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Presseschau № 36: #янебоюсьсказать

„Im postsowjetischen Raum wird nicht der Täter beschuldigt, sondern man sucht gleich nach Vorwänden, um das Opfer zu beschuldigen: Was hat die Frau falsch gemacht?“ Mit diesen deutlichen Worten und unter dem Hashtag #янебоюсьсказать (Ja ne bojus skasat – dt: Ich habe keine Angst, es zu sagen) hat die ukrainische Aktivistin Anastasia Melnitschenko im Juli eine Hashtag-Aktion gegen die Tabuisierung sexueller Gewalt gestartet.

Sie wollte Opfern eine Stimme geben und einen Raum, ihre Geschichte zu erzählen. Mit der Resonanz hat Melnitschenko wohl selbst nicht gerechnet: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Hashtag in den vergangenen Tagen durch die Soziale Medien, unter anderem auch in Russland und Belarus.

In Russland reagieren Öffentlichkeit und Presse ganz unterschiedliche darauf: Zwar finden sich zahlreiche Befürworter der Aktion, viele stoßen sich an patriarchalischen Strukturen in Gesellschaft und Politik. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Diskutiert wird dabei häufig die Frage, ob EU-Europa im Umgang mit sexueller Gewalt als Vorbild taugt. Ein Debatten-Querschnitt:

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Izvestia: Und was ist mit der Silvesternacht in Köln?

In der kremlnahen Izvestia kritisiert die Politologin Natalja Narotschnizkaja die Aktion. Die Präsidentin des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit, das nach eigenen Angaben Menschenrechtsverletzungen in Europa und den USA nachgeht, stört sich daran, dass die Initiative, die in der Ukraine gestartet wurde, Kritik an Russland, aber nicht an EU-Europa übt:

Deutsch
Original
Die Autoren dieses, mit Verlaub, Projektes appellieren daran, dass die öffentliche Meinung im postsowjetischen Raum teilweise der Frau selbst den Vorwurf mache, die Gewalt gegen sie provoziert zu haben: Sie habe sich nicht angemessen gekleidet, sich aufreizend verhalten und so weiter. Entsprechend ist ein Ziel dieser Hashtag-Aktion, diesen Trend umzukehren und sich in dieser Hinsicht dem, wie es so schön heißt, europäischen Werteverständnis anzunähern.

Aber ich erinnere mich da an eine himmelschreiende Geschichte, die große Aufmerksamkeit fand: die Silvesternacht im deutschen Köln. Da trieben die gerade in Deutschland angekommenen Migranten ihr Unwesen, beleidigten und missbrauchten die Einwohnerinnen der Stadt. Das Interessanteste ist, dass die Bürgermeisterin der Stadt Henriette Reker den Mädchen empfahl, auf ihr Verhalten zu achten.

Natürlich verärgerte diese unpassende Reaktion einer Amtsträgerin einen Teil der deutschen Bevölkerung. Aber ich kann mich irgendwie nicht daran erinnern, dass irgendeine ukrainische Journalistin deswegen eine Hashtag-Aktion gestartet hätte. Bei den weltweit wichtigsten Fragen der Menschen und der Menschheit gibt es in Europa heute keine Redefreiheit!

Авторы этого, с позволения сказать, проекта апеллируют к тому, что на постсоветском пространстве общественное мнение зачастую обвиняет саму женщину в провоцировании совершенного против нее насилия — была-де не так одета, вела себя вызывающе и прочее. Соответственно, одна из целей данной флешмоб-акции — переломить этот тренд и приближаться, мол, в этом смысле к европейскому пониманию ценности, неприкосновенности личности. Но мне вспоминается вопиющая и ставшая достоянием широкой общественности история, которая произошла в новогоднюю ночь в немецком Кельне. Прибывшие в Германию мигранты бесчинствовали, оскорбляя и насилуя жительниц города. Самое интересное, что мэр города Генриетта Рекер рекомендовала девушкам пересмотреть свое поведение.

Естественно, часть граждан Германии возмутилась такой неадекватной реакцией чиновницы. Но я что-то не припомню, чтобы какая-нибудь украинская журналистка объявляла по этому поводу флешмоб. По главным вселенским вопросам человека и человечества свободы слова в Европе сейчас нет!

