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„Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“

„In Belarus, meinem Heimatland“, sagt Alexandra Soldatova, „lieben es die Menschen, wenn alles ordentlich, sauber und schön aussieht.“ Die Fotografin und Künstlerin beschloss, sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieser Tatsache zu machen. Sie begann, durch die belarussische Provinz zu reisen. Zwei Jahre hat diese Reise schließlich gedauert. Dabei stieß sie auf Bushaltestellen und Findlinge, die offenbar von lokalen Bewohnern mit Blumen, Tieren oder mit Frühlingsszenen bemalt worden waren. So entstand das Fotoprojekt It must be beautiful

Wir haben Alexandra Soldatova zu diesem Projekt befragt. Zudem zeigen wir eine Auswahl an Bildern.

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Fotos © Alexandra Soldatovadekoder: Worum geht es in dem Projekt It must be beautiful?

Alexandra Soldatova: Die Straßen in der Peripherie des Landes sind typische Un-Orte, einerseits interessieren sie niemanden, andererseits gehören sie formal jemandem, der dort für Ordnung, Instandhaltung, Pflege sorgen muss. Kurz gesagt, in diesem Projekt geht es darum, wie die allgemeinen Gewohnheiten und die Mentalität der Belarussen Ausdruck finden in kollektiver naiver Kunst. Diese Kunst entsteht an Orten, die für mich eine Metapher für Belarus als Land auf der Karte des modernen Europa darstellen,  – eine Kreuzung, ein Begegnungsort für Fremde aus verschiedenen Kulturen und Traditionen.

Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?

2012 fuhr ich in die Oblast Witebsk und fotografierte beim staatlichen Erntefestival Doshinki. Diese große Feier ist sehr beliebt bei den offiziellen  Landesvertretern. Zunächst wusste ich nicht so recht, was ich dort konkret tun und fotografieren würde. Und wie zu erwarten, war es eine sehr seltsame Kombination aus Mähdrescherfahrern in strengen, schwarzen Anzügen, einer aus Würsten gelegten Karte des Landes, tanzenden Kindern und einer großen Zahl Menschen, die Essen und Getränke zu ergattern versuchten. Solche Feste findet man tatsächlich in vielen Ländern, mit gewisser Variation im nationalen Kolorit.

Wirklich fasziniert haben mich damals die frischgestrichenen, rosafarbenen Hausfassaden an der Hauptstraße. Auch die Straße, die in die Kleinstadt führte, war „frisch zurechtgemacht“, die Haltestellen waren geputzt, die Abfalleimer sorgfältig gestrichen, und an einigen Stellen waren Skulpturen aus Stroh aufgestellt worden. Damals begann ich, Haltstellen zu fotografieren, und wenn mich Leute fragten, warum ich sie fotografiere, antwortete ich: „Weil es schön ist.“

Findet man diese bemalten Bushaltestellen im ganzen Land?

Wie ich später herausfand, stammten einige Malereien noch aus den 1980er Jahren, sie blieben an den alten Haltestellen erhalten – die waren aus Beton. Im Umland von Minsk und anderen großen Städten sind diese Haltestellen schon vor langer Zeit gegen moderne Varianten aus Metall oder Kunststoff ausgetauscht worden. Die Blumen- und Tiermotive, die mich interessieren, findet man eher in der Peripherie von Belarus, sodass ich einige Zeit im Auto verbringen musste – aber das hat mir Spaß gemacht.

Zuerst fuhr ich ein paar Landstraßen ab, die zu den Orten führen, an denen schon einmal Doshinki stattgefunden haben. Später gab es einige Zufallsfunde während touristischer Ausflüge mit der Familie. Und bis heute bekomme ich noch Tipps von Freunden, wo etwas zu finden ist.

Was erzählen uns diese Objekte vom Leben in der belarussischen Provinz und den ästhetischen Vorlieben, die Umgebung zu schmücken?

