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Maria Sacharowa

Mit schrillen Auftritten und aggressiver Rhetorik hat die Sprecherin des russischen Außenministeriums einen neuen Stil in der russischen Diplomatie geprägt. 

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Tag der Einheit des Volkes

Der arbeitsfreie Feiertag wurde im Jahr 2005 eingeführt – als Ersatz für den Tag der Oktoberrevolution. Er wird am 4. November begangen und bezieht sich auf ein Ereignis aus dem Jahr 1612, als ein Volksaufstand die polnisch-litauischen Besatzer aus dem Moskauer Kreml vertrieb. Der Feiertag soll den Zusammenhalt der russischen Gesellschaft angesichts äußerer Bedrohungen symbolisieren – über ethnische und religiöse Grenzen hinweg.

Staatliche Feiertage sind in Russland seit jeher mindestens ebenso bedeutsam wie religiöse. Bis zum Ende der Sowjetunion war der 7. November – neben dem Neujahrsfest – der wichtigste Feiertag des Jahres: Als Tag der Oktoberrevolution sollte er den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte der Menschheit feiern. Das Ende des Staates 1991 bedeutete jedoch, dass auch die Symbolik verändert werden musste. Präsident Boris Jelzin schlug vor, schlichtweg den bestehenden Feiertag umzubenennen, und zwar in Tag des Einklangs und der Versöhnung. Dies fand jedoch weder in der Bevölkerung noch in der politischen Elite besondere Unterstützung.1 Zum Ende von Putins erster Amtszeit ersann man also einen gänzlich neuen Feiertag. Er sollte eine ähnlich staatstragende Symbolik haben wie der Revolutionstag, dabei aber vom sowjetischen Erbe unbelastet sein. Dieser Feiertag wurde auf den 4. November gelegt.

Der 4. November symbolisiert offiziell das Ende der Zeit der Wirren – einer Periode zwischen 1598 und 1613, in der Russland mit militärischen Niederlagen, Erbfolgekonflikten und Hungersnöten zu kämpfen hatte. Rivalisierende Adelszweige suchten Unterstützung von außen, und so belagerten fremde Heere mehrere russische Städte – darunter auch Moskau. Ein Volksaufstand vertrieb schließlich die polnisch-litauischen Besatzer des Moskauer Kreml,2 woraufhin 1613 ein neuer Zar gewählt werden konnte: Michail Fjodorowitsch, der erste Angehörige der Romanow-Dynastie. Die Legende besagt, dass die Anführer des Aufstandes – Minin und Posharski – beim Sturm auf Moskau die Ikone der Gottesmutter von Kasan mit sich führten. 1649 wurde daher am 22. Oktober, dem orthodoxen Gedenktag dieser bedeutsamen Marien-Ikone, ein neuer Feiertag eingerichtet: Der Tag der Befreiung Moskaus und Russlands von den polnischen Besatzern.3 Nach neuer Zeitrechnung fällt dieser auf den 4. November – auch das Datum des neuen Tags der Einheit des Volkes schließt also an die zaristische Tradition an.

Die Wiedereinführung des Feiertages im Jahr 20054 unter neuem Namen verband das Ende der Zeit der Wirren symbolisch mit dem Ende des Chaos der 1990er und sollte so das Wiedererstarken eines geeinten und stabilen (siehe auch Stabilisierung) Russland markieren.5 Die historischen Ereignisse werden dabei jedoch vereinfacht: Es ist unklar, ob der Aufstand tatsächlich die Einheit des Volkes versinnbildlicht, da durchaus nicht alle Teile der russischen Bevölkerung an ihm beteiligt waren. Auch war mit dem Sturm auf den Kreml und sogar mit der Wahl des neuen Zaren die Zeit der Wirren noch nicht beendet.6 Die politische Führung zog jedoch die Symbolik des Ereignisses der historischen Genauigkeit vor.

