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„Geil für sie und geil für uns. Hier ist der wilde Westen“

Die von Russland besetzten Regionen der Ukraine sind ein rechtsfreier Raum: Die Okkupanten setzen systematisch auf Willkür und Tyrannei. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind keine einzelnen Auswüchse, sondern integrale Bestandteile des Besatzungsregimes. Das Ausmaß und die Systematik der Repressionen machen deutlich, warum die besetzten Gebiete der Ukraine auf dem weltweit letzten Platz des Freedom House Index stehen, sogar noch hinter Südsudan und Nordkorea. 

Nur wenige russische Verbrechen kommen ans Licht, viele Untaten werden wohl für immer unbestraft bleiben. Anastasia Korotkowa und Alexandra Illarionowa haben für Verstka mit minderjährigen Vergewaltigungsopfern gesprochen – und mit den Tätern: russischen Soldaten. 

Quelle Verstka

Die russisch okkupierten ukrainischen Gebiete der Oblast Saporishshja haben sich in den drei Jahren Krieg in eine Gegend verwandelt, die selbst russische Militärangehörige als „wilden Westen“ bezeichnen. Und entsprechend benehmen sie sich dort. Zum Beispiel machen sie aktiv Bekanntschaft mit minderjährigen ukrainischen Mädchen, fangen mit ihnen etwas an und bezahlen sie manchmal sogar für Sex. 

Die Namen der Minderjährigen und einiger Gesprächspartner sowie die Ortsnamen wurden auf Wunsch der Interviewten geändert. 

 

Illustration © Verstka

Ende Juni dieses Jahres fuhr die 14-jährige Alina aus Luhowe in der Oblast Saporishshja ins Nachbardorf Lisne, um bei ihrer Freundin zu übernachten. Dort wohnt ihre Schulfreundin, die 15-jährige Rita. Als Alina und Rita abends im Dorf spazieren gingen, hielt ein ziviles Auto mit Soldaten neben ihnen. Die zwei Männer luden die beiden Schülerinnen zu sich ein und boten ihnen an, etwas zu trinken. Die Mädchen willigten ein. Alina wurde von einem der Soldaten vergewaltigt. 

Eine Woche später besuchten die Teenager die Männer zu Hause; sie wollten sich rächen. Diesmal vergewaltigte derselbe Militärangehörige, der bereits Alina misshandelt hatte, ihre Freundin Rita. So berichteten es die Mädchen ihren Familien. 

„Wir leben in der Zone der militärischen Spezialoperation“ 

Die Familie von Alina lebt 15 Kilometer von der Frontlinie entfernt. „Wir leben jetzt in der SWO-Zone“, erzählt Alinas Mutter Maria gegenüber Verstka. „Jeden Tag sind wir unter Drohnenbeschuss, jeden einzelnen Tag.“ Die Frau erzieht ihre zwei Kinder allein. Alina hat gerade die 8. Klasse abgeschlossen, ihr großer Bruder beendet dieses Jahr die Schule und will dann auf die Militärakademie. Viel Geld hat die Familie nicht. Aber trotz der Beschüsse und harten Bedingungen will die Frau nicht weggehen. 

Für Ritas Familie sorgt der Vater allein (die Mutter ist vor ein paar Jahren an Krebs gestorben). Er lebt mit drei Kindern und arbeitet in einer Bäckerei. 

Alinas Mutter Maria sagt, Ritas Vater würde öfter trinken, aber mehrere Dorfbewohner dementierten das gegenüber den Journalisten. Seine älteste Tochter Ljuba fügt hinzu, dass er unter starkem Stress stehe wegen der Vergewaltigung und einer chronischen Krankheit seiner Tochter. 

„Was stellst du dich so an?“ 

Ritas Schwester Ljuba berichtet Verstka auch, dass die Schülerinnen die Soldaten gekannt und mit ihnen bereits vor dem Vorfall Kontakt gehabt hätten. Die Männer hätten sich das Vertrauen der beiden mit der Lüge erschlichen, sie wären Freunde von Alinas Mutter Maria. 