Forbes: Russische Alphamännchen

Der renommierte Historiker und Journalist Sergej Medwedew nimmt im Wirtschaftsmagazin Forbes die Aktion zum Anlass, um das Verhältnis zwischen Gender und Politik in Russland genauer zu beleuchten:

Deutsch
Original
Die russische Staatsmacht ist im höchsten Maß archaisch und physisch: Sie gründet [...] nicht auf rationalen Mechanismen, nicht auf gesichtslosen Maschinen der Weberschen Bürokratie, sondern auf direktem physischem Kontakt, auf Ausübung der Macht durch menschliche Körper. Zum Beweis des Anrechts auf Macht braucht es in Russland Akte übermäßiger Gewalt – wie das Schau-Massaker in Kuschtschowskaja, die Folterungen in der Abteilung für Innere Angelegenheiten Dalny, den Mord an Nemzow, das Abfackeln der Häuser von mutmaßlichen Terroristen in Tschetschenien, die demonstrative Vernichtung sanktionierter Lebensmittel

Nicht zufällig steht an der Spitze des Staates ein Alphamännchen, eine Verkörperung männlicher Macht, der den Macht- und Kraftkult legitimiert hat, angefangen mit körperdominierten Halbnackt-Fotosessions bis hin zur Anwendung von Gewalt im Verhältnis zu Opposition und Nachbarländern. Deren Lexik und Argumentation („Die Schwachen werden geschlagen“, „Man muss als Erster zuschlagen“) entstammt direkt den Machtdemonstrationen aus kriminellen Ritualen.
In diesem Sinn steckt hinter den patriarchalen Geschlechtermodellen, die die Hashtag-Aktion bloßlegt, die gesamte archaische Matrix der russischen Macht, die in der Hand von „Kerlen“ liegt.

Дело в том, что российская власть предельно архаична и физиологична: она основана [...] не на механизмах рационального устройства, не на безличных машинах веберовской бюрократии, а на прямом физиологическом контакте, на силовом управлении человеческими телами. Для доказательства права на власть в России важны акты избыточного насилия – такие как показательное убийство в Кущевке, пытки в ОВД «Дальний», убийство Немцова, сожжение домов предполагаемых террористов в Чечне, демонстративное уничтожение санкционных продуктов... Неслучайно во главе государства стоит «альфа-самец», олицетворение мужской власти, который легитимизировал культ силы, начиная с физиологичных полуобнаженных фотосессий и заканчивая применением силы в отношении оппозиции и соседних стран, чья лексика и аргументы («слабых бьют», «бить первым») напрямую происходят из блатных ритуалов демонстрации силы. В этом смысле за патриархальными гендерными моделями, которые так явно обнажил флешмоб, стоит вся архаическая матрица российской власти, осуществляемой «мужиками».

Slon: Die Untertanen

Patriarchale Vorstellungen in der Gesellschaft kritisiert auch Kirill Martynow, Dozent an der Moskauer Higher School of Economics, in seinem Beitrag auf dem unabhängigen Portal Slon.ru – und findet es bezeichnend, dass die Aktion in der Ukraine und nicht in Russland startete:

Deutsch
Original
Die Aktion #янебоюсьсказать hat die Mechanismen freigelegt, auf denen die russische Gewalt-Kultur basiert. Es geht nicht nur um Gender- oder sexuelle Gewalt, man muss die Frage weiter fassen, denn „das Persönliche ist politisch“. Nicht zufällig kam die Aktion aus der postrevolutionären Ukraine, in der das Niveau politischer Freiheit deutlich höher ist. Der moderne Feminismus behauptet, dass das Patriarchat, also die institutionalisierten Praktiken maskuliner Herrschaft, die fundamentale Quelle aller weiteren Formen der Unterdrückung ist – sei es der politische Autoritarismus oder die ökonomische Ungleichheit.

Die Diskussion darüber, ob diese These theoretisch gerechtfertigt ist, soll hier ausgeklammert bleiben. Aber intuitiv scheint offensichtlich: Während russische Männer patriarchalischen Vorstellungen über das „weibliche Wesen“ anhängen, fügen sie sich gleichzeitig  ziemlich harmonisch in die Rolle als Untertanen eines maskulinen Diktators.

Акция #янебоюсьсказать вскрыла механизмы, на которых основана российская культура насилия. Речь не только о гендерном и сексуальном насилии, вопрос следует ставить шире, ведь «личное есть политическое». Акция неслучайно пришла из постреволюционной Украины, в которой уровень политической свободы заметно выше. Современный феминизм утверждает, что патриархат, то есть институционализированные практики мужского господства, являются фундаментальным источником всех иных форм угнетения, будь то политический авторитаризм или экономическое неравенство.