Einerseits neigen die Belarussen dazu, auch die kleinste Sehenswürdigkeit herauszustellen, da unser Land auf dem Gebiet an einer historischen Wegkreuzung liegt und viele Male zerstört worden ist. Heute müssen wir tatsächlich um alles kämpfen, was Aufmerksamkeit weckt.

Andererseits gibt es in der Provinz nicht gerade viele Museen, Kulturveranstaltungen und Ausdrucksmöglichkeiten, den Menschen ist es aber wichtig, wie andere sie sehen. Wenn Sie in ein belarussisches Dorf kommen, wird man mit aller Kraft versuchen, Ihnen „irgendetwas Schönes“ zu zeigen. So entstehen rosafarbene Gartenzäune, Palmen aus Bierflaschen und Schwäne aus Reifen. 

Die Malereien an den Haltestellen und auf Findlingen sind vermutlich auf ähnliche Weise entstanden. Jemand in der Institution, die für die Straße zuständig war, wollte wohl, dass es in seinem Abschnitt schön aussieht. Dann setzte es der angestellte Dorfkünstler oder ein Mitarbeiter, der malen konnte, so um, wie er es selbst für schön hielt. Und das geschah häufig, in ganz verschiedenen Gebieten des Landes. Die in gewisser Art naiven Malereien haben keinen gemeinsamen Autor oder eine Gruppe, die das konzipiert hat, und doch ähneln sie sich im Stil. In gewisser Weise sind diese Malereien ein Produkt des Kulturraumes. Und aus diesem Grund fotografiere ich sie.

Haben Sie jemals einen der Menschen getroffen, die eine Haltestelle bemalt haben?

Ich hatte keine Gelegenheit, die Künstler oder wenigstens die Restauratoren der Bilder zu treffen. Die wenigen lokalen Bewohner, die ich beim Warten auf den Bus antreffe, gehen in der Regel zur Seite, nicken verständnisvoll und sagen: „Richtig, fotografieren Sie nur, hier ist es schön“. Das ist sehr ungewöhnlich für Belarus, denn wenn ich eine Straße oder ein Feld fotografiere, höre ich meistens die Frage: „Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“ Aber hier haben sich die Leute vorwiegend gefreut, dass ich gerade diesen Ort ausgewählt hatte. 

Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?

Aus fotografischer Sicht war It must be beautiful ein unkompliziertes Projekt. Die Aufnahmen sind maximal ruhig, klassische Landschaft mit einem Objekt darin. Ich verwende ein mittleres Format, eine große Kamera, mit der man nicht schnell fotografieren kann und die dazu einlädt, das Bild aufmerksam zu betrachten. In den meisten Fällen fügen sich die Malereien an den Haltestellen oder Findlingen scheinbar fließend in die umgebende Landschaft ein, werden ein Teil von ihr, heben sich aber gleichzeitig auch von ihr ab. Natürlich suche ich solche Wechselbeziehungen, doch wichtiger für mich ist das Phänomen festzuhalten, da in der heutigen Zeit solche Dinge sehr schnell und unbemerkt verschwinden können.

Wie reagieren Ausstellungsbesucher auf Ihr Projekt?

Dieses Projekt wurde in vielen Ländern gezeigt, aber ich hatte keine einzige Offline-Ausstellung in Belarus, daher kann ich nicht sicher sagen, wie die normalen Leute reagieren würden. Ich kann nur vermuten, dass sich das wohl nicht so sehr von der Reaktion der Leute in Deutschland, England oder Russland unterscheiden würde, wo wir das Projekt gezeigt haben. Der eine findet es ungewöhnlich, irgendetwas überraschend treffend, jemand hält die Verschönerung der Landschaft für überflüssig, und ich freue mich jedes Mal, wenn jemand über meine Fotografien sagt: „Das ist schön“.

