Medien

Lew Tolstoi, der alte Hipster

Er galt nicht nur als lebender Klassiker der russischen Literatur, sondern auch als echter Trendsetter: So wurde noch zu Lew Tolstois Lebzeiten sein Landgut Jasnaja Poljana zu einem Pilgerort. Denn Lew Nikolajewitsch liebte Erfindungen und Experimente und verwandelte sein Haus in ein Zentrum von Innovationen. Wie der nicht so alltägliche Alltag in Jasnaja Poljana aussah, erkundet Maria Bessmertnaja auf Kommersant-Weekend anhand von Erinnerungen der Gäste Tolstois.

Zum 188. Geburtstag des Schriftstellers am 9. September 2016 bringt dekoder ihren Text erstmals auf Deutsch, der zeigt: Tolstoi war ein echter Hipster. Und bei allem Augenzwinkern verrät Bessmertnajas ehrfürchtiger Ton außerdem: Ein Schriftsteller ist in Russland nicht einfach nur ein Schriftsteller. Sondern eigentlich heilig. Mindestens.

Quelle Kommersant-Weekend

FITNESS

„Er streckte seine Hände aus und hob mich hoch in die Luft – als wäre ich ein kleiner  Hund

Cesare Lombroso, Mein Besuch bei Tolstoi, 1902

Am Tag meiner Ankunft spielte er zwei Stunden mit seiner Tochter Rasen-Tennis, danach bestieg er ein von ihm selbst aufgezäumtes und gesatteltes Pferd und lud mich ein, mit ihm baden zu gehen. Es bereitete ihm besondere Freude zu sehen, dass ich nach einer Viertelstunde nicht mehr in der Lage war, hinter ihm her zu schwimmen. Und als ich meine Bewunderung für seine Stärke und Ausdauer zum Ausdruck brachte und meine eigene Ohnmacht beklagte, streckte er seine Hände aus und hob mich ziemlich hoch in die Luft – mit einer Leichtigkeit, als wäre ich ein kleiner Hund. 

Tolstoi hat seinerzeit sehr für Sport geworben. Er machte ausdauernde Spaziergänge zu Fuß, trieb Gymnastik, schwamm, ritt und lief und bewies am eigenen Beispiel, dass das Bild eines Intellektuellen, der nicht in der Lage ist, etwas Schwereres als ein Buch zu heben, der Vergangenheit angehören sollte.


SELFIE

„Lew Nikolajewitsch freute sich wie ein Kind, als er sich auf den Bildern erkannte

Sofja Tolstaja, Tagebuch, 1910

Am Abend brachte Tschertkow die Fotos vorbei, die er in Mestscherskoje gemacht hat, wo ihn Lew Nikolajewitsch besucht hatte. Und Lew Nikolajewitsch freute sich wie ein Kind, als er sich selbst auf den ganzen Bildern erkannte.

Zu Beginn der 1860er Jahre wurde die Fotografie in Russland zur Massenmode und machte auch um Tolstoi keinen Bogen – der ja alle technischen Neuerungen verfolgte. Als größte Fotoamateurin der Familie galt zwar Sofja Andrejewna, aber auch Tolstoi hatte etliche Kameras. 1862 machte er sogar ein Selfie. Aber im Unterschied zu seinen Zeitgenossen, die die Fotografie lediglich als Spielerei betrachteten, ahnte und schätzte Tolstoi ihre großen Möglichkeiten. Und obwohl sein fotografisches Lieblingsgenre das Porträt war, sagte er gerade der Reportage-Fotografie eine große Zukunft voraus.


