Das staatliche Fernsehen ist die wichtigste Nachrichtenquelle in Russland. Wie der Soziologe Denis Wolkow in seinem Beitrag auf Vedomosti schreibt, informiert sich gerade bei außenpolitisch wichtigen Ereignissen wie in der Ukraine oder in Syrien etwa die Hälfte der Bevölkerung ausschließlich über staatliche Kanäle. Das Staatsfernsehen ist über Infrastruktur aus Sowjetzeiten überall gut zu erreichen. Unabhängige Online-Medien dagegen haben eine weitaus geringere Reichweite. Auch deswegen hängen die meisten Russen der offiziellen Darstellung aktueller Ereignisse an. Wäre das anders, wenn sich mehr Menschen über unabhängige Medien informieren würden? Denis Wolkow, der am renommierten Lewada-Zentrum forscht, kommt zu einem überraschenden Schluss.
Das Wie, die Art und Weise der Berichterstattung, wird in Russland in den letzten Jahren immer wesentlicher von den staatlichen Fernsehsendern gestaltet. Und das trotz der stetig wachsenden Bedeutung des Internets als Informationsquelle. Heute informiert sich ungefähr jeder fünfte Bewohner Russlands über verschiedene Websites und die sozialen Netze. Vor sieben Jahren waren es noch weniger als zehn Prozent. All das geschah auf Kosten von Radio und Presse – deren Reichweite sank erheblich.
Mit dem Beginn des Ukraine-Konflikts hat sich der Propaganda-Ton in Sendungen heftig verschärft. Dann haben die Fernsehsender fast zwei Jahre lang in einem Ausnahmemodus gearbeitet, ähnlich dem während des Georgienkrieges 2008.
DAS INTERNET NICHT ZU HOCH BEWERTEN
Die Bedeutung des Internets als Raum frei zugänglicher Informationen sollte nicht zu hoch bewertet werden. Wenn auch fast 70 Prozent der Bevölkerung heute regelmäßig das Internet nutzen, beziehen je nach befragter Quelle nur 20 bis 25 Prozent der Russen Nachrichten aus dem Internet. Wobei der Hälfte von ihnen als Haupt-Informationsquelle Medien dienen, die Nachrichten aggregieren und nur selektive, bruchstückhafte Informationen bieten, ohne Kontext und Analyse.
Unterteilt man das Segment der Nachrichten-Websites mit Hintergrundinformationen grob in regierungstreue und unabhängige, so ist die Leserschaft der unabhängigen Medien online sogar in etwa so groß wie die der regierungstreuen. Das ist nicht nur dem interessanten Content zu verdanken, den letztere produzieren, sondern liegt auch daran, dass die Redaktionspolitik erfolgreicher Online-Medien stark gesteuert wird.
Lenta.ru beispielsweise, eines der beliebtesten Online-Nachrichtenportale Russlands (seine Leserschaft betrug in Moskau ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung, was mit der Publikumsgröße eines mittleren Fernsehsenders vergleichbar ist) verlor im Frühjahr 2014 seine Chefredakteurin [Galina Timtschenko – dek] samt Redaktion – infolge eines Konflikts mit dem Besitzer über die Berichterstattung zu den Ereignissen in der Ukraine. Das neue Onlineportal Meduza, das von einem Teil der einstigen Redaktionsmitglieder gegründet wurde, wird bisher von weniger als einem Prozent der Bevölkerung regelmäßig genutzt.
QUALITÄTSJOURNALISMUS IST NUR IN INFORMATIONSGHETTOS MÖGLICH
Mit anderen Worten: Erfreut sich ein russisches unabhängiges Medium zunehmender Beliebtheit, riskiert es den Verlust seiner Unabhängigkeit. Qualitätsjournalismus ist in Russland nur in kleinen, vom Staat sorgfältig überwachten Informationsghettos möglich. Wobei ein großer Teil der russischen Bevölkerung außerhalb der Reichweite der unabhängigen Medien liegt.
Insgesamt lässt sich das Publikum aller unabhängigen russischen Medien – also die Zahl jener Menschen, die Beiträge von wenigstens einem unabhängigen Medium lesen, hören oder sehen – mit 30 Prozent der Bevölkerung beziffern, in Moskau mit ungefähr 60 Prozent. Denn in der Hauptstadt, der größten russischen Metropole, ist die Medienlandschaft am vielseitigsten.
Der Zugang zu Informationsalternativen bedeutet allerdings noch nicht, dass man ihre Meinung übernimmt. Und die Ansichten der oben genannten Bevölkerungsgruppe zur Situation im Land und zur Regierungspolitik unterscheiden sich praktisch nicht von den Meinungen der Gesamtbevölkerung.
