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Internat

Rund 177.000 Menschen in Russland leben in geschlossenen psycho-neurologischen Einrichtungen, im psichonewrologitscheski internat (психоневрологический интернат), kurz PNI, oder einfach: Internat. Die meisten von ihnen werden dort sterben. Jelena Kostjutschenko verbrachte mehrere Wochen in einem dieser Internate, dekoder bringt Auszüge aus ihrer Reportage in der Novaya Gazeta.

Quelle Novaya Gazeta

„Verrecken sollst du! Hauptsache, du verreckst! Verreck, du Sau!“
Das kommt aus dem Zimmer gegenüber von meinem. Aglaja – eine Alte mit einer Rabennase und dunklen Glubschaugen – wünscht allen den Tod. Das sind alle gewohnt. 
Meine Station ist Station 1. Sie ist riesig und zweigeteilt, in einen Frauen- und einen Männerflügel. In meinem leben 41 Frauen. 
Die Lichtschalter sind draußen vor dem Zimmer. Es gibt weder Türklinken noch Fenstergriffe. Und keine Steckdosen, nicht in diesem und nicht in anderen Zimmern. Es gibt nur die Steckdose für den Fernsehapparat, unter Aufsicht der Krankenschwester. Ohnehin hat niemand etwas aufzuladen: Auf 41 Frauen kommen lediglich drei Handys, und die bewahrt der Sozialarbeiter auf. Sie werden dienstags und freitags ausgegeben, nach dem Kaffeetrinken, für eine halbe Stunde.   
Es wird früh aufgestanden – um sieben sind schon alle auf den Beinen. Ich würde gern rauchen. An der Wand hängt der Rauchplan: 9:30, 13:30, 16:30. Pro Tag kriegt man fünf Zigaretten. Die Männer kriegen zehn, dafür haben die keine „Ausgabestelle“ – ein Zimmer mit Teewasser. 
Ich nähere mich dem vergitterten Balkon. Draußen steht schon Olessja, eine ehemalige Lehrerin für Russisch und Literatur. Sie hat Schizophrenie. Sie redet in Sprichwörtern und Redensarten.  
Ich ziehe mir eine Jacke an und trete hinaus. Es ist kalt. Die Frauen rauchen in ihren Hausmänteln. Zwickmühle-22: Rauchen ohne Oberbekleidung ist untersagt, die Oberbekleidung befindet sich jedoch hinter Schloss und Riegel und wird nur nach Plan ausgehändigt. Oberbekleidung darf nicht im eigenen Zimmer aufbewahrt werden. Rauchen außerhalb des Rauchplans wird bestraft. Man riskiert einen ganzen Tag ohne Zigaretten, und das gilt nicht nur für die Übeltäterin, sondern für die ganze Station. 

Ich stecke mir eine von meinen Zigaretten an. Alle anderen rauchen LD – stinkende Kippen aus einer roten Packung. Nicht alle haben Zigaretten, ein paar Omas zappeln in der Hoffnung, dass sie mal ziehen dürfen. Sie haben ihre schon aufgeraucht, und einen Vorrat anzulegen, schafft hier keine. Die Omas werden ignoriert. Die Asche wird nicht abgeklopft, sondern mit den Fingern abgestreift.    
„Wir sind wie politische Häftlinge“, sagt Olessja. „Denn unsere Haftzeit ist lebenslänglich.“ 
Eine halbe Stunde vor dem Frühstück stellen sich alle vor die versperrte Tür. Warten. Eine kahlgeschorene Frau mit einem einzigen Zahn im Mund hockt sich hin und sieht zu Boden. Dann schaue ich mir die Leute endlich genau an. Nur Olessja hat lange Haare. Weil Olessja manchmal auf der Bühne steht und lange Haare schön sind und den Gästen des Heims gefallen. Ein paar kinnlange, ein paar Kurzhaarschnitte, der Rest, auch die Omas, kahlgeschoren.   

Die Frauen sehen mich genau an. ‚Was du für schöne Zähne hast. Was für schöne Zähne es gibt‘, sagt schließlich eine.

Nicht alle gehen in die Kantine. Acht Personen frühstücken auf der Station. Die Bettlägerigen, die Blinde und jene, die wegen Rabiatheit das Recht darauf, in die Kantine zu gehen, eingebüßt haben. 
Die Türen gehen auf, und alles strömt die Treppe hinunter. Drei Frauen bleiben an der Wand stehen, um auf Männer aus dem Trakt gegenüber zu warten. Auch deren Türen öffnen sich, und die Männer strömen heraus. Die Paare küssen sich rasch und gehen gemeinsam bis zur Kantine. Eine kurze Zeit des Zusammenseins. So wie bei den Spaziergängen im Garten (wenn sie Glück haben und die Männer gleichzeitig mit den Frauen hinaus dürfen) und in der Diskothek – jeden Mittwoch.

Beziehungen nennt man hier „befreundet sein“.

Die Männer und Frauen schicken einander Tütchen und Briefchen. In den Tütchen ist Kaffee (eine absolute Kostbarkeit) oder Tee (die zweite Währung hier, wird zu einem Kurs von fünf Säckchen Tee für eine Zigarette gewechselt) und kleine Mitteilungen. Wer „befreundet“ ist, macht einander Essensgeschenke. 
Ich versuche, die Butter zu streichen, aber die Butter ist keine Butter. Ich esse die andere Brotscheibe und trinke etwas Braunes – ohne Aroma, aber warm und süß.

Der Brei riecht eindeutig nach Chlor. ‚So riechen Hygiene und Gesundheit‘, sagt der Oberarzt im Vorbeigehen. Offenbar nimmt er es mir übel, dass ich den Brei nicht esse.