VEGGIEBURGER

„O ja! Ich war auch mal jung ... und der Kaukasus war jung ... und die Fasane waren jung …“

Leonid Pasternak, Wie der Roman „Auferstehung“ geschaffen wurde: Aus meinen Erinnerungen an Tolstoi, 1928

Eines Tages, als wir beide unten saßen, kam Tatjana Lwowna rein, um mich zu fragen, was sie für mich kochen sollte (Sofja Andrejewna war verreist, und Tatjana Lwowna kümmerte sich an ihrer Stelle um den Haushalt). Bei den Tolstois wurden immer zwei unterschiedliche Gerichte gekocht: einmal mit Fleisch und einmal ohne  ̶  für Lew Nikolajewitsch und andere Vegetarier. Lew Nikolajewitsch, wie immer humorvoll, hat sofort damit angefangen, uns Ratschläge zu geben, was man für mich kochen sollte. Und am Ende sagte er lachend: „Na gut, Tanja, sag dem Koch, er soll für Leonid Ossipowitsch einen Fasan braten.“ (Dabei schaute er durchs Fenster in den Park.) Und dann, nach einer kurzen Denkpause, fügte er mit gedehnten Worten hinzu: „O ja! Ich war auch mal jung ... und der Kaukasus war jung ... und die Fasane waren jung …“


Laut dem Interview, das Lew Tolstoi 1908 der amerikanischen Zeitschrift Good Health gab, wurde er gegen 1883 Vegetarier. Dieser Entschluss war die logische Folge seiner Lehre davon, dass jegliche Gewalt unmoralisch sei. 1893 schrieb Tolstoi den Artikel Die erste Stufe. Ursprünglich wurde der als Vorwort zum Buch von H. Williams Ethik des Essens veröffentlicht, das eine wichtige Rolle dabei spielte, den Vegetarismus in Russland populär zu machen. Es wurde das erste Handbuch für Vegetarier in Russland. Unter Tolstois Einfluss verzichteten nicht nur seine engen Freunde auf Fleisch (Nikolaj Ge, Ilja Repin, Nikolaj Leskow), sondern auch weite Kreise der Moskauer Gesellschaft  ̶  1912, schon nach Tolstois Tod, wurde dort sogar der Verein Geistiges Erwachen gegründet, der den Ersten Allrussischen vegetarischen Kongress organisierte.



NORMCORE

„Wie schön wäre es, wenn der Lew Nikolajewitsch tatsächlich so wäre!

Nikolaj Gussew, Zwei Jahre mit Tolstoi, 1907 bis 1909 


Gestern bekamen wir die Jubiläumsausgabe der Ussurijskaja Molwa, in der ein Artikel über Lew Nikolajewitsch veröffentlicht wurde mit einem Foto, auf dem er in einer Poddjowka, der Pilgerkleidung, und mit einer Tasche über der Schulter, zu sehen war. Lew Nikolajewitsch betrachtete dieses Foto lange und sagte dann mit leiser, nachdenklicher, trauriger Stimme zu mir: „Wie schön wäre es, wenn der Lew Nikolajewitsch tatsächlich so wäre!“

Tolstois Verzicht auf Adelskleidung entsprach seiner Überzeugung, dass die Standesunterschiede überwunden werden müssen. Tolstoi kreierte zwar keine neue Mode, nahm aber den Demokratisierungs-Trend in Sachen Kleidung vorweg, um den im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts gekämpft werden sollte.


LOKALE MARKEN

„Heute hat Lewotschka eine Galosche genäht

Sofja Tolstaja, Brief an Tatjana Kusminskaja, 1884 

Heute hat Lewotschka eine Galosche genäht. Da kommt er zu mir, um sie mir zu zeigen, und sagt: „C'est délicieux!“ Die Galosche war aber sehr grob genäht und hatte einen hässlichen Schnitt.