Der Feiertag steht heute für die Einheit des russischen Volkes angesichts eines äußeren Aggressors und für die Fähigkeit der Russen, schwere Zeiten gemeinsam zu überwinden. Diese Bedeutung unterstrichen mehrere Dokumentationen im Staatsfernsehen7 sowie der Blockbuster 1612 des Regisseurs Wladimir Chotinenko.8 Trotz aller Bemühungen konnte die Mehrheit der russischen Bevölkerung jedoch mit dem neuen Feiertag zunächst wenig anfangen: Nur acht Prozent der Befragten gaben im Jahr 2005 an, vom Tag der Einheit des Volkes zu wissen. Der Anteil stieg bis ins Jahr 2014 auf immerhin 54 Prozent – möglicherweise auch infolge der offiziellen Paraden, Prozessionen und Konzerte, die in den letzten Jahren vermehrt stattfanden.Die parlamentarischen Oppositionsparteien Gerechtes Russland und LDPR sowie kremltreue Jugendorganisationen (siehe auch regierungsfinanzierte Jugendorganisationen) beteiligten sich an der Durchführung.9 Zwar kennen noch immer nicht alle den historischen Gehalt des Feiertages, auch gab im Jahr 2014 nur ein Fünftel der Befragten an, den Tag selbst feiern zu wollen – zwölf Prozent erklärten sogar, den abgeschafften Revolutionstag zu begehen.10 Jedoch sind heute etwa zwei Drittel der Bürger davon überzeugt, dass ein Tag der Nationalen Einheit wichtig sei.11

Da der Feiertag der Bevölkerung zu Beginn unbekannt war, konnten sich russische Nationalisten des Datums bemächtigen, um Demonstrationen in Form rechtsextremer Russischer Märsche durchzuführen.12 Die Regierung gewann jedoch mit der Zeit die Deutungshoheit über das Ereignis zurück. Heute soll der Tag in der offiziellen Symbolik die ethnisch und konfessionell übergreifende Einheit des russischen Vielvölkerstaates unterstreichen. Innere Geschlossenheit fordert dabei jedoch den Preis der Abgrenzung nach außen. Aus dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass der Feiertag mit der Ukraine-Krise und der rhetorischen Konfrontation mit NATO und EU in den Jahren 2014/15 an Bedeutung gewann: Die Aussage des Ereignisses von 1612 eignet sich – aller Ungereimtheiten zum Trotz – zur Untermauerung von Putins Image als Beschützer Russlands und zur Festigung seines Herrschaftsanspruchs (siehe auch Gesellschaftsvertrag). Die Bemühungen, den Tag noch stärker im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern, wurden im Jahr 2015 folgerichtig noch einmal ausgebaut. So hielten viele Städte große Umzüge ab – unter anderem auch Sewastopol auf der Krim.


1.Adler, Nanci (2012): Reconciliation with – or rehabilitation of – the Soviet past? S. 329, in: Memory Studies, 5 (3), S. 327-338
2.Nolte, Hans-Heinrich (2012): Geschichte Russlands, Stuttgart, S. 72f.
3.Russkaja Pravoslavnaja Cerkov: 4 nojabrja — prazdnovanie Kazanskoj ikone Božiej Materi (v pamjatʼ izbavlenija Moskvy i Rossii ot inozemnych zachvatčikov v 1612 g.)
4.Auf Initiative des Interreligiösen Rates Russlands setzte das Parlament die Einrichtung des Feiertages 2004 auf die Agenda, und nachdem auch der orthodoxe Patriarch Aleksi II. den Feiertag abgesegnet hatte, wurde er gesetzlich verabschiedet.
5.Bacon, Edwin (2012): Public political narratives: developing a neglected source through the exploratory case of Russia in the Putin-Medvedev era, S. 778ff., in: Political Studies 60 (4), S. 768-786
6.Beispielsweise kämpften Kosaken noch bis 1618 für ihre Unabhängigkeit, siehe: Otečestvennye zapiski: Čto budut prazdnovatʼ v Rossii 4 nojabrja 2005 goda?
7.siehe Bacon, Edwin, S. 778f.
8.Der Bildhauer Surab Zereteli, der auch den Wiederaufbau der Christ-Erlöser-Kathedrale gestaltete, fertigte außerdem eine Kopie eines Denkmals für die Anführer des Aufstands Minin und Posharski. Sie wurde 2005 in Nishni Nowgorod im Beisein des Patriarchen Aleksi eingeweiht. Siehe Russkaja Pravoslavnaja Cerkov: Otkrytie pamjatnika Mininu i Požarskomu v  Hižnem Novgorode
9.Kommersant.ru: 4 nojabrja otmetjat jarmarkami i krestnymi chodami, zur Teilnahme der Jungen Garde siehe: Molodaja Gvardija: V regionach strany otmetili Denʼ narodnogo edinstva
10.Lewada.ru: Nojabrʼskie prazdniki: znanie i gotovnostʼ otmečatʼ
11.Fom.ru: 4 Nojabrja
12.Pain, Emil A. (2007): Xenophobia and Ethnopolitical Extremism in Post-Soviet Russia: Dynamics and Growth Factors, S. 906, in: Nationalities Papers, 35 (5), S. 895-911; siehe auch Kommersant.ru: Russkij prazdnik
 
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