AUCH DIE INFORMATIONSELITE BEFÜRWORTET DIE KRIM-ANNEXION
Merklich andere Meinungen finden sich nur bei den Mediennutzern, die die Entwicklungen der Ereignisse über verschiedene unabhängige Kanäle gleichzeitig verfolgen und dafür drei oder mehr unabhängige Informationsquellen nutzen. Aber das sind nur rund 10 Prozent der Bevölkerung, unter den Moskauern ungefähr 30 Prozent. Diese besonders gut informierten Bürger kann man als Informationselite Russlands bezeichnen, und gerade bei ihr ist die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik bedeutend größer als in der Gesamtbevölkerung.
Auch diese elitäre Gruppe unterstützt jedoch in großen Teilen das russische Regime (wenn auch die Werte niedriger liegen als im Bevölkerungsdurchschnitt). Die Mehrheit von Lesern unabhängiger Medien befürwortet die Krim-Annexion, misst der Geschichte um den Tod der Pskower Fallschirmjäger keine große Bedeutung bei und freut sich, wenn von einem Schiff im Kaspischen Meer aus russische Raketen auf syrische Ziele geschossen werden.
Diese Mediennutzer sollten besser als alle anderen Bescheid wissen, deshalb lassen sich ihre Ansichten nicht etwa damit erklären, dass sie zu wenig informiert seien, der offiziellen Propaganda blind vertrauten oder Geschichten über „gekreuzigte Jungen“ und „missbrauchte Mädchen“ glauben würden. Hier braucht es eine andere Erklärung.
Untersuchungen zur Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich der Vorkommnisse in der Ukraine oder in Syrien zeigen, dass die Zustimmung zur russischen Ukraine-Politik maßgeblich mit einer besonderen Sicht auf das Geschehen zusammenhängt.
RUSSLAND IST DAS GUTE, SEINE GEGNER SIND DAS BÖSE
Die russische Propaganda zeichnet ein ziemlich primitives Bild, wonach Russland ausschließlich auf der Seite des Guten, des Friedens und der Ordnung steht, alle seine Gegner dagegen das Böse, Chaos und Gewalt verkörpern. Eine solche Auffassung des Geschehens gibt dem russischen Durchschnittsbürger ein Gefühl des Auserwähltseins. Gleichzeitig erscheint die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen als Beweis der wiedererwachenden Größe des eigenen Landes.
Wie Teilnehmer aus den Fokusgruppen bei Diskussionen in soziologischen Untersuchungen meinen, „zeigt Russland die Zähne“, „zwingt es andere dazu, die Rechnung nicht ohne Russland zu machen“ und „ihm den nötigen Respekt zu erweisen“ und bringt anderen bei, wie man den internationalen Terrorismus bekämpft. Das erzeugt Befriedigung und vermittelt das Gefühl, bedeutend zu sein. Das Gefühl, am Wirken der Großmacht beteiligt zu sein, ist dem aufgeklärten russischen Publikum also genau so lieb und teuer wie dem russischen Durchschnittsbürger.
Demgegenüber ist das Russlandbild, das unabhängige Medien zeichnen, weit weniger attraktiv: Hier wird Russland als Aggressor, Erpresser, Bremsklotz dargestellt. Weder Ruhm noch Respekt kann man hier ernten. Da ist es viel angenehmer, gegenüber all diesen unangenehmen Dingen die Augen zu verschließen und einfach die offizielle Version des Geschehens zu übernehmen.
Nach wie vor ist für die Russen also das staatliche Fernsehen die wichtigste Nachrichtenquelle. Seine Bedeutung hat in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen, obwohl die Zahl der Internetnutzer im Verhältnis gestiegen ist. Unabhängige Qualitätsmedien sind nicht einmal im Internet die wichtigsten Nachrichtenvermittler. Die Frage, wie groß das Vertrauen der Russen ins Fernsehen ist, ist gar nicht entscheidend – das Bild, das es dem Großteil der Bevölkerung vermittelt, bleibt alternativlos.
Aber sogar die bestinformierten Bürger, die in erster Linie unabhängige Medien nutzen und Zugang zu höchst detaillierten und objektiven Informationen haben, hängen mehrheitlich der offiziellen Darstellung an.
Sogar bei den aufgeklärtesten Bürgern wird eine kritische Rezeption der Wirklichkeit durch Großmachtsambitionen blockiert. Es ist einfach zu betrügen – sowohl den, der keine Ahnung hat, als auch den, der sich selbst betrügen will.