Dieses PNI (Psychoneurologisches Internat) ist stolz auf seine Küche. Ich bekomme eine kleine Birne und beiße hinein. 

Als ich zurückkehre, kommen die Frauen der Reihe nach in mein Zimmer und legen mir Birnen auf den Tisch. Das ist eine Art, Freundschaft zu schließen. Sie wollen mit mir befreundet sein. Ich gehöre zur Außenwelt, ich habe Zigaretten und ein Handy.  

Die Krankenschwester teilt die Tabletten aus. Die Frauen bilden eine Schlange. Sperren die Münder auf wie junge Krähen. Wenn man dabei erwischt wird, dass man die Tablette nicht schluckt, bekommt man sie das nächste Mal in Wasser aufgelöst. Weigert man sich, die Lösung zu trinken, kriegt man Spritzen. Wenn man sich dagegen wehrt, kommt man auf die K. oder I. – in die Klapse. 

Eine beleibte Frau geht an der Schlange vorbei und stellt sich ganz vorne hin. Sie heißt Nastja. Sie ist fröhlich und stark – die Chefin der Station. Sie hat die Fernbedienung vom Fernsehapparat. Den Sender wechseln kann nur sie und der, dem sie die Erlaubnis erteilt.

Sie verwendet nie ihr eigenes Shampoo, sondern nimmt es einfach von einer anderen, wie es ihr gerade gefällt. Vor der Neujahrsfeier hat sie den Schwächsten die Bonbons weggenommen und bei allen, die wollten, gegen Zigaretten eingetauscht. Dafür ist sie der Verwaltung gegenüber loyal, und wenn jemand überwältigt und festgehalten werden muss, macht das Nastja, Nastja ist stark. Während meiner Anwesenheit müssen die Pflegerinnen selber die Böden wischen, statt, wie üblich, einer Bewohnerin eine Zigarette dafür zu zahlen. Eine Zigarette für einen geschrubbten Flur und saubere Klos.   
Alleinsein gibt es nicht. In jedem Zimmer schlafen drei oder vier Personen. In der Toilette sind zwei Kabinen, wo immer irgendjemand sitzt. Die Klotüren haben Riegel, aber niemand schließt ab. „Wir sind es gewohnt.“

Die Frauen warten nervös auf ihre Zigaretten. „Die haben uns vergessen, einfach vergessen.“ Endlich kommt die Krankenschwester, die die Pflegedienstleitung innehat. Die Frauen umringen sie. Sie gibt jeder zwei Zigaretten in die zitternden ausgestreckten Hände. 

Endlich dürfen wir aus dem Haus hinaus. Ob wir spazieren gehen? Das entscheidet die Oberschwester. Die Oberschwester mag keinen Niederschlag, kann nasse Schuhe und Jacken nicht leiden. Am Morgen hat es geregnet, aber auch schon wieder aufgehört, nur, was ist mit den Pfützen? Was sagt die Oberschwester zu den Pfützen?
Wir gehen spazieren! Mit den Männern!

In der Garderobe wird gedrängelt. Jacken gibt es genauso viele wie Frauen, nur sind nicht alle gleich gut: Hier ist der Reißverschluss kaputt, da fehlen die Knöpfe. In großer Größe gibt es nur eine Jacke, aber groß sind drei der Frauen. Schließlich reißt eine die Jacke an sich und geht weg, die anderen werfen sich Regenhäute über und hoffen, dass die Krankenschwester das nicht merkt und sie hinauslässt. Auch Mützen gibt es nicht genug, und manche wickeln sich Kopftücher um. 

Ein verschließbarer Knauf öffnet die Tür zur Treppe. Die Treppe führt in den „Garten“, einen kleinen Auslaufplatz zwischen den einzelnen Gebäuden und einer Mauer. Der Ausgang aus dem Hof ist vergittert und abgesperrt. Zwei Lauben, eine davon zum Rauchen, und acht Birken. 124 Schritte im Umfang. 

Manche beginnen, im Kreis zu gehen.

Wir setzen uns in die Raucherlaube – wir sind reich. Aus dem anderen Trakt kommen die Männer heraus. Shenja ist dringeblieben, und Olessja schäumt vor Wut. Sie wendet sich an Jura:
„Sag ihm, ich verlasse ihn. Kaffee hab ich ihm gegeben! Und den trinkt er jetzt mit seinen Kumpels, oder was? Will er mich auf die Palme bringen? Er könnte doch mal raus und Luft schnappen. Ich persönlich hab die Nase voll davon, die Welt durch ein Gitter hindurch zu sehen. Was glaubt er denn – dass ich ihn um Kippen anschnorre? Hab ich doch selber! Bei Zigaretten denkt er nur an sich selbst, die sind ihm mehr wert als ich.“ 

Jura nickt und küsst Marina. Marina hat bleigraue Haare bis zu den Schultern und rote Wangen. Stimmen haben ihr gesagt, dass sie gefüttert wird und Kinder über Kinder kriegen wird. Die Stimmen sagten, anstelle von Milch würden Joghurt und gezuckerte Kondensmilch aus ihren Brüsten fließen.   

Jura schiebt ihr die Hand zwischen die Beine. Marina sagt: „Lass uns lieber rauchen.“ Jura nickt und holt zwei Zigaretten heraus – eine für sie, eine für sich. Ich denke, dass die Männer hier genauso wie draußen mehr finanzielle Möglichkeiten haben. 
Jura fasst Marina an den Busen, Marina seufzt verlegen.
„Gerade, dass er dich nicht ***“, sagt Olessja. „Im Sommer wird er dich ausziehen und ***.“
Daneben versucht eine Alte, sich von einer anderen eine Zigarette zu leihen: „Ich geb sie dir zurück. Ich schwöre bei Jesus Christus, ich geb sie dir beim Abendessen, lass mich nicht hängen.“ 

Auf jeder Bank sitzt ein Pärchen. Wer keinen Platz hat, spaziert im Kreis herum. Man hat die Wahl: im Uhrzeigersinn spazieren oder gegen den Uhrzeigersinn. 