Seine ersten Stiefel nähte Tolstoi 1884. Darüber schreibt Sergej Arbusow in seinen Memoiren, er diente bei den Tolstois als Lakai. Damals kam Tolstoi zu der Überzeugung, dass die Schriftstellerei eine sinnlose Beschäftigung sei, und wollte irgendeinen „echten“ Beruf lernen. Schließlich fand er in Jasnaja Poljana einen Schuster, der sich bereit erklärte, ihn auszubilden. Wegen dieses Hobbys wurde Tolstoi, der nicht nur für sich, sondern auch für Freunde und Familie Schuhe nähte, Inkonsequenz unterstellt – denn zu diesem Zeitpunkt war er bereits Vegetarier. Allerdings mochte auch Tolstoi selbst seine „Rindsleder-Stiefel“ nicht besonders gern und brach stattdessen zu mehrstündigen Spaziergängen immer wieder in Bastschuhen mit Galoschen auf.  


BIKING

„Die Kunst des Radfahrens erlernte der Graf ohne große Mühe, und er fährt jetzt völlig sicher und frei

Wassili Maklakow, Aus Erinnerungen, 1954

Als die Fahrräder in Mode kamen, schloss Tolstoi trotz seines hohen Alters das Radfahren ins Herz. Einmal fragte ich ihn in Jasnaja Poljana, warum er lieber das Fahrrad nahm anstatt zu reiten. Er erklärte mir damals, dass er ab und zu komplette mentale Erholung brauche. Und wenn er zu Fuß liefe oder reite, hindere ihn das nicht daran zu denken, sodass sein Gehirn sich nicht ausruhe. Wenn er aber mit dem Rad fahre, müsse er auf den Weg achten, sprich auf Steine, Radspuren und Löcher; und dabei höre er auf zu denken.

Ein Fahrrad der englischen Marke Rover bekam Tolstoi 1895 – also, als diese Sportart sich in Russland gerade erst zu entwickeln begann – von der Moskauer Gesellschaft der Fahrradfahrer geschenkt. Auch hier war Tolstoi ein Trendsetter, denn er wurde mit 67 Jahren zum Gesicht einer neuen Sportmode.

In der Fahrrad-Zeitschrift Cycliste erschien ein Artikel, in dem es hieß, dass Tolstoi nicht nur selbst Fahrrad fuhr, sondern auch seinen Kindern das Radfahren beibrachte: „Wir haben ihn vergangene Woche dabei beobachtet, wie er, in sein traditionelles Hemd gekleidet, in der Reitbahn Fahrrad fuhr. Die Kunst des Radfahrens erlernte der Graf ohne große Mühe, und er fährt jetzt völlig sicher und frei. Auch die Kinder von Lew Nikolajewitsch sind Radfahrer.“



„Dürfte ich Sie bitten, mit dem Phonographen eine kurze Ansprache an die Völker der ganzen Welt zu machen?

Thomas Edison, Brief an Lew Tolstoi, 1908

Gnädiger Herr! Dürfte ich Sie darum bitten, mit dem Phonographen eine oder zwei Aufnahmen auf Französisch oder Englisch zu machen, am besten eine kurze Ansprache an die Völker der ganzen Welt, in beiden Sprachen? Idealerweise sollte es eine kurze Ansprache an die Völker der Welt sein, in der Sie eine Idee zum Ausdruck bringen würden, die die Menschheit in moralischer und sozialer Hinsicht nach vorne bringt. Sie sind weltberühmt, und ich bin mir sicher, dass Ihre Worte dann von Millionen von Menschen mit begieriger Aufmerksamkeit gehört werden.

Die erste Aufnahme, auf der Tolstois Stimme zu hören ist, stammt von 1895. Sie wurde im Haus von Juli Blok gemacht – einem Pionier der russischen Tonaufnahme. In den Besitz eines eigenen Phonographen kam Tolstoi aber erst 13 Jahre später: Thomas Edison persönlich schickte ihm 1908 seine Erfindung. Zusammen mit dem Geschenk kam ein Brief, in dem er Tolstoi darum bat, spezielle Aufnahmen für nicht-russischsprachiges Publikum zu machen.

