontakte in den Westen und unterstützt die Sanktionen der EU gegen Russland im Kontext des Ukraine-Konflikts.4 Nach dem Mord an Boris Nemzow übergab er dem US-Kongress eine Liste mit acht russischen Journalisten, die ihm zufolge an der „Jagd“ auf Nemzow beteiligt gewesen seien und auf die Magnitski-Liste gesetzt werden sollten.

Foto © Claude Truong-Ngoc unter CC-BY-SA 3.0Im Frühjahr 2016 geriet Kassjanow erneut in den Fokus der Öffentlichkeit: Ramsan Kadyrow, der bekannt ist für seine verbalen Attacken gegen Menschenrechtler und liberale Politiker, veröffentlichte ein Video, das Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zeigt. Kurz darauf bewarfen Unbekannte in einem Moskauer Restaurant Kassjanow mit einer Torte. Schließlich wurde im April ein heimlich mitgeschnittenes Video lanciert, das Kassjanow mit seiner Parteikollegin Natalja Pelewina bei sexuellen Handlungen zeigt. Pelewina erklärte daraufhin ihren Austritt aus dem Führungsgremium der Partei. Es ist nicht auszuschließen, dass der „Skandal“ im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im September 2016 stand: Kompromittierende Informationen über Kandidaten zu verbreiten ist ein beliebtes Mittel der sogenannten Polittechnologie.

Zusammenfassend kann Kassjanow ein hohes symbolisches Potential zugeschrieben werden. Während er in Russland – außerhalb des kleinen liberalen Spektrums – als korrupter Vertreter einer vom Westen unterstützten ehemaligen Machtelite gilt, ist er als Putinkritiker mit fließendem Englisch ein gern gesehener Gast in anglophonen Diskussionsrunden, wo er den liberalen und modernisierungswilligen, jedoch zurzeit marginalisierten Teil Russlands repräsentiert.5


1.The Moscow Times: 12 Years Ago Boris Nemtsov and Mikhail Kasyanov Were Political Opponents
2.Der Vorsitzende der Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, soll einmal zu Kassjanows Aufgabenbereich der Korruptionsbekämpfung den sarkastischen Kommentar abgegeben haben, dann könne man auch einem Vampir die Verantwortung über eine Blutbank übertragen. Siehe: BBC: Profile: Mikhail Kasyanov
3.Siegl, Elfi (2006): Do Russian Liberals stand a Chance? In: Russian Analytical Digest No 1
4.Ein deutschsprachiges Interview zu einigen seiner aktuellen Positionen unter Die Zeit: „Ihr habt Putin angestachelt“
5.Sein charismatisches Auftreten und seine berühmte tiefe Stimme zeigt dieser kurze Interviewausschnitt: BBC: Kasyanov predicts Russian economic crisis
Пожертвовать
читайте также
Gnose

Boris Nemzow

Er war einer der bekanntesten Politiker Russlands und galt als scharfer Kritiker Wladimir Putins. In zahlreichen Publikationen machte er auf Misswirtschaft und Korruption in Russland aufmerksam, was ihm viele einflussreiche Gegner einbrachte. Eduard Klein über den Oppositionspolitiker, der am 27. Februar vor acht Jahren ermordet wurde.

Gnose

Alexej Nawalny

Alexej Nawalny ist in Haft gestorben. Er wurde in mehreren politisch-motivierten Prozessen zu langjähriger Strafe verurteilt. Aus der Strafkolonie hat er mehrmals über unmenschliche Haftbedingungen berichtet.  

Gnose

Rentensystem

Am Eröffnungstag der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 legte die Regierung einen Entwurf zur Rentenreform vor. Tausende Menschen protestierten seitdem gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Eduard Klein über das russische Rentensystem, das für viele Experten ein Flickwerk darstellt.
 

Gnose

Stabilisierung

Die Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse war in den 2000er Jahren das erklärte Hauptziel der russischen Politik. Tatsächlich verbesserte sich die wirtschaftliche Lage des Landes in den ersten zwei Amtszeiten Putins erheblich. Die Stabilisierung als politisches Projekt ging jedoch mit einer Konzentration der Macht in den Händen des Präsidenten einher.

Gnose

Leonid Breshnew

Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

показать еще
Motherland, © Таццяна Ткачова (All rights reserved)