„Na gut, sag ihm doch nicht, dass ich ihn verlasse. Jur, hörst du? Sag ihm: Olessja ist beleidigt, weil du nicht herausgekommen bist.“
Von der Tür ein lautes Rufen – der Auslauf ist beendet. 50 Minuten Außenwelt sind vorüber. Wir steigen die Treppe hoch. Ein Mann küsst eine Frau, schon auf der Station, eine Sanitäterin stößt ihn weg, und er macht sich schnell davon.  

Im Fernsehen sieht man einen Verrückten, der einer Frau ein Messer an den Hals setzt, die Omas wiehern. Werbepause. Kaffeemaschinen, schöne Menschen, Schmuck. Nachrichten.

Die hinkende Katja (Ingenieurin in einem Radiowerk, Schizophrenie, seit 26 Jahren im Heim, Selbstmordversuch, aber nur die Beine gebrochen und für unmündig erklärt worden) fragt: „Lena, wenn Putin spricht, sieht er dann alle an? Mir kommt es vor, er sieht nur mich an. Ist das meine Krankheit? Oder ist das wirklich so?“

Mittagessen. Es gibt warme Suppe, Leber, Salat und Nudeln. Die Leute essen schnell, stopfen das Essen regelrecht in sich hinein. Dann verstehe ich den Grund für diese Eile: Unten gibt es ein gratis Telefon, davor eine kurze nervöse Schlange. Von hier aus kann man nur innerhalb der Stadt auf Festnetz anrufen. Sanitäter treiben die Insassen zurück auf die Station, bevor sie telefonieren können – es ist Zeit, die Türen abzusperren.

Wieder werden die Böden gewischt, die Pflegerin schwingt wütend ihren Schrubber. Auch das dritte Mal Wischen wird ihr Job sein, spätabends. 

Ljuba beeilt sich, Rosa zu füttern, aber aus einem anderen Zimmer ertönt ein klägliches „Ljubotschka“. Eine bettlägerige Greisin bittet sie, ihr die Pampers zu wechseln. 

‚Na warte, du Miststück, ich lass dich die Scheiße fressen‘, sagt Ljuba, während sie der Alten zwischen die Beine fasst. ‚Wo ist die nass? Da geht nicht mal was durch.‘

Für die Bettlägerigen sind drei Pampers pro Tag vorgesehen. „Wenn sie sehr nass sind, wechsle ich sie, oder wenn sie angeschissen sind. Und einmal abends, nach dem Essen. Sie sind stumpf, meistens sagen sie nichts. Man muss kontrollieren – morgens, mittags, abends. Aber die ist trocken, wieso lügt sie? Auch wenn sie eingepinkelt hat, kann sie ja noch mal reinmachen.“
„Tablettenausgabe!“, schreit eine auf dem Flur. Die Frauen stehen sofort auf und gehen hin. 

Nach den Tabletten bekommen die Frauen noch zwei Zigaretten und gehen auf den Balkon hinaus. Die morgendliche Nervosität ist weg, und sie überlassen den Alten ein paar Züge.

Sie reden über Selbstmorde und Selbstmordarten. Sich unter den Bedingungen des Heims auf Nummer sicher umzubringen, ist keine leichte Aufgabe. 
Aus der Toilette hört man Schreie. Eine Krankenschwester läuft hin, aber noch bevor sie da ist, kommt Nastja mit zufriedener Miene heraus, hinter ihr entwischt eine dünne Frau, die am Morgen von einer Pflegerin gejagt wurde. 
„Das war ja Paramonowa“, seufzt die Schwester. „Paramonowa! Ich werde dich gleich dem Arzt zeigen!“

„Hat geschrien wie am Spieß“, lachen die Alten. 

Nastja wird von Mädchen umringt und lacht. 
„Ich habe auf dem Klo gesessen. Und die hat angefangen, mit ihren Händen vor meiner Nase rumzufuchteln. Da hab ich sie eben ***! Sie ist mir schon am  Nachmittag auf die Pelle gerückt. Irgendwann bring ich dich um ey!“, sagt Nastja.   

‚Sie hat mir ins Gesicht geschlagen!‘, sagt Paramonowa zur Krankenschwester und weint.

„Du provozierst aber auch alle! Und kein Mensch schlägt dich“, sagt die Schwester, obwohl Nastja durch den ganzen Flur posaunt. 
„Die schwarzen Raben haben den weißen zerhackt!“, sagt Paramonowa und flattert mit den Armen. 
„Na, geh auf dein Zimmer!“, sagt die Schwester und geht weg.

Sie kehrt mit einer anderen Schwester zurück, die eine Spritze in der Hand hält. Paramonowa soll eine Spritze bekommen, weil sie „aufgeregt“ ist. Jede hat in ihrem Behandlungsblatt stehen, dass sie bei Aufregung eine Spritze bekommt. Bei Paramonowa ist es Aminasin//Chlorpromazin.  

„Das sind Vitamine“, sagt die Krankenschwester. 
„Ich will keine Spritze, ich gehe!“
„Auf ärztliche Anordnung“, sagt die Schwester. „Gegen deine Grunderkrankung.“ 
„Ich bin nicht krank!“, ruft Paramonowa und schlüpft aus dem Zimmer auf die Toilette.