Zuerst hätten sie sich nur unterhalten und gechattet. Doch bereits beim ersten Treffen hätten sich die beiden Schülerinnen von den Militärangehörigen zum Trinken einladen lassen. Rita habe noch den Chatverlauf mit den beiden Männern. 

Alinas Mutter Maria sagt, dass nur Rita mit den beiden gechattet hätte. „Zuerst hat sie ihnen von Alinas Handy geschrieben, dann von ihrem eigenen“, behauptet sie. Und als sie von der Vergewaltigung erzählt, unterstreicht sie die Rolle der Freundin bei der Kontaktaufnahme mit den Soldaten: 

„Sie waren spazieren, da kommt das Auto auf diese Rita zugefahren, die Männer sagen, kommt, lasst uns ein bisschen rumfahren. Alina wollte nicht, aber Rita sagte: ‚Was stellst du dich so an?‘“, erzählt Maria. Alina habe sich überreden lassen, weil sie „keine Spielverderberin“ sein wollte. 

Mit Alina selbst konnte Verstka nicht sprechen. 

Eine Woche nach dem Vorfall gingen die Schülerinnen wieder zu den Soldaten. „Als ich hinging, wusste ich noch nicht wie, aber ich wollte mich rächen“, gibt Maria die Worte ihrer Tochter Alina wieder. Luba meint, Alina habe ein Video aufnehmen wollen, wie die Soldaten sich an sie ranmachen. Was sie mit diesem Video vorhatte, sagt sie nicht. Alinas Mutter merkt an, dass ihre Tochter vom Charakter nach ihr kommen würde. „Sie ist genauso aufbrausend, burschikos und steht immer für sich ein.“ 

Aber ein Video hat Alina an dem Abend nicht gemacht. Sie verbrachte einige Zeit in Gesellschaft der Soldaten und ging dann nach Hause. Rita ist laut Maria dageblieben. Was danach mit dem Mädchen passierte, hat ihre Freundin nicht gesehen. Dass Rita vergewaltigt wurde, berichtet Verstka ihre Schwester Ljuba. Die örtliche Polizei bestätigt die Angaben. 

Maria gibt Rita die Schuld für das Geschehene. Sie meint, Alina sei „ein Mädchen aus gutem Haus“ – aber unter den Einfluss ihrer Freundin „aus schlechtem Haus“ geraten. Später räumt die Frau allerdings ein, dass die eigentliche Initiatorin des Kontakts zu den Soldaten ein anderes Mädchen gewesen sein könnte – die damals 15-jährige Nastja aus Luhowe, eine gemeinsame Freundin von Alina und Rita. Ihren Namen erwähnt auch Verstkas Informant aus der Schule der Mädchen. 

„Als Zeichen, dass sie die Nacht mit ihm verbracht hat“ 

Alina und Rita haben ihren Eltern nicht gleich von der Vergewaltigung erzählt. Erst, als Alinas Mutter eine Woche später Hämatome an den Oberschenkeln ihrer Tochter aufgefallen sind, vertraute sie sich ihr an.  

„Ihre Fingerknöchel waren ganz aufgeschlagen, an den Beinen hatte sie Fingerabdrücke, richtige blaue Flecken“, erinnert sich Maria. Da gestand ihr die Tochter, dass ein Soldat sie vergewaltigt hatte. Daraufhin ging die Mutter zur Polizei und erstattete Anzeige. Als Rita davon hörte, ging auch sie mit ihrem Vater zur Polizei. 

Nachdem die Mädchen dort ausgesagt hatten, wurden beide zur medizinischen Untersuchung geschickt. Der Gerichtsmediziner bestätigte Maria, dass ihre Tochter zuvor nicht sexuell aktiv war und die Blutergüsse mit dem Zeitpunkt des Vorfalls übereinstimmten. Dennoch wollte der Arzt die Vergewaltigung nicht offiziell bestätigen, weil mehr als sieben Tage vergangen und keine Spuren des biologischen Materials des Täters mehr vorhanden seien. 