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Heldenstadt Minsk

Nach wie vor beeindrucken die Bilder, die vom Sommer 2020 erzählen, als in Minsk Zehntausende auf die Straßen gegangen sind. Die weiß-rot-weißen Proteste spielten sich an einem Ort ab, der nach 1945 mit seinen überdimensionierten Plätzen und ausladenden Alleen als Musterstadt des Sozialismus inszeniert worden ist. In demographischer Hinsicht hatte Minsk als Millionenstadt den von den sowjetischen Planern vorgesehenen Rahmen allerdings bereits in den 1970er Jahren gesprengt. 
Lange lag Minsk im Schatten seiner Vergangenheit als sowjetische Heldenstadt. Dabei hat die Stadt im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte bereits ungeahnte Metamorphosen von der altrussischen Burgsiedlung und litauischen Marktgemeinde über die zarische Gouvernementsstadt und das jüdische Schtetl vollzogen. Obgleich unter dem Lukaschenko-Regime Anklänge an die Sowjetzeit und der Kult um den Zweiten Weltkrieg heute wieder starke Relevanz erfahren, hat sich mittlerweile eine belarusische Metropole entwickelt, die zwischen sozialistischen Traditionen, europäischen Kulturmustern und den Insignien des herrschenden Autoritarismus changiert. 

Der Obelisk, der für den sowjetischen Titel „Heldenstadt“ 1985 errichtet wurde. Er steht für den Kampf im Zweiten Weltkrieg. Im Sommer 2020 gab es auch dort Massenproteste gegen Machthaber Lukaschenko / Foto © Homoatrox, Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Die erste Erwähnung der Stadt „Menesk“ findet sich im Jahr 1067 ganz beiläufig am Rande der Schilderung einer Schlacht zwischen den Fürsten der Kiewer Rus. Die Rede war von einem Handelsumschlagplatz, der an das Flusssystem zwischen Ostsee und Schwarzem Meer angeschlossen war. 
Wechselnde Herrschaftssysteme prägten fortan die Gestalt der Stadt und die Struktur der Bevölkerung. Im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts geriet sie in den Einflussbereich des Großfürstentums Litauen. Über den Katholizismus, dessen Spuren sich im Stadtbild noch heute an den Kirchengebäuden widerspiegeln, und über die Verleihung des Magdeburger Rechts im Jahre 1499 wurden der Stadt Traditionen der damaligen lateinischen Welt zuteil, und es konstituierte sich seither eine Marktgemeinde. In der ostslawischen Kanzleisprache des Großfürstentums lautete ihr Name noch „Mensk“1.  

Russifizierung und sowjetisches Jerusalem

Erst nach den Teilungen Polen-Litauens wurde die Stadt 1793 unter ihrer russischen Bezeichnung „Minsk“ ins Zarenreich eingegliedert. Sie geriet ins Zentrum des Ansiedlungsrayons für die jüdische Bevölkerung, die im Russländischen Imperium keine Freizügigkeit genoss. Damit bekam Minsk den Charakter eines jüdischen Schtetls. 
Hatte der Handel vor dem Ersten Weltkrieg lediglich regionale Bedeutung, führte die sowjetische Industrialisierung dazu, dass Minsk für die ländliche Bevölkerung immer anziehender wurde: Waren bei der Volkszählung von 1897 noch 90.900 Einwohner registriert, zeigte die Statistik 1939 rund 230.000 Einwohner. Weil die Belarusen überwiegend als Bauern in den Dörfern lebten, stellte die Titularnation am Ende des 19. Jahrhunderts gerade einmal acht Prozent der Minsker Bevölkerung. Juden machten zu dieser Zeit noch über die Hälfte der Einwohnerschaft aus. Jüdische Unterschichten wanderten nach der Oktoberrevolution in die russischen Industriestädte ab, die belarusischen Bauern aber zogen nach Minsk, um sich der Zwangskollektivierung ihrer Höfe zu entziehen. 