„Ruf einen Sanitäter“, sagt die Schwester zur Pflegerin. Diese nickt. 
Der Sanitäter, ein kräftiger Kerl, stellt sich vor die Toilettentür und schielt zu mir rüber. „Ich kann ihr doch nicht auf die Toilette nach.“
„Sie wird ja nicht ewig drin bleiben. Warten wir“, sagt die Schwester mit der Spritze und stellt sich ebenfalls an die Wand. 
„Sie hat sich auch in der Kantine schlecht benommen. Und Nastja geschlagen“, sagt die zweite. 
Paramonowa kommt aus der Toilette heraus. Beäugt den Sanitäter und die Krankenschwestern. 

„Ich komm schon von selber. Ich komme schon“, sagt sie.
Sie kommt. Hinter ihr die Frau mit der Spritze. Der Sanitäter bleibt in der Tür stehen.
Als ich einen Blick in das Zimmer werfe, liegt Paramonowa zugedeckt da, das Gesicht zur Wand. Sie rührt sich nicht. 

Was ist Unmündigkeit 

Unmündigkeit ist die Unfähigkeit eines Staatsbürgers, durch seine Handlungen staatsbürgerliche Rechte zu erlangen und auszuüben, sowie staatsbürgerliche Pflichten auf sich zu nehmen und sie zu erfüllen. So steht es im Gesetz. Kinder sind unmündig. Ein erwachsener Mensch, der aufgrund einer psychischen Störung seine Handlungen nicht versteht oder nicht steuern kann, kann per Gericht entmündigt werden. Das Gericht gibt ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag und stimmt meist mit dessen Ergebnissen überein.  

Die Anwesenheit der betreffenden Person bei Gericht ist obligatorisch. Es reicht jedoch ein ärztliches Attest, dass die Person „aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht in der Lage ist, an der Verhandlung teilzunehmen“, und ihr Schicksal wird ohne ihr Beisein besiegelt. 

Für die entmündigte Person wird ein Vormund bestimmt. Sie verliert einige Rechte: ihr Recht, über Eigentum zu verfügen, ihr Wahlrecht, ihr Recht auf Eheschließung und die Erziehung von Kindern, ihr Recht, Anträge an Behörden zu stellen, Eigentum zu vererben, Geschäfte abzuschließen oder Kinder zu adoptieren. Ohne ihre Zustimmung kann ihre Ehe geschieden, können ihre Kinder zur Adoption freigegeben werden und ihre persönlichen Daten verarbeitet werden.   
Alle anderen Rechte bleiben bestehen. 
Was passiert mit einer entmündigten Person in einem PNI?

Das Heim ist zugleich Vormund und Dienstleister. Es ist sowohl Auftraggeber als auch Ausführender. Das eröffnet unglaubliche Möglichkeiten.

Beginnen wir beim Geld. Auf den persönlichen Konten der 404 Entmündigten, die hier im Heim leben, liegen 98.956.665 Rubel [etwa 1,13 Mio. Euro – dek]. Das sind ungefähr 245.000 [rund 2800 Euro – dek] pro Person. Entmündigte bekommen in der Regel eine Behindertenrente, und diese Summe wächst. 75 Prozent der Rente behält das Heim – für den „Kundenservice“. Die restlichen 25 Prozent darf das Heim zum Wohle ihres Mündels verwenden – mit Erlaubnis der Pflegschaftsbehörde.   

Warum hat Ljuba dann keine Batterien im Player? Warum müssen die Bewohnerinnen dann für eine Extrazigarette den Boden wischen?
Ganz einfach: Die tatsächlichen Bedürfnisse des Mündels bestimmt ja ebenso das Heim. Natürlich hieß es mir gegenüber, die Insassen müssten nur darum bitten, und der Sozialarbeiter stellt einen Antrag, woraufhin das Gewünschte innerhalb maximal eines Monats bei der jeweiligen Person eintreffe. Praktisch ist das unmöglich. Auf 436 Bewohner und Bewohnerinnen kommen sieben Sozialarbeiter. Auf manchen Stationen wurden sie seit Jahren nicht gesehen. Einen direkten Draht zu den Sozialarbeitern haben die Bewohner nicht. Die Bitte muss über eine Krankenschwester erfolgen, alles Weitere liegt in deren Ermessen.

Tatsächlich sind die Sozialarbeiter damit beschäftigt, sogenannte Lebensmittelpakete einzukaufen und zu verteilen. Mit Tee, Keksen, Zucker, Sprudel und Dauerwurst. Für privilegierte Bewohnerinnen – jene, die dem Personal helfen, auf den Stationen „Ordnung zu halten“ – darf es auch etwas anderes sein, etwa Schinken oder Käse. Etwas einfacher ist das alles in der Rehabilitationsabteilung. Dort sind die Sozialarbeiter physisch vor Ort, und mit Genehmigung der Stationsleitung kann man sie zum Beispiel darum bitten, einen Player zu kaufen.

Wie viel kosten diese Lebensmittelpakete? Kein Bewohner weiß das. Wie viel bleibt jedem von seiner Rente? Auch das weiß keiner. Wer nach seiner Rente fragt (wen soll man auf einer geschlossenen Station überhaupt fragen?), kann zu hören kriegen, „wir verlegen dich“. Es gibt immer einen Ort, an dem es schlimmer ist, es gibt die 3-A [die Station mit der höchsten Stufe der Sicherheitsverwahrung], es gibt die psychiatrischen Anstalten, das wissen alle. 
Aus demselben Grund haben die Leute auch keine Mobiltelefone. Die Juristen des Heims sehen keine Notwendigkeit, das Risiko einzugehen, mit einer entmündigten Person einen Handyvertrag abzuschließen. Ein Handy kann nur von Angehörigen geschenkt werden. 