Обсуждение теоретической справедливости этого тезиса можно вынести за скобки. Но интуитивно кажется очевидным: пока российские мужчины разделяют патриархальные представления о «женской сущности», они вполне гармонично выглядят в качестве подданных маскулинного диктатора.

Novaya Gazeta: Gewalt und Krieg

Jan Schenkman dagegen weist in der unabhängigen Novaya Gazeta vor allem auf Ähnlichkeiten zwischen der russischen und ukrainischen Gesellschaft hin:

Deutsch
Original
Es ist bemerkenswert, dass #яНеБоюсьСказать (Ja ne bojus skasat) zum russisch-ukrainischen Flashmob wurde. Auf Ukrainisch ist nur ein Buchstabe in dem Hashtag anders: Ja ne bojus skasaty. Ansonsten keinerlei Unterschied. Das Zeugnis einer Ukrainerin kann man nicht unterscheiden vom Zeugnis einer Russin. In der Gegend um die Twerskaja Straße [im Zentrum Moskaus] passiert ungefähr das gleiche wie um den Chreschtschatyk [im Zentrum Kiews]. Sowohl in der quasi freien Ukraine als auch im quasi totalitären Russland gibt es einen Haufen Leute, die dazu fähig sind, ein 14-jähriges Mädchen in einen Keller zu schleifen, einer Frau mit der Faust ins Gesicht zu schlagen oder einfach so zu brüllen, dass du vor Angst anfängst zu zittern.

Beide Länder sind von Gewalt durchsetzt. Ich bin mir sicher, das liegt nicht am Krieg. Im Gegenteil: Deswegen kam es zu diesem Krieg.

Поразительно, что #яНеБоюсьСказать стало русско-украинским флешмобом. По-украински тэг отличается всего на одну букву: #яНеБоюсьСказати. А в остальном никакой разницы. Исповедь украинки вы никак не отличите от исповеди россиянки. В окрестностях Тверской происходит примерно то же, что в окрестностях Крещатика. И в как бы свободной Украине, и в как бы тоталитарной России полно людей, способных затащить 14-летнюю девочку в подвал, разбить женщине кулаком лицо или просто наорать так, что будешь дрожать от страха.

Обе страны буквально напичканы насилием. Я уверен, что это не из-за войны. Наоборот: война из-за этого. А политики подтянулись уже по ходу дела.

Nesawissimaja Gaseta: Nicht vor aller Augen!

In der Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta stößt sich die Psychologin Swetlana Gamsajewa an Hass-Kommentaren im Netz. Gleichzeitig zweifelt sie, ob eine solch laute und öffentliche Aktion überhaupt nötig ist:

Deutsch
Original
Und daraufhin geschah etwas für die russische Öffentlichkeit Typisches: Auf die Welle von Offenbarungen folgte eine Welle von Beschuldigungen und zynischer, teilweise niederträchtiger Kommentare. Es schien, als verwandelte sich eine völlig menschliche Aktion in einen neuen, unmenschlichen Krieg. Einen Genderkrieg – denn offenbart hatten sich vor allem Frauen und Beschuldigungen kamen vor allem von Männern. Das heißt, im Grunde kam es im Netz zu einer weiteren Serie von Vergewaltigungen, nur diesmal in den Kommentaren. Und psychische Gewalt ist bekanntlich nicht weniger effektiv als physische. [...]

Diese Geschichte hat gezeigt, wie schnell und laut wir sehr intime, schmerzhafte Themen aufgreifen. Und eben auch, wie achtlos wir mit uns selbst umgehen. Und wie gefährlich wir bei Konfrontationen aufeinanderprallen. Selbst wenn es um sehr sensible Themen geht. Und wie viel passive Aggression wir in uns tragen. Und folglich, wie viel Gewalt wir durchlebt haben.

Doch alle gleichzeitig von diesem Schmerz zu befreien, das wird nicht gehen. Das schafft kein Hashtag der Welt, oh je. Das kann nur jeder für sich alleine machen. Das muss auch gar nicht vor aller Augen geschehen.

А затем произошла привычная для российского публичного пространства вещь: навстречу волне откровений поднялась волна обвинений и циничных, а порой и грязных комментариев. Казалось бы, вполне человечная акция обернулась новой нечеловечной войной. Войной гендерной, потому что среди авторов откровений были женщины, а обвинений – мужчины. То есть, по сути, в Сети произошла новая серия изнасилований – только теперь в комментариях. А, как известно, психологическое насилие не уступает по эффективности физическому. [...]