Pawel Birjukow erinnert sich daran, dass Tolstoi den Phonographen mit großer Aufregung erwartete, die für ihn untypisch war. Aber er freute sich schon auf den Nutzen, den ihm dieses Gerät bringen würde. Und tatsächlich wurde Tolstoi zum ersten russischen Schriftsteller, der den Phonographen für seine Arbeit verwendete: Er nahm belletristische Werke, Briefe, Publizistik und Märchen auf, die er dann in der Schule von Jasnaja Poljana den Kindern vorspielte.  


KINDERERZIEHUNG

„In jeder Schule wimmelt es nur so von ‚ertrinkenden‘ Puschkins, Ostrogradskis und Lomonossows

Lew Tolstoi, Brief an Alexandra Tolstaja, 1874

Wenn ich die Schule betrete und diese Schar zerlumpter, schmutziger, magerer Kinder sehe, mit ihren hellen Augen und oft engelhaften Gesichtern, überkommen mich Besorgnis und Entsetzen  ̶  wie beim Anblick ertrinkender Menschen … Ich wünsche mir Bildung für das Volk, nur um diese ganzen „ertrinkenden“ Puschkins, Ostrogradskis und Lomonossows zu retten. Denn in jeder Schule wimmelt es nur so davon.

1859 wurde in Jasnaja Poljana eine Schule für Bauernkinder eröffnet. Auf dem Lehrplan standen: Lesen, Schreiben, Kalligrafie, Grammatik, heilige Geschichte, russische Geschichte, Mathematik, naturwissenschaftliche Diskussionen, Malen, technisches Zeichnen, Singen und Religion.

Das leitende pädagogische Prinzip bestand darin, dass auf die Schüler kein Druck ausgeübt wurde: Der Unterricht, der unter anderem von Tolstoi selbst gegeben wurde, wurde zeitlich frei eingeteilt, es bestand keine Pflicht, Hausaufgaben zu machen, und der Schwerpunkt wurde darauf gelegt, die Kinder zu eigenständigem Denken anzuregen.


VINYLOPHILIE

Also!, sagte Lew Nikolajewitsch laut. Also!, wiederholte er begeistert. Sein rechtes Bein zuckte, seine Augen leuchteten. Na, so was! Aber echt! – sagte er angetan

Alexej Sergejenko, Tanzmusik (Anekdoten über L.N. Tolstoi: Aus Erinnerungen, 1978)


Am 9. Dezember 1903 kamen mein Vater und ich nach Jasnaja Poljana und brachten, gemäß W. W. Stassows Bitte, ein Grammophon mit. Das war damals noch eine echte Kuriosität und Lew Nikolajewitsch hatte so etwas noch nie gehört. [...] Am Abend versammelten sich alle Hausbewohner inklusive Lew Nikolajewitsch im Salon. Das Grammophon mit dem riesigen Trichter stellte man auf den Flügel. Mein Vater und ich zogen das Federwerk auf und legten Schallplatten auf. Es wurden Werke von Beethoven, Chopin und Tschaikowski gespielt sowie Opernarien und ein Geigentrio. Alle lauschten der Musik ernst und konzentriert und wunderten sich über die unglaubliche Erfindung, die in der Lage war, die in der Natur vorhandenen Laute wiederzugeben. Lew Nikolajewitsch sagte ab und zu mit Staunen: „Also …“ Dann ertönte das Tanzstück Die Pflasterstraße entlang. Der Chor sang keck: „Ein junges Mädel lief die Pflasterstraße entlang, lief kühles Quellenwasser holen …“ „Also!“, sagte Lew Nikolajewitsch laut. „Also!“, wiederholte er begeistert. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf. Sein rechtes Bein zuckte, seine Augen leuchteten. „Na, so was! Aber echt!“ – sagte er angetan. Sein rechtes Bein zuckte wieder, sein linkes auch.      