Dasselbe gilt für Bargeld. Die Entmündigten bekommen nie welches zu Gesicht und geben nie welches aus. Auch das eine Zwickmühle: Möchte man seine Entmündigung aufheben, wird man vor Gericht auf jeden Fall gefragt, wie man Geld abhebt, wie man die Miete bezahlt, was ein Busticket kostet und wie viel der Milchpreis im Laden beträgt.    
Der Weg in die Außenwelt bleibt den Entmündigten verwehrt. Ich habe eine Frau getroffen, deren größter Traum es war, zum nächsten Markt zu fahren (drei Häuserblocks vom Heim entfernt), um Schuhe anzuprobieren und zu kaufen.  

Wer entmündigt ist, darf das Heim nicht mehr verlassen. Außer, es findet sich draußen ein anderer Vormund.

Nach Meinung des Oberarztes (er ist neu und gilt als progressiv) ist das Heim berechtigt, für seine Bewohner buchstäblich alles zu bestimmen. Weil ein Entmündigter seine Handlungen nicht lückenlos verantworten kann – der Vormund weiß es besser.   

In den Krankenakten aller hier Wohnenden gibt es ein wunderbares Beispiel für diesen Ansatz – eine Zustimmung zur Behandlung, unterschrieben von der Heimleitung. Die Direktion ist „informiert über die Art der psychiatrischen Störung, über die Ziele, Methoden und Dauer der Behandlung sowie über das Schmerzempfinden, mögliche Risiken, Nebenwirkungen und die zu erwartenden Ergebnisse“ und ist mit absolut allem einverstanden. Das ist gegen das Gesetz, das vorschreibt, dass die betreffende Person informiert werden muss – doch das passiert nicht. Die Leute brauchen nicht zu wissen, welche Tabletten sie kriegen und was ihnen gespritzt wird. Die Frauen werden nicht gefragt, ob sie eine Abtreibung wollen, und erfahren es nicht einmal, wenn eine Sterilisation vorgenommen wird. Viele kennen ihre Diagnosen nicht (und trauen sich nicht, danach zu fragen). Ich habe eine junge Frau getroffen, die mit 26 Jahren zu menstruieren aufgehört hat. Sie wurde untersucht, und etwas wurde in ihre Krankenakte eingetragen, aber erklärt wurde ihr nichts, und sie hatte Angst nachzufragen. Warum traut man sich nicht zu fragen? Eine Frage kann einem als Unzufriedenheit ausgelegt werden. Und jede Unzufriedenheit kann bzw. wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Verschlimmerung gewertet – und das heißt Spritze oder 3-A oder Psychiatrie, je nach Schweregrad der Handlung.   

Auch das ist eine Spielart der Hölle: die Unmöglichkeit, sich nicht wohl zu fühlen, die Unmöglichkeit, zornig zu werden oder zu weinen, die Unmöglichkeit, Gemeinheiten und Grausamkeiten beim Namen zu nennen. Will man sich selbst schützen, muss man lächeln oder zumindest „ausgeglichen“ bleiben – gleichgültig und ruhig, egal, was sie einem antun oder mit anderen machen. 

In ihren Interpretationen von Unmündigkeit nutzen die Mitarbeiter sämtliche Spielräume aus. Entmündigte können die Länge ihrer Haare nicht selbst bestimmen – so die Meinung der Heimfriseurin, einer netten Dame mit freundlichem Lächeln, die Frauen wie Männern fraglos die Köpfe rasiert. 

Entmündigte können nicht entscheiden, was sie in ihren Nachtkästchen aufbewahren – so die Meinung der Pflegerinnen. Entmündigte können den Boden wischen oder Waren abladen, können dafür aber kein Gehalt beziehen – so die Meinung der Heimjuristen. 
Entmündigte haben kein Recht, sich an den Direktor, ihren unmittelbaren Vormund, zu wenden – so die Meinung der Sozialarbeiter, die den Querulanten mit „Verlegung“ drohen.  
Nina Bashenowa wurde während eines Krankenhausaufenthalts entmündigt. Sie sagt: „Ein Mann hat mir erklärt, was Unmündigkeit ist. Mir wurde klar, dass ich alles verloren habe. Das Leben hat überhaupt keinen Sinn mehr. Ich habe keinerlei menschliche Rechte mehr.“

‚Das war ein Schlag. Angst stieg in mir hoch. Angst, nicht mehr als Mensch zu gelten. Dass jeder sagen kann: ‚Wer bist du denn? Niemand bist du.‘ So hab ich das verstanden. Und im Grunde stimmt das auch.‘

Rehabilitationsabteilung

Hier wohnen 49 Menschen, die großes Glück hatten. Das ist die freieste Abteilung des Heims. Die Tür wird nur nachts zugesperrt. Daher kann man die Heimbibliothek aufsuchen (eigenständig, ohne Begleitung, inklusive Computer), den Fitnessraum nutzen oder Tennis spielen. In der Abteilung gibt es eine Dusche, die allen offensteht, eine Küche, und man kann sich Geschirr zum Kochen ausleihen. Zigaretten bekommt man alle zwei Tage eine ganze Packung. In einem Aquarium leben drei lebendige Rotwangen-Schildkröten – die sind zwar bissig, aber egal. 
Der Abteilungsleiter ist kein Psychiater, sondern eine Psychologin, mit der man reden kann. Die Rehabilitation hat ihren Auslauf nicht in einem geschlossenen Hof mit 124 Schritten Umfang, sondern vor dem Haus. Das Gebäude ist lang. Man kann da richtig spazieren gehen.       
Die Abteilung ist gemischt, wenn auch Männer und Frauen getrennt schlafen. Man kann auf dem Sofa sitzen und kuscheln, man kann schmusen – bloß nicht vor den Augen der Krankenschwester –, man kann sogar „die Gelegenheit nutzen“. 