Maria bezweifelt, dass die Freundin ihrer Tochter ebenfalls Opfer eines Übergriffs geworden ist. Sie wisse von den Ermittlern, dass Rita im Chat mit den Soldaten geschrieben haben soll, dass sie freiwillig mit ihnen schlafen wolle. 

Als Argument für diese Version führt Maria außerdem an, dass das Mädchen eine Bankkarte der Tbank gehabt habe, die auf den Namen eines der Männer lief. Er soll sie ihr nach dem Vorfall gegeben haben. 

Ritas Schwester Ljuba bestätigte, dass der Mann ihr diese Karte tatsächlich gegeben habe: „Aber sie hat sie nicht angenommen. Der Mann hat sie ihr in die Tasche gesteckt, als Zeichen dafür, dass sie die Nacht mit ihm verbracht hat. Als Rita Anzeige erstattete, hat sie die Karte dem Ermittlungskomitee übergeben.“ 

Die Militärangehörigen aus Lisne wurden Anfang Juli verhaftet. 

„Ich habe ihnen klipp und klar gesagt, dass ich zwei Leichen sehen will. Eine gerechte Strafe dafür gibt es in Kriegszeiten nicht“, erklärt Alinas Mutter Maria. 

Die Militärpolizei bestand jedoch auf einem ordnungsgemäßen Verfahren. 

„Vorbildlicher Familienvater“ 

Bei den festgenommenen Militärangehörigen handelt es sich um zwei Offiziere mit jeweils 20 Dienstjahren – Soltan Gassanow und Dshanibek Dshanburschijew. 

Verstka hat in Datenlecks die Telefonnummern der beiden Männer entdeckt. In anderen Kontakten ist Gassanow als „Ältester“ oder „Fähnrich“ und Dshanburschijew als „Genosse Fähnrich“ gespeichert. 

Dshanibek Dshanburschijew ist 37 Jahre alt, wurde in Kasachstan geboren und lebt in der Oblast Amur. Social Media nutzt er fast nicht, weswegen es nur wenige öffentlich zugängliche Informationen über ihn gibt. Auf einem alten Profil seiner Frau findet man ein Familienfoto mit Tochter. Die ist jetzt 14.  

Soltan Gassanow ist 39 und stammt aus Dagestan. Einer seiner Kameraden äußerte Verstka gegenüber, dass Gassanow „ein guter Mensch und Kommandeur“ sei.  

Er war auf Social Media aktiv. Auf Instagram hat er Fotos mit seiner Frau, seiner halbwüchsigen Tochter und dem Sohn gepostet, sowie Sinnsprüche à la „Wer auf alles scheißt, ist unverwundbar“ oder „Viele Mädels verbringen Silvester ohne ihren Liebsten, weil die daheim mit ihren Frauen feiern“. Jetzt ist sein Profil gelöscht.  

Verstka hat mit Gassanow persönlich gesprochen. Er erzählt, dass Dshanburschijew und er mindestens zehn Tage mit Alina und Rita im Kontakt gewesen seien. Sie seien den beiden Schülerinnen zunächst auf der Straße begegnet und aufgrund ihres „provokativen Verhaltens“ davon ausgegangen, dass diese an einer Bekanntschaft interessiert seien.     

„Wir fuhren mit dem Auto, und sie liefen nicht einfach nur die Straße entlang, sondern drehten sich immer wieder zu uns um, guckten, kicherten, schubsten einander, irgendwie sehr verspielt“, sagt er. Er schrieb seine Telefonnummer auf einen Zettel, den er ihnen zum Fenster hinaus reichte. Alina nahm die Nummer und kontaktierte ihn angeblich noch am selben Abend.  