Von Relevanz für die belarusische Hauptstadt erwies sich die sowjetische Kulturpolitik der Indigenisierung (korenisazija), die die Einbindung der nationalen Minderheiten in das Projekt der Bolschewiki durch die Gewährung von Freiräumen im Bildungssektor zum Ziel hatte. Daher profitierten die säkularisierten Minsker Eliten in den 1920er Jahren noch von einem mehrsprachigen kulturellen Milieu aus Belarusisch, Jiddisch, Polnisch und Russisch. Der in den 1930er Jahren propagierte Sowjetpatriotismus stand dann aber wieder im Zeichen der Russifizierung. 
Das Stadtwachstum führte in Minsk dazu, dass die Bevölkerungsmehrheit bis zum Zweiten Weltkrieg von den Belarusen übernommen wurde. Das jüdische Leben erlosch erst durch den Holocaust, nachdem die Nationalsozialisten die Stadt ab 1941 besetzten. Letzte Spuren verwischte der Antisemitismus im späten Stalinismus mit der Schließung der Synagoge und des jüdischen Theaters. 

Der Plan für die sozialistische Musterstadt 

Mit Stalins Programm der forcierten Industrialisierung begann für Minsk in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine Phase der radikalen Stadtsanierung. In bewusster Abkehr von der historisch gewachsenen kapitalistischen Stadt, deren Urbanität sich auf die Verdichtung von Gebäuden, Straßen und Plätzen gründete, hieß die Devise nunmehr aufgelockerte Bebauung und Verbesserung der Infrastruktur. Die Hauptstadt der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) sollte die Rolle eines Verwaltungs-, Industrie- und Kulturzentrums übernehmen und zudem einen sozialistischen Vorposten gegenüber dem kapitalistischen Westen bilden. 
Dass die Minsker Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg zu mehr als 70 Prozent zerstört worden war, bot den aus Moskau und Leningrad angereisten Planern die Chance, eine sozialistische Musterstadt zu errichten. Ein Wiederaufbau im eigentlichen Sinne wurde nicht angestrebt. Der Generalbebauungsplan von 1946 sah neben monumentalen Gebäuden im Zentrum ein System von radial-ringförmigen Hauptstraßen vor. Die Architektur sollte sowohl das Erbe der klassischen Antike als auch die volkstümliche belarusische Kunst widerspiegeln. In der Folge traten im Meinungsstreit der Architekten zwei Richtungen auf: Die eine setzte auf die Einfachheit der Formen und blieb dem Konstruktivismus der 1920er Jahre verpflichtet. Die andere orientierte sich an der dekorativen Pracht der Zarenzeit und gab dem Neoklassizismus Vorrang. Letztere gewann die Oberhand, weil ihre Auffassung dem Sozialistischen Realismus der Stalinzeit entsprach. 

Der typisierte Plattenbau ergänzte am Stadtrand die neoklassizistischen Wohnpaläste des Minsker Zentrums / Foto © Andrey Bondar/Flickr unter CC BY SA 2.0

Zwischen alter Bauernmetropole, Wohnpalästen und Plattenbauten 

Allerdings leitete Chruschtschow bereits auf dem Baukongress von 1954 eine Wende ein. Seine Kampagne gegen den dekorativen Luxus der Stalin-Ära setzte auf Typenprojekte. Seitdem stand nicht mehr das gesamtstädtische Ensemble im Vordergrund, sondern der Mikrorayon – der fünfstöckige Mietshäuser mit Versorgungseinrichtungen zu einer Nachbarschaft kombinierte. Auf diese Weise ergänzte der typisierte Plattenbau am Stadtrand  die neoklassizistischen Wohnpaläste des Minsker Zentrums. Zugleich lebte ein Großteil der Bevölkerung bis in die sechziger Jahre noch in den hölzernen Gehöften der innerstädtischen Areale, die der Hauptstadt noch lange den Charakter einer Bauernmetropole verliehen.