Die Kehrseite des Glücks: permanente, unbezahlte Arbeit. Die Mädels schrubben die Böden im ganzen Gebäude, arbeiten in der Wäscherei, die Jungs laden Kisten mit Lebensmitteln ab und schieben und waschen Rollstuhlfahrer. In der Rehabilitation können Mitarbeiter aller Stationen „Leute ausborgen“. Ein paar wenige mündige Arbeitsfähige sind zu einem Viertel angestellt, alle anderen arbeiten – besser gesagt: „durchlaufen eine Arbeitsrehabilitation“ – für das Recht, im Paradies zu sein. 

Die Rehabilitationsabteilung wurde auf Erlass des Gouverneurs 2001 erschaffen. Sie soll die Heimbewohner auf ihre Entlassung vorbereiten.
Seitdem (also in den letzten 20 Jahren) sind vier Personen „in die Freiheit“ gegangen. Eine begann zu trinken und starb, mit einem riss der Kontakt ab, die anderen beiden sind verheiratet und gehen arbeiten.   
Wanja lebt seit zwei Jahren im Heim. Er ist 26 Jahre alt.
„In Freiheit“ hat er eine Lehre als Schweißer abgeschlossen und gearbeitet.

Ich gebe seine Geschichte detailgetreu wieder. Die Grenze zwischen Freiheit und Heim ist extrem dünn. 

Als Wanja 15 war, starb seine Mama. Zwei Jahre später starb auch sein Vater – er hatte nach dem Tod seiner Frau zu trinken begonnen. Dann starb auch noch die Großmutter. So blieb Wanja allein zurück. Er besaß einen Anteil an der Wohnung, in der er wohnte, die Einzimmerwohnung seines Vaters und die Dreizimmerwohnung seiner Oma. Aber nicht lange. 
Denn Mamas Schwester trat auf den Plan – eine Maklerin. 

Die Tante bat ihn, seinen Anteil an der Wohnung ihr zu überschreiben – ihre Tochter wollte eine Hypothek aufnehmen: „familiäre Unterstützung“ war gefragt. Wanja willigte ein. Dann musste die Dreizimmerwohnung verkauft werden, um eine Sanierung der Einzimmerwohnung zu finanzieren. Auch da stimmte Wanja zu. Es folgte eine komplizierte Geschichte mit dem Kauf einer Datscha, dem Verkauf der Datscha, dem Verkauf der Einzimmerwohnung und dem Übergang der neuen Wohnung in den Besitz der Tante.   

Wanja bekam von diesem Immobilienhandel kaum etwas mit. Nach dem Tod seiner ganzen Familie war er „entgleist – rauchte Spice, nahm Drogen“. Er erinnert sich, dass er zugedröhnt getanzt und ein fremdes Auto zu Schrott gefahren hat. 
„Dann hab ich Harry Potter und die Kammer des Schreckens gesehen. Und dachte – womöglich gibt es den Basilisken wirklich? Ich hatte einen richtigen Horrortrip. Und landete auf der Psychiatrie. Von da an wurde ich immer wieder eingeliefert. Mal sah ich Vampire, mal sonst was. Mir wurde Schizophrenie diagnostiziert. In dem Krankenhaus gab es einen Arzt, mit dem sich die Tante unterhielt. Er riet ihr: ‚Entmündige ihn und steck ihn ins Heim.‘ Genau das machte sie.     
Am Anfang kam ich auf 2-D. Gleich auf den ersten Blick hatte ich genug gesehen. Ich sagte: ‚Was soll das, hol mich raus.‘ Aber sie so: ‚Ich kann das nicht verantworten. Womöglich stellst du was an, dann geh ich wegen dir in den Knast.‘ Manchmal besucht sie mich. Die Wohnung? Ist glaub ich vermietet. Wieso fragen Sie nach der Wohnung?“ 

Seit Wanja keine Drogen mehr nimmt, sind die Halluzinationen weg. Trotzdem nimmt er weiter Medikamente: Cyclodol, eine halbe Haloperidol und abends zwei Sonopax. Von den Präparaten blinzelt er oft, aber das ist er „schon gewohnt“. Die Stationsärzte zweifeln an Wanjas Diagnose. Haben es aber nicht eilig, die Schizophrenie zu revidieren und seine Mündigkeit wiederherzustellen – mit der Maklertante prozessiert es sich leichter, wenn Wanja entmündigt ist. 

Wanja geht mit Nina – das ist die, die im Prinzessinnenkleid gesungen hat, die durch ihre Entmündigung „alles verloren hat“. Sie ist schon ewig im Heim: 15 Jahre. In dieser Zeit hat sie ein Kind verloren, durch eine Abtreibung, zum Glück ohne Sterilisation, Ausschabung in einem frühen Stadium, „sie haben mich nicht aufgeschnitten“. Nina träumt davon, eines Tages mit Wanja in einem eigenen Haus zu wohnen. „In meinen Garten zu fahren und einfach da zu leben. An der frischen Luft, mit einem traditionellen Ofen im Haus. Sechs Ar Grund, eine eigene Banja. Seit 15 Jahren weiß ich nicht, wie es da draußen aussieht. Natürlich werde ich Männerhände brauchen. Wanja ist noch jung, der kann das noch nicht. Oder schaffst du das, Wanja?“ Auch hier träumt man von ganz normalen Dingen, denke ich bei mir.

Was verbindet die Menschen, die im PNI wohnen? Was verbindet Tjoma und Sweta, Wanja und Dima, die Frauen aus der Station Nr. 1, die Frauen, die keine Kinder mehr bekommen können? Nicht die Diagnosen sind es – die sind ganz verschieden, und offenbar stimmen nicht alle. 
Was sie verbindet, ist, dass ihre Angehörigen sich von ihnen abgewandt haben. Ihre sozialen Verbindungen sind abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit reduziert. 
Wenn die Menschlichkeit verschwindet, bleibt nur mehr der Staat.  