Gassanow bestätigt, dass er mit den beiden Mädchen Sex hatte – zuerst zweimal mit Alina, dann einmal mit Rita. Ihm zufolge gab es insgesamt drei Treffen. Dass er die Teenager vergewaltigt haben soll, verneint der Offizier.    

„Gegen eine Vergewaltigung spricht ja allein schon die Tatsache, dass sie mehrmals bei uns waren“, sagt er. Ihm zufolge behauptete Alina, sie sei in zwei Monaten 18 und Rita würde bald 17. Wobei er zugibt, dass sie die Mädchen nicht nach einem Ausweis gefragt haben.  

Die Spuren von Gewalt an Alinas Körper erklärt Gassanow mit einem „unbekannten Militärangehörigen“, der angeblich schon vor dem Treffen mit Gassanow versucht habe sie zu vergewaltigen.  

Außerdem habe er Alina manchmal Taschengeld gegeben, ungefähr 10.000 Rubel [100 Euro] zum Beispiel für die Maniküre. Dann habe auch Rita Andeutungen gemacht, dass sie Geschenke wolle, woraufhin er ihr seine Kreditkarte gegeben habe. 

Gassanow bereut, dass er „schwach geworden“ sei und sich auf Sex mit den Minderjährigen eingelassen habe. Allerdings bestätigt er, dass er freigelassen wurde, weil er sich bei den Ermittlungen kooperativ gezeigt habe.  

Dshanburschijew hat auf die Fragen der Journalisten nicht reagiert. 

Der Bräutigam 

„Tach“, schreibt Alina rund einen Monat nach diesen Ereignissen in einem regionalen Datingchat auf Telegram. Mädchen werden hier aktiv umworben, vor allem von Militärangehörigen. Manchmal kommen auch solche Angebote: 

„Hallo, Mädchen zum Daten gesucht, ich zahle für jede Macke :)“ 

„Guten Morgen, suche Mädchen für gelegentliche Treffen gegen Belohnung.“ 

„Denen vom Militär ist es egal, ob die Mädchen volljährig sind“, erklärt die 15-jähirge Alexandra den Journalisten. 

Lisa aus Mariupol erzählt, dass manche Vertragssoldaten ihre Identität zu verbergen versuchen. Sie vereinbaren ein Treffen, kommen in Zivil und laden dann auf ein Getränk in eine Mietwohnung ein. 

Maria, die unweit von Alina und Rita zur Schule geht, hat von solchen Beziehungen ebenfalls schon gehört. Eine 14- bis15-jährige Mitschülerin habe in den Sommerferien intensiven Kontakt zu einem Soldaten gehabt, traf sich manchmal mit ihm. Später stellte sich heraus, dass er ihr Nacktfotos abkaufte.  

„Viele gleichaltrige Mädchen haben Beziehungen mit Militärangehörigen, fast alle. Na ja, die meisten“, erzählt die 14-jährige Katja.        

Katja hat einen „Soldatenfreund“, der sie mit einem 28-jährigen Militärangehörigen namens Sergej bekanntmachte. „Ich habe meinen Serjosha gesehen und mir gedacht: So ein netter Junge. Und wir haben uns kennengelernt.“                   

Der Schülerin zufolge ist Sergej sehr fürsorglich, er besucht sie oft, wenn er frei hat, bringt ihr Süßigkeiten. Hin und wieder mietet er tageweise ein Haus oder eine Wohnung an, wo sie die Nacht zusammen verbringen. Im Gespräch mit Verstka Ende Juli 2025 erzählt Katja, dass sie bald zusammen auf Urlaub fahren werden, nach Berdjansk. Bezahlen wolle Sergej. 

Nach der neunten Klasse will sie ihn heiraten und in die Oblast Brjansk ziehen, die Erlaubnis der Mutter habe sie. Sie stellt sich sogar schon vor, wie sie Sergejs Kind aus früherer Ehe kennenlernen wird. Und fügt hinzu, dass er mit seