Und plötzlich Terrorist 

Illustration © Mediazona Belarus 

Seinen Ruhestand hat sich Wassili Demidowitsch sicherlich anders vorgestellt. Aber er verbrachte die letzten drei Jahre in Untersuchungshaftanstalten, Gerichten und Straflagern. Wegen „Beleidigung“ von Alexander Lukaschenko und Beamten und „Aufruf zu Unruhen“ wurde der Rentner neun Mal vor Gericht gestellt, sein Haus wurde zur Begleichung der Geldstrafen zwangsversteigert. Das Onlineportal Mediazona Belarus, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Geschichten hinter den Repressionen zu dokumentieren, erzählt die Ohnmacht von Dsemidowitsch. 


Im Juli 2025 wurde das Haus von Wassil Dsemidowitsch gerichtlich versteigert. Der 73-jährige Polithäftling aus Njaswish wurde 2022 festgenommen und in insgesamt neun Strafverfahren zu mindestens sieben Jahren Straflager verurteilt. Die erste Anklage führte nicht nur zu einer Freiheitsstrafe, sondern obendrein zu der Verpflichtung, 32.000 Rubel (ca. 9500 Euro) „Schmerzensgeld“ an die Geschädigten zu zahlen. Wie die letzten Urteile ausfielen, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich ist seine Haftstrafe mittlerweile noch länger.  

Alle Anklagen gegen Dsemidowitsch stehen im Zusammenhang mit Kommentaren auf Social Media: Man wirft ihm vor, den Richter, Alexander Lukaschenko und Vertreter der Staatsmacht beleidigt sowie Massenunruhen organisiert zu haben.  

Zwischen September 2021 und Januar 2022 hatte Dsemidowitsch im Chat des Telegram-Kanals Karateli Belarusi (dt. Strafbrigaden von Belarus) Kommentare hinterlassen – so der Akte ist zu entnehmen –, mit denen er angeblich die Staatsmacht, Lukaschenko und den Richter „beleidigt“ hatte und derentwegen er vor Gericht stand.  

„Noch gibt es keine Arbeiterbewegung“, „Wir brauchen einen landesweiten Generalstreik“, „Ich erwarte in Belarus NATO-Truppen“, „Wieder so ein Kolchosenbauer und Jabatka“, „vertrottelter Moskal“, schrieb Wassil in seinen Kommentaren. In den Ermittlungen wird behauptet, dass er „zu Massenunruhen aufrief“: „Er suchte nach Menschen, die zu diesem Verbrechen bereit sind, konnte sein Vorhaben jedoch nicht umsetzen, weil er festgenommen wurde.“

2021 saß Wassil einen Verwaltungsarrest ab, weil an seinem Haus eine weiß-rot-weiße Flagge hing. Für eine weitere Verwaltungsübertretung – einen Repost aus dem Telegram-Kanal Karateli Belarusi – musste er 25 Tagessätze Strafe zahlen (damals 800 Belarussische Rubel, also rund 235 Euro).  Laut Auskunft von Menschenrechtsexperten war Wassil früher als Jurist tätig. In den sozialen Medien kommuniziert er belarussisch.    

 „Ich habe keinen Raubüberfall begangen, keinen Mord, keine Vergewaltigung” 

Dann folgte ein Gerichtsverfahren nach dem anderen, mit immer wieder denselben Anklagen. Im Februar 2023 verhängte ein Gericht in Dsjarschynsk eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren und eine Geldstrafe von 2710 Rubel (800 Euro) gegen Dsemidowitsch.Im März 2023 fand ein neuerliches Verfahren in Drahitschyn statt, wieder wegen Beleidigung von Vertretern der Staatsmacht. Aufgrund einer teilweisen Kumulation der Strafen wurde Dsemidowitsch zu sechs Jahren und sieben Monaten Kolonie und einer Geldstrafe in Höhe von 3820 Belarussische Rubel (1125 Euro) verurteilt.  

Rund einen Monat später gab es abermals einen Transport in die U-Haftanstalt Nr. 3 in Homel und ein neues Verfahren. Im Mai 2023 wurde dann das Urteil gesprochen: zweieinhalb Jahre Kolonie, somit insgesamt sieben Jahre Freiheitsentzug und eine Geldstrafe von 4930 Belarussische Rubel (1450 Euro). Danach stand Wassil noch fünf Mal vor Gericht, aber wie das jeweils ausging, wissen wir nicht.  

Im Mai 2023 stand der Rentner in Puchawitschy zum fünften Mal vor Gericht, im August in Njaswish zum sechsten Mal. Im Oktober wurde in Staryya Darohi die siebente Anklage gegen ihn erhoben, im Mai 2024 in Krupki die achte verhandelt. Im Februar 2025 folgte am Gericht von Smalyavichy die neunte Anklage gegen ihn.  In einem dieser vielen Gerichtsverfahren war Staatsanwalt Denis Mikuschew der Geschädigte. Er war im Prozess gegen den Blogger und Politiker Sergej Tichanowski als staatlicher Ankläger aufgetreten. Unter einen persönlichen Post von ihm hatte Wassil Dsemidowitsch kommentiert: „Wieder so ein Moskal.“ 

Hierzu aus Dsemidowitschs Schlusswort: 

„Ich gebe zu, dass mein Kommentar über Mikuschew eine Reaktion auf seine fragwürdige Einstellung zu Sergej Tichanowski war. Tichanowski halte ich seit jeher für einen anständigen Mann, der seinen Standpunkt geäußert und kein besonders schweres Verbrechen begangen hat, für das er jetzt einsitzt, aber das ist wiederum meine Meinung. Deswegen habe ich mich diesbezüglich geäußert. […] 

Ich sitze hier seit Juni wegen einem schweren Verbrechen hinter Gittern, § 293 – Beteiligung an Massenunruhen mit Ausschreitungen, brennenden Autos und dergleichen. Ich werde als Terrorist betrachtet, die Polizisten, die mich eskortieren, fragen mich: ‚Sag mal, wofür hast du denn Paragraph 293 bekommen?‘ Ich sage: ‚Wegen dem und dem.‘ ‚Aber was hast du in die Luft gejagt?‘ Und so weiter, verstehen Sie? Es ist so unsinnig, schrecklich. 

Während der Proteste in Belarus im Jahr 2020 habe ich diverse Kommentare im Internet gepostet, und Anfang 2021 habe ich sogar einen Brief an die Präsidialadministration geschrieben, dass sich die Staatsmacht mit der Opposition an den Verhandlungstisch setzen und eine Lösung finden soll. Wie in einem normalen, zivilisierten Land. 

Ich kann das schwer beurteilen, weil ich mich mit Politik überhaupt nicht auskenne, aber ich glaube, dass meine Taten und was sie mir zur Last legen extrem hart bestraft wurde. In meinem Alter wegen angeblicher Teilnahme an Massenunruhen zu sechs Jahren Haft verurteilt zu werden, das ist schon irgendwie absurd. Dann hat noch der erste Anwalt, der bei mir war, gesagt, er könne nichts für mich tun. Er kam aus Minsk, hat sich lange mit mir unterhalten und dann gesagt: ‚Ich kann dir nicht helfen.‘ Ich fragte: ‚Warum?‘ ‚Na ja, die Bedingungen sind mittlerweile so speziell, dass ich als  Anwalt nichts ausrichten kann.‘ Zum Abschied sagte er: ‚Geh einfach nach eigenem Gutdünken vor.‘ Und das mache ich. 

Ich habe gedacht, wenn ich online mit irgendwem streite, werde ich ja auch beschimpft und bedroht. Mich wollten sie ja schon erhängen, umbringen, abstechen und so, sie haben gedroht, ich hab zurückgedroht, sie haben mich beschimpft, ich hab zurückgeschimpft, also, Streitereien gab es da schon. Natürlich hätte ich das alles nicht so ernst nehmen sollen, aber wurde halt jeder von seinen Emotionen weggetragen. Meine haben mir sechs Jahre beschert. […] Ich glaube, diese sechs Jahre, bei denen die mildere Strafe durch die höhere Strafe ersetzt wird, sind mehr als genug. 

Ich habe keinen Raubüberfall begangen, keinen Mord, keine Vergewaltigung, habe keinen Terroranschlag verübt, nichts gestohlen, und trotzdem haben sie mir solche Haftstrafen aufgebrummt. Wofür? Ich verstehe das einfach nicht. Dabei wissen die Geschädigten, die gar nicht vor Gericht erschienen sind, wahrscheinlich im Grunde ihres Herzens, dass sie zu hart mit mir verfahren.“            

Drangsalierungen nach der Haft 

Wassil Dsemidowitsch ist der älteste Mensch auf den „Terroristenlisten“ des KGB. Dass er auf dieser Liste steht, bringt ihm zahlreiche Einschränkungen und verschlechtert seine Situation in der Haft noch zusätzlich. Zum Beispiel darf er kein Geld von Angehörigen erhalten, weswegen ihm für Einkäufe im Laden der Strafkolonie lediglich seine Rente zur Verfügung steht, von der jedoch ein Beitrag für Verpflegung und Betriebskosten einbehalten wird und wahrscheinlich auch Strafen und Schmerzensgelder abbezahlt werden. 

Eine Person, die auf dieser Liste steht, ist auch nach ihrer Entlassung aus dem Strafvollzug mit etlichen Schwierigkeiten und rechtlichen Einschränkungen konfrontiert: Sie bekommt zum Beispiel keine Bankomatkarte, keine SIM-Karte und keine Versicherung, kann aber auch keine Vollmachten ausstellen. 

Im Juli 2025 wurde Wassil Dsemidowitschs Haus in Njaswish versteigert, wahrscheinlich, um mit dem Erlös seine Geldstrafen und Schadenersatzpflichten gegenüber „geschädigten“ Beamten und Silowiki zu begleichen. Die Immobilie wurde, nachdem zwei Interessenten darum gesteigert hatten, für 10.393 Belarussische Rubel (3000 Euro) verkauft.        

 „Alle ‚Politischen‘ fahren in Handschellen” 

Wegen all dieser Anklagen wurde Wassil Dsemidowitsch durchs ganze Land transportiert, von einer U-Haftanstalt zur nächsten. Den Grund dafür vermutet das Menschenrechtszentrum Wjasna darin, dass die Anklagen jeweils am Wohnort der „Geschädigten“ erhoben wurden. 

Die Fahrten zwischen den Haftanstalten werden „Etappen“ genannt und können tage- und wochenlang dauern. Die Häftlinge fahren in Stolypin-Waggons von Stadt zu Stadt, wer an den Protesten teilgenommen hat, bleibt oft die ganze Fahrt über in Handschellen. Die Luft ist verraucht, und es gibt keine Möglichkeit zur Lüftung.  

Ein Häftling erzählt: „Alle ‚Politischen‘ fahren in Handschellen. Wer nicht raucht, klettert auf die oberen Liegen. Ich hatte von 20:00 bis 10:00 Uhr früh Handschellen an, die sich bei jeder unvorsichtigen Bewegung noch enger zuzogen. Man bemüht sich also stillzuhalten. Vor der Toilette stehen alle Schlange … Ich habe bei Solschenizyn gelesen, dass man vor dem Transport nicht viel trinken soll, das war ein sehr hilfreicher Tipp.“