Mein Staat ist das PNI. Nicht die Impfung mit Sputnik-V, nicht die Olympiade, nicht die Raumfahrt. Mein Staat ist hier, ich sehe sein Gesicht.

Was denke ich nach zwei Wochen PNI?

Dass ich nur an der Oberfläche der Hölle gekratzt habe. 

Wir befanden uns unter speziellen Bedingungen im Heim. Hinter dem Zaun, dessen Vorderseite mit lustigen Rhomben verziert ist, galten für uns besondere Regeln. Gemäß den Vereinbarungen, die die Novaya Gazeta mit der Heimleitung getroffen hat, darf ich weder die Anstalt noch die Region nennen. Die Namen der Personen, die dort eingesperrt sind oder arbeiten, musste ich ändern.  

Dieses Heim wurde kürzlich 50 Jahre alt. Nach Meinung von Freiwilligen und des hiesigen Sozialministeriums ist dieses Internat weder schlecht noch gut. Es ist Durchschnitt. Normal. 

In den Psychoneurologischen Internaten Russlands leben derzeit 155.878 Menschen. In speziellen Kinderheimen wohnen 21.000 Kinder, denen das PNI blüht. Jeder 826. Russe verbringt und beendet sein Leben im Heim.  

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Seit Anfang des 20. Jahrhunderts waren es aber überwiegend die Kriegsversehrten, die insbesondere nach den beiden Weltkriegen ins Zentrum sozialstaatlicher Bemühungen rückten. Allerdings änderte sich der Umgang mit Behinderung in der Nachkriegszeit: Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Modernisierung, die zu sozialistischer Staatsideologie wurden, musste jeder am Aufbau einer Gesellschaft ohne „Probleme und Defekte“ teilnehmen. Wer nicht dazu beitrug, sollte auch keine Wohlfahrt empfangen.

Die vom Psychologen Lew Wygotzki (1886–1934) in den späten 1920er Jahren entwickelte Lehre der „Defektologie“, die Behinderung als soziale Falschverortung aufgrund physischer und psychischer Schädigungen verstand, wurde zur dominanten pädagogischen und sozialpolitischen Doktrin. Demnach sollten Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit in Anstalten separiert werden. Das führte zu einer Marginalisierung und Stigmatisierung dieser Menschen und ihrer Familien. Bis in die 1970er Jahre hinein, als sich die russische Allgemeinbezeichnung invalid (ursprünglich nur für Kriegsversehrte benutzt) etablierte, verortete man behinderte Menschen auch nur in der Kategorie der Arbeitsunfähigkeit.

Bei der Ausübung staatlicher Wohlfahrtsaufgaben für Menschen mit Behinderung waren damals, und sind heute noch immer, große, landesweite Verbände maßgeblich, die soziale Dienstleistungen erbringen und geschützte Arbeitsbereiche unterhalten. Als nichtstaatliche Organisationen (NGO) registriert, existieren sie in allen Regionen und Städten, haben es aber aufgrund ihrer finanziellen und institutionellen Abhängigkeit vom Staat schwer, an dessen Wohlfahrts- und Sozialpolitik Kritik zu üben.

Graswurzelinitiativen

Mit dem Ende der Sowjetunion brach staatliche soziale Sicherung, die vor allem über den Arbeitsplatz organisiert wurde, für weite Teile der Bevölkerung weg. Das entstandene äußerst prekäre Vakuum versuchten nichtstaatliche Graswurzelinitiativen, vor allem Selbsthilfegruppen, zu füllen, um elementare Bedürfnisse behinderter Menschen zu sichern. Akteure internationaler Entwicklungszusammenarbeit sorgten in den 1990er Jahren für Know-How und für dringend benötigte materielle sowie finanzielle Ressourcen. Diese NGO-Akteure aus Westeuropa und den USA erweiterten nachhaltig den Möglichkeitshorizont ihrer russischen Partner durch Erfahrungsreisen ins Ausland und eine Vielzahl von Seminaren und Publikationen.

Dieser internationale Austausch ermöglichte auch eine Fokusverschiebung unter russischen Menschen mit Behinderung und ihren Unterstützern hin zur Notwendigkeit gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe und der Realisierung von bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Rechten.

Das wurde Mitte der 1990er Jahre auch von der Politik aufgegriffen, in gesetzlichen Regelungen festgeschrieben und in staatlichen Förderprogrammen verbreitet. Russland hat sogar die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und formal ratifiziert. Allerdings stellt die tatsächliche Umsetzung ein großes und langwieriges Problem dar. Es fehlt nicht nur an formalen Realisierungsmechanismen und Anti-Diskriminierungsregeln auf lokaler Ebene, da föderale Gesetze oft lokalen normativen Akten widersprechen. Es fehlt oft auch an Verständnis und Einsicht von unkontrollierten Beamten, die vorhandenen Regelungen tatsächlich anzuwenden. Daher hat sich an der schwachen und marginalisierten sozial-ökonomischen Position von Menschen mit Behinderungen in Russland nur wenig geändert.