Das Scheitern des schönen Plans von der sozialistischen Stadt symbolisiert in Minsk kein anderer Ort so sehr wie der Zentrale Platz: Nicht einer der in zahlreichen Architekturwettbewerben vorgelegten Entwürfe ist je realisiert worden. Die Gründe dafür sind im Bereich der Interessengegensätze von Planungsbürokratie und Stadtökonomie zu suchen. Einerseits bestand zwischen dem belarusischen Architektenverband und der staatlichen Architekturverwaltung ein latentes Spannungsverhältnis. Andererseits zeigte sich, dass Infrastrukturprobleme wie etwa die Wasserversorgung viel drängender waren und gelöst werden mussten. 
Heute wird der Zentrale Platz, der seit der Öffnung einer U-Bahn-Station im Jahre 1984 in Oktoberplatz umbenannt wurde, von einem postmodernen Kulturpalast ausgefüllt – der noch zu Sowjetzeiten geplant, aber erst in den 1990er Jahren unter Präsident Alexander Lukaschenko fertig gebaut worden war. Er ließ mit dem Palast der Unabhängigkeit gleich noch ein weiteres pompöses Gebäude in Minsk errichten, einen orientalisch anmutenden Bau an der Siegerallee, in dem er seit 2013 seinen Amtssitz hat. 

Palast der Republik am Oktoberplatz in Minsk, Belarus / Foto © Julian Nyča/Wikimedia unter CC BY SA 4.0

Das „Minsker Phänomen“ 

In der BSSR hatte die Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg einen Verstädterungsprozess ausgelöst, der in der Hauptstadt zu einem explosiven Bevölkerungswachstum führte und den Begriff „Minsker Phänomen“ prägte. Für Zuzug sorgten besonders das Lastkraftwagenwerk (MAZ) und das Traktorenwerk (MTZ), die zu den sowjetischen Industriegiganten gehörten. Obgleich die Produktionspalette der Werke bereits 1956 begrenzt wurde, stieg die Einwohnerzahl zwischen den Volkszählungen von 1959 und 1989 immer noch um das Dreifache, von 509.500 auf 1.612.900. Die in den sechziger Jahren erzielte jährliche Wachstumsrate von 5,5 Prozent ist von keiner anderen sowjetischen Großstadt je erreicht worden. Trotz der Einführung eines rigiden Meldesystems, demzufolge eine Aufenthaltsberechtigung in der Stadt nur beim Nachweis von neun Quadratmetern Wohnfläche pro Person erteilt wurde, konnte der massenhafte, teils illegale, teils über einen Arbeitgeber oder eine Hochschule legitimierte Zuzug vom Land in die Stadt nicht verhindert werden. Weder der Wohnungsbau noch die Versorgung mit Geschäften und Dienstleistungsbetrieben kamen den gestiegenen Bedürfnissen nach. Dennoch waren die den Angeboten der sowjetischen Moderne folgenden Übersiedler bereit, ihre lokale Identität preiszugeben und sich an das russischsprachige Milieu der Hauptstadt zu akkulturieren. So gab es seit den siebziger Jahren in Minsk keine Schulen mit belarusischer Unterrichtssprache mehr. 

Sowjetische Heldenstadt und Breshnews Widerwillen

Als sich in der Breshnew-Ära abzeichnete, dass die Utopie der sozialistischen Stadt an der Lebensrealität zerbrach, wurde der Versuch unternommen, einen neuen Mythos für Minsk zu kreieren. Seit Mitte der sechziger Jahre vertrat die belarusische Parteiführung dem Moskauer Kreml gegenüber den selbstbewussten Anspruch, eine „Partisanenrepublik“ zu repräsentieren. In diesem Sinne wurde Minsk trotz der erlittenen nationalsozialistischen Besatzung als zehnte Stadt der Sowjetunion der Ehrentitel „Heldenstadt“ zugesprochen. Allerdings nahm Breshnew bestehende Unstimmigkeiten mit der belarusischen Führung zum Anlass, der Stadt die ihr gebührende Anerkennung erst 1978 offiziell zuteilwerden zu lassen: mit der Verleihung des Leninordens und der Goldener-Stern-Medaille. Neben der Stelle, an der 1985 der Obelisk der Heldenstadt errichtet wurde, ließ das Lukaschenko-Regime im Jahr 2014 das neue Museum für die Geschichte des Vaterländischen Krieges bauen. Insgesamt gesehen ist die Erinnerungskultur im Stadtbild immer noch sowjetisch geprägt. Bis heute blieben die Denkmäler des Staatsgründers Lenin und des Tscheka-Chefs Dsershinski vor den Gebäuden von Regierung und Staatssicherheit unangetastet. Auch von Urbanität war Ende des 20. Jahrhunderts noch wenig zu spüren. In der Dekade, die in Russland als „wilde Neunziger“ beschrieben wird, blieb Minsk als Millionenstadt noch post-sowjetische Provinz.



Ein Fünftel aller Belarusen lebt in Minsk

Von einer Transformation des Stadtbildes kann aber seit der Jahrtausendwende gesprochen werden. Im Sinne einer postsowjetischen Nationalstaatsbildung wurde eine Altstadt rekonstruiert, allen voran das zur Zarenzeit abgerissene Rathaus, das noch auf das Großfürstentum Litauen zurückging. Auch wurde der repräsentative Schwerpunkt der beiden zentralen Verkehrsachsen von der stalinistischen Magistrale im Zentrum zum postmodernen Boulevard am Swislatsch verlagert. Am äußeren Stadtring schießen in den Wohngebieten prächtige russisch-orthodoxe Kirchen aus dem Boden. Als Ausdruck einer verhaltenen Europäisierung sind in der Innenstadt Cafés und Bistros und in den Grünzonen Fahrradwege entstanden. Die zunehmende Automobilisierung und die zahlreichen Shopping-Malls am Stadtrand lassen sich als Sinnbilder einer Amerikanisierung deuten. 
Auf den ersten Blick wirkt Minsk noch wie ein Museum der Sowjetunion: In städtebaulicher und architektonischer Hinsicht beeindrucken die Dimensionen der öffentlichen Räume und die Durchschlagskraft des Sozialistischen Realismus bis heute. Kaum ein Stadtzentrum weist so breite Straßen, so große Plätze und so viele neoklassizistisch-stalinzeitliche Gebäude auf wie dasjenige von Minsk. Doch auf den zweiten Blick kristallisiert sich entlang des Swislatsch eine neue Stadtsilhouette heraus, die von einer postmodernen Architektur und von Insignien eines Heldenkults konturiert wird, welcher sich in Denkmälern und Inschriften widerspiegelt. 

Ansicht von Minsk um 1870 / Foto © gemeinfreiIn den letzten 30 Jahren hat sich auch die Einwohnerschaft der belarusischen Hauptstadt gewandelt: Ende 2019 wurde die Zahl von zwei Millionen überschritten, sodass Minsk in der Reihe der europäischen Großstädte nach Rom und vor Wien den zehnten Rang einnimmt. Sage und schreibe ein Fünftel aller belarusischen Staatsbürger lebt in der Hauptstadt. Die neue Generation entstammt einer postindustriellen Gesellschaft, die als urban bezeichnet werden darf, zumal die Republik Belarus den Verstädterungsgrad von 70 Prozent bereits im Jahr 2001 überschritt. Dabei unterliegt die Nutzung der gebauten Umwelt nicht nur der Erfindung nationaler Traditionen, sondern auch der Kreativität der Menschen. In der brutal niedergeschlagenen Protestbewegung von 2020 hatte Letzteres durch die Bevölkerung von Plätzen und Höfen einen beredten Ausdruck gefunden.


ANMERKUNG DER REDAKTION:

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


1.Es handelte sich um eine Schreibweise, die bei der Kodifizierung der belarusischen Sprache am Anfang des 20. Jahrhunderts wieder populär werden sollte. Die auf die Emanzipation des Bürgertums zielenden Elemente wurden mit der Eingliederung von „Minsk“ in das Russländische Reich 1793 aber wieder unterdrückt. 
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Motherland, © Таццяна Ткачова (All rights reserved)