Sein Grammophon hat Tolstoi 1903 von seinem Schüler Alexej Sergejenko geschenkt bekommen. Tolstoi war ganz begeistert von dem Geschenk und erkannte später auch die großen aufklärerischen Möglichkeiten der neuen Technik. Tolstoi wurde zu einem enthusiastischen Nutzer des Phonographen. Seine einzige Kontroverse mit der Schallplattenindustrie entstand erst, als ihm klar wurde, dass die Aufnahmen seiner Stimme nur gegen Geld verbreitet wurden. Das hinderte die Firma Grammophon aber nicht daran, im Jahr 1910, gleich nach Tolstois Tod, Schallplatten mit seiner Stimme herauszugeben in einer für die damalige Zeit rekordverdächtigen Neuauflage von 100.000 Stück.

dekoder unterstützen

Weitere Themen

Gnosen
en

Lew Tolstoi

Während einer Vorlesung über russische Literatur „ging Vladimir Nabokov, ohne ein Wort zu sagen, über das Podium zur rechten Wand und schaltete die drei Deckenlampen aus. Dann zog er schweigend die Rollos der großen Fenster im Hörsaal hinunter und lief zurück zu den Lichtschaltern“, erinnerte sich ein Student: „,Am Firmament der russischen Literatur‘, verkündete Nabokov, ,ist das hier Puschkin!‘ Er schaltete die Lampe in der linken Ecke unseres Planetariums wieder an. ,Das hier ist Gogol!‘ Die Lampe in der Mitte leuchtete auf. ,Das ist Tschechow!‘ Die Lampe rechts erleuchtete. Dann löste Nabokov das Rollo, das mit einem lauten Knall in die Höhe schnellte. Ein breiter, heller Sonnenstrahl brach in den Hörsaal, Nabokovs Stimme donnerte los: ,Und das, das ist Tolstoi!‘“1

 

Mit Licht, Glück und ethischer Bestimmtheit wandte sich Lew Tolstoi in seinen Werken gegen das Motiv des Leids – und somit gegen seine Epoche. Denn die russische Literatur des 19. Jahrhunderts war vom Motiv der Leiderfahrung durchzogen. Dostojewski etwa enthüllte die Fragmentiertheit des menschlichen Bewusstseins mit seinen tiefen und dunklen Schichten und führte seine Protagonisten durch die Erfahrung der Sünde und des Leidens zur Wahrheit. Bei Tolstoi dagegen ist der Mensch in erster Linie ein ungeteiltes und glückliches Wesen, und „das menschliche Leben, soweit wir es kennen, ist eine Welle, die völlig in Glanz und Freude gehüllt ist“2. Als eine Art Gegenentwurf zu Dostojewski tritt bei Tolstoi ein intensives moralisches Empfinden an die Stelle der Sünde. Auch Tolstois eigenes Leben war das Produkt eines solchen Empfindens.

Leben und Wirken

Lew Tolstoi wurde am 28. August (9. September) 1828 auf dem Familiengut Jasnaja Poljana geboren, etwa 200 Kilometer entfernt von Moskau. Er gehörte dem Adelsgeschlecht der Grafen von Tolstoi an und wuchs in einer aristokratischen, von literarischem Schaffen weit entfernten Umgebung auf.

Er studierte Östliche Philologie und Rechtswissenschaften an der Universität Kasan, leistete seinen Wehrdienst, war in den Jahren 1854 und 1855 während des Krimkriegs an der Verteidigung von Sewastopol beteiligt, wurde mit dem Tapferkeitsorden der heiligen Anna ausgezeichnet und bewegte sich fern jeglicher literarischer Kreise.

So kam es völlig unerwartet, als Anfang der 1850er Jahre im Journal Sowremennik die Erstschrift eines bislang unbekannten Autors erschien, der sich hinter dem Kürzel L. N. verbarg. Es war der erste Teil von Tolstois biografischer Trilogie Kindheit, Knabenjahre, Jugendzeit. Sie begründete den Ruhm Tolstois.