In- versus Exklusion

Praktisch in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen sind Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen mit hohen Barrieren gegen ihre Teilhabe konfrontiert. Wenn Behinderung während der Schwangerschaft festgestellt wird, raten Ärzte Schwangeren oft zu Abtreibungen oder nach der Geburt zur Abgabe des Kindes in staatliche Heime. Die Heime werden in der Gesellschaft immer noch als einzig adäquate Lösung für das „Problem“ Behinderung angesehen. Obwohl ein langsamer Abbau der Heime läuft, sind Fälle von Vernächlässigung, Gewalt und Freiheitsberaubung in den immer noch weitläufig existierenden Einrichtungen verbreitet.1

Besserung geht oft von nichtstaatlichen Initiativgruppen und Organisationen aus, die Tagesbetreuung für bedürftige Kinder oder ambulante Hilfen für Menschen mit Behinderungen aufbauen. Doch all diese Bemühungen sind nicht systematisch, sondern beschränkt auf lokale Initiativen. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung hängt davon ab, wo sie in Russland leben und ob es dort Engagierte gibt, die sich für ihre Belange einsetzen.

Marginalisierte gesellschaftliche Stellung

Wenn sich Eltern dafür entscheiden, ihr Kind in der Familie zu behalten, sehen sie sich oft größten Schwierigkeiten ausgesetzt. Integrative Kindergärten oder Schulen sind auch in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg eine Ausnahme. Auch der Arbeitsmarkt hält so gut wie keine Mechanismen zur Integration bereit, abgesehen von Strafzahlungen in moderater Höhe für die Nichteinhaltung von ohnehin geringen Behindertenquoten. Körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen können in der Regel nur in geschützten, aber auch sehr begrenzten Werkstätten in den großen Behindertenverbänden arbeiten. Es gibt zwar staatsunabhängige Programme zur speziellen Arbeitsplatzschulung in Zusammenarbeit mit großen, meist internationalen Firmen. Diese existieren jedoch wiederum nur in den großen Metropolen.

Zudem ist generell der öffentliche Raum nicht barrierefrei. Ganz im Gegenteil: Fahrstühle, Rampen, Blindenschrift, Tonsignale etc. fehlen in öffentlichen Verkehrsmitteln und Behörden. Erst als in der Vergangenheit Betroffene erfolgreich gerichtlich, wieder mit Hilfe von NGOs, gegen verwehrten Einstieg oder das Fehlen von Rollstuhleignung geklagt haben, sind nun die meisten Fluglinien und die Russische Eisenbahn auf besonderen Bedarf eingestellt.

Negative Einstellungen

Die marginalisierte gesellschaftliche Stellung von Menschen mit Behinderung geht einher mit den deutlich negativen Einstellungen vieler Russen ihnen gegenüber. In der Sowjetunion wurde die soziale Distanz zementiert durch die ideologisch bedingten Label des Defekts und der Leistungsunfähigkeit. Auch heute sind negative Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung immer noch weit verbreitet und behindern buchstäblich die gesellschaftliche Integration. Obwohl viele Russen dieser im Allgemeinen positiv gegenüber stehen, zeigen sich in konkreten sozialen Situationen Distanz und Abwehr.

Diese Situation zu ändern ist eines der wichtigsten Anliegen von Behindertenaktivisten im heutigen Russland. Dabei ist es im Vergleich zu ihren Partnern in anderen europäischen Ländern meist kontraproduktiv, sich auf den globalen Menschenrechtsdiskurs zu beziehen, da dieser institutionell als auch kulturell nur sehr schwach in der russischen Gesellschaft verankert ist. Auch Demonstrationen und Proteste im öffentlichen Raum scheinen kein guter Weg, gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Daher konzentrieren sich die Aktivitäten von NGOs besonders auf den kulturellen Bereich, zum Beispiel mit Filmfestivals und Fotografie, und auf den Wandel von zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Beispiel mit Freundschaftsprogrammen und journalistischen Arbeiten, um in aufklärerischer Manier den Umgang mit beeinträchtigten Menschen zu normalisieren.2

Doch Fortschritte in der sozialen Integration der behinderten Menschen hängen stark von den jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Umständen ab. Die aufklärerischen und inklusiven Aktivitäten russischer Behindertenaktivisten sind momentan äußerst eingeschränkt. Kritik an staatlicher Sozialpolitik und ihrer Integrationsleistung ist mit hohem Risiko für den Aktivitätsspielraum der Engagierten verbunden. Das hängt vor allem mit der restriktiven Beziehung des russischen Staates gegenüber Menschenrechtsorganisationen und gegenüber internationaler Kooperation im zivilgesellschaftlichen Bereich zusammen. Auch die NGOs, die keiner politischen Tätigkeit nachgehen, gehen das Risiko ein, aufgrund ausländischer Finanzierung und staatskritischen Aktivitäten zu sogenannten ausländischen Agenten erklärt zu werden.

Der staatliche Fokus auf die Förderung von nichtstaatlichen sozialen Dienstleistungen drückt Menschen mit Behinderung wieder in eine Situation, in der ihre physischen und geistigen Abweichungen im Vordergrund stehen, und nicht die Ausweitung ihrer Teilhabe am „normalen“ gesellschaftlichen Leben. Stichworte wie Selbstermächtigung und Selbstbestimmung sind daher nicht im gesellschaftlichen Diskurs über Behinderung zu finden. Einer tatsächlichen sozialen Integration steht eben auch das nicht-demokratische gesellschaftliche Regime in Russland entgegen, das kulturelle, politische, und soziale Ausgrenzungsmechanismen reproduziert.


1. So gibt es immer wieder Fälle, in denen behinderte Menschen an Betten gefesselt, geschlagen, eingesperrt oder sozial komplett ignoriert werden.
2. Vorbildlich scheint in diesem Zusammenhang das Medien-Projekt Takie dela, das einerseits die Leser auf soziale Probleme aufmerksam macht, andererseits Geld für die Förderung der gemeinnützigen Einrichtungen sammelt. Wie aber das Medium selbst, so gehört auch die Bereitschaft, sich finanziell und tatkräftig einzusetzen, zu einer gesellschaftlichen Nische.

Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

 

Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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