эта история показала, как легко и громко мы подхватываем очень интимные, болезненные темы. И, значит, как небрежно к самим себе относимся. И как опасно мы сталкиваемся в противостоянии. Даже когда речь идет о деликатных вещах. И как много скрытой агрессии мы таим. А значит, соответственно сколько насилия пережили.

Вот только освободиться от этой боли всем скопом не получится. Ни под каким хештегом, увы. Это можно сделать только поодиночке. И совсем необязательно у всех на виду.

Spektr: Auf die Scheiße zeigen

Dagegen argumentiert Ljudmilla Petranowskaja in ihrem viel beachteten Beitrag auf dem Exilmedium Spektr, dass die Aktion die Gesellschaft endlich zwinge, über ein lange tabuisiertes Thema zu sprechen:

Deutsch
Original
Die Aktion heilt keine Traumata, aber sie zwingt alle dazu, über etwas nachzudenken, worüber man nicht nachdenken möchte. Sie zwingt einen, darüber zu sprechen, wenn auch nur andeutungsweise oder mit zusammengebissenen Zähnen, gegen die inneren Widerstände. Man kann den Augiasstall nicht reinigen, wenn man nicht mit dem Finger auf die Scheiße zeigt und diese auch als solche benennt. Gewalt als Alltäglichkeit, Gewalt als „Ordnung der Dinge“, Angst vor der Gewalt, Identifikation mit dem Gewalttäter, Beschuldigung des Opfers – das ist genau die Scheiße, in der unsere Gesellschaft bereits so tief drin steckt, dass sie sich nicht mehr bewegen kann.

Die Diskussion solcher Themen zwingt jeden zu wählen, was man dieser schmerzhaften und komplizierten Mischung hinzufügen möchte: noch mehr Missachtung und Beschuldigungen des Opfers oder ein wenig Mitgefühl und Respekt. Die Ergebnisse summieren sich zu der Gesellschaft, in der wir leben. Was wir wählen, das bekommen wir auch – so einfach ist das.

Флешмоб не вылечит ничьих травм, но он заставит всех подумать том, о чем думать не хочется. Заставит говорить об этом, пусть даже с экивоками или через губу, продираясь через защиты. Нельзя расчистить авгиевы конюшни, не указав пальцем на дерьмо и не назвав его вслух дерьмом. Насилие как обыденность, насилие как «порядок вещей», страх перед насилием, идентификация с насильником,  обвинение жертвы,– это и есть то дерьмо, которое налипло за нашу историю в таких количествах, что не дает обществу двигаться дальше. Обсуждение таких тем заставляет каждого выбрать, что добавлять в болезненный и сложный замес: еще презрения и обвинений жертв или немного сочувствия и уважения. Эти выборы суммируются и мы получаем общество, в котором живем. Что навыбираем, то и получим, только и всего.

Wetschernaja Moskwa: Plötzlich hilflos

In Wetschernaja Moskwa, einem Boulevardblatt, das die Moskauer Regierung herausgibt, wundert sich Korrespondentin Lera Bokaschewa über europäische Frauen:

Deutsch
Original
Und das ist auch wichtig: Man muss in der Lage sein, für sich selbst einzustehen. Ich meine, dass eine erwachsene Frau diese Kunst beherrschen sollte. Sie muss wissen, wie man sich wo kleidet, wie man sich präsentiert. Weil – und auch das zeigt uns die alte Oma Europa – Frauen, die ihre Männer seit Jahrzehnten moralisch kastriert und sie der „Belästigung” bezichtigt haben, wo überhaupt nichts Kriminelles passiert war, waren plötzlich absolut hilflos, als sie realer Belästigung ausgesetzt waren. Wenn Migranten in Deutschland und Frankreich jetzt höchst ungehobeltes Verhalten gegenüber den wunderhübschen Europäerinnen an den Tag legen, können letztere nur heulen oder in Ohnmacht fallen. Da helfen weder Hashtag-Aktionen noch die Polizei.
И это тоже важно: уметь постоять за себя. Считаю, что взрослая женщина этим искусством должна владеть. Знать, как и куда одеваться, как себя подавать. Потому что - и это тоже нам демонстрирует старушка-Европа - женщины, которые на протяжении десятилетий кастрировали морально своих мужчин, уличая их в "домогательствах" там, где в помине не было ничего криминального, оказались неожиданно абсолютно беззащитны перед домогательствами реальными. Когда в Германии и Франции сейчас мигранты демонстрируют в высшей степени хамское поведение по отношению к прекрасным европейкам, последние могут только рыдать и падать в обмороки. Не помогают ни флешмобы, ни полиция.

dekoder-Redaktion

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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