Bereits zu Lebzeiten ein anerkannter Klassiker der russischen Literatur – Lew Tolstoi

Der Protagonist der Trilogie, Nikolenka Irtenjew, der drei Stadien des Erwachsenwerdens durchläuft, gleicht dem Autor. Allerdings nicht im biografischen Sinne, sondern der psychologischen Erfahrung nach. Diese steht über viele Jahre im Mittelpunkt von Tolstois Werken: in seinen drei großen Romanen Woina i Mir (dt. Krieg und Frieden, 1865–1869), Anna Karenina (1875–1877) und Woskressenije (dt. Auferstehung, 1899), in einer Vielzahl von Erzählungen, Dramen, publizistischen Essays und religionsphilosophischen Traktaten. Immer beschäftigt sich Tolstoi mit dem Finden der Wahrheit, die im Menschen verborgen und nur dadurch zu erkennen ist, dass man das Wesen des Menschen in seinem konkreten Sein ergründet.

Tolstois Anthropologie

„Der Mensch ist Alles und ein Teil von Allem“ – das ist die Kernthese der tolstoischen Anthropologie. Den Sinn seines Romans Krieg und Frieden sieht der Autor darin, die Menschen „dazu zu bringen, das Leben in all seinen unzähligen und unerschöpflichen Erscheinungen zu lieben“. Anna Karenina verkörpert laut Tolstoi das Leben „mit all der unausdrückbaren Kompliziertheit von allem Lebendigen“.

Der zweite Grundpfeiler in Tolstois Anthropologie ist das intensive moralische Empfinden. Alles im Leben wird als gut oder schlecht wahrgenommen. Dabei ergeben sich grundlegende Probleme, die es zu klären gilt: Was genau ist das Gute und das Schlechte? Was ist charakteristisch nur für mich und was ist charakteristisch für den Menschen allgemein? Was sind die Grenzen der Selbsterkenntnis? Das sind die Fragen, die sich Konstantin Lewin in Anna Karenina stellt, aber auch andere Protagonisten, die als „tolstoische Menschen“ bezeichnet werden.

Weltanschauliche Sinnkrise

Tolstoi selbst dachte über all diese Fragen sein ganzes Leben lang nach. All das findet sich in den Tagebüchern wieder, die er von der frühen Jugend an bis zu seinem Tod führte. Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre durchlebte Tolstoi eine tiefe weltanschauliche Sinnkrise. In einer Reihe von religionsphilosophischen Werken suchte er nach theoretischen Begründungen für seine neuen Sichtweisen zu den Themen Religion, Moral, Kunst, Politik und Zivilisation. In dieser Zeit begann er, sich nicht mehr in erster Linie als Künstler zu begreifen, sondern als Religionsphilosoph. In seinen Traktaten erklärt Tolstoi, dass er zwar der Verkündigung Jesu glaube, nicht jedoch der Institution Kirche, in der der Glaube durch Ritualismus ersetzt würde. Das führte zu seinem Ausschluss aus der Kirche, der bis heute nicht aufgehoben wurde.

Schriftsteller, Moralist und Philosoph

Während der Schriftsteller Tolstoi bereits zu Lebzeiten ein anerkannter Klassiker der russischen Literatur war, erfuhr der Religionsphilosoph starken Gegenwind. Seine späten Werke, vor allem die religionsphilosophischen Traktate und der Roman Woskressenije mit ausführlichen Zitaten aus dem Neuen Testament, wurden massiv kritisiert. Tolstoi sah sich mit Vorwürfen des Moralismus und Utopismus konfrontiert. Es gab heftige Kritik an seiner religiösen Lehre sowie an der um Tolstoi in den 1880er Jahren gegründeten Bewegung Tolstowstwo. Unter anderem solche Philosophen wie Iwan Iljin oder Nikolaj Berdjajew traten damit hervor.

In seinen Tagebüchern bemerkte Tolstoi, dass er zunehmend darunter gelitten habe, nicht im Einklang mit seinen Überzeugungen gelebt zu haben. Der berühmte Literaturkritiker Viktor Schklowski vertrat die These, Tolstoi sei „Gewissen und Spiegel“ seiner Epoche zugleich gewesen. In seinen Werken habe er schließlich auch die eigenen Laster verteufelt.

 

Porträt von Lew Tolstoi, Datum der Aufnahme unbekannt / Foto © Fine Art Images/Heritage Images/imago-images

Ein großer Teil der Rezeption sieht in Tolstois Verzweiflung darüber, den eigenen moralischen Ansprüchen nicht zu genügen, den Grund für sein tragisches Ende. In der Nacht auf den 28. Oktober (10. November) verließ Tolstoi unbemerkt Jasnaja Poljana. Wenige Tage später bekam er eine Lungenentzündung, die ihn zwang, seine Reise an der Bahnstation Astapowo zu unterbrechen. Nach einer Woche schweren Leidens starb er am 7. (20.) November im Haus des Leiters der Bahnstation.


1.zit. nach: Boyd, Brian (1991): Vladimir Nabokov: The American Years, Princeton, S. 221-222
2.Tagebucheintrag vom 27. Mai (8. Juni) 1884: Tolstoj, Lev (1952): Polnoe sobranie sočinenii, Moskau, Bd. 49, S. 98
dekoder unterstützen
Weitere Themen
Gnose

Nikolaj Berdjajew

Nikolaj Berdjajew (1874–1948) war ein russischer Philosoph mit weltweiter Wirkung. Zunächst marxistisch beeinflusst, stellte er sich noch vor der Oktoberrevolution gegen den Atheismus der Kommunisten und wurde 1922 ausgewiesen. Seine christlich-existenzialistische Philosophie stellt die Freiheit des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, zielt dabei aber auf eine geistige Erneuerung der Gemeinschaft. Die religiöse Rückbesinnung in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beruft sich vielfach auf Berdjajews Denken.

Gnose

Nikolaj Nekrassow

Nikolaj Alexejewitsch Nekrassow war ein Autor, Kritiker und einflussreicher Publizist, der insbesondere in politisch-revolutionär gesinnten Kreisen eine breite Anhängerschaft fand. Im westlichen Ausland kaum bekannt, gilt Nekrassow in Russland als Nationalheld der Literatur des 19. Jahrhunderts und als moralische Instanz der Kulturgeschichte. Nekrassow begriff Literatur in erster Linie als Medium zum Ausdruck sozialer und politischer Belange.

Gnose

Wassili Aksjonow

Heute vor 14 Jahren verstarb Wassili Aksjonow. Er gilt als einer der wichtigsten, vielleicht der wichtigste, russische Autor der Nachkriegszeit. Im Tauwetter als Kultautor einer neuen Generation verehrt, unter Breshnew repressiert und schließlich des Landes verwiesen, durchlief Aksjonow das klassische Drama des sowjetischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Torben Philipp über Leben und Wirken des Bestsellerautors.

Gnose

Russki Mir

Das Konzept der Russischen Welt (russ. russki mir) wurde in den Jahren 2006/07 entwickelt und hat seitdem an Popularität gewonnen. War es zunächst eher ein kulturelles Konzept, das die soziale Bindungskraft russischer Sprache und Literatur betonte (es existiert eine gleichnamige kulturpolitische Stiftung), so dient es heute auch zur Legitimierung außenpolitischer Aktionen, die den Einfluss Russlands im postsowjetischen Raum stärken sollten. 

Gnose

Russisch-Orthodoxe Kirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

Gnose

Kasimir Malewitsch

Sein Name ist untrennbar mit seinem größten Coup verbunden – dem Schwarzen Quadrat (1915, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau). Sein im doppelten Sinn ikonisches Gemälde stellt eine Tabula rasa für das Medium Malerei dar und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer gegenstandslosen Abstraktion, die bis heute andauert. Malewitsch verstarb am 15. Mai 1935.

weitere Gnosen
Motherland, © Tatsiana Tkachova (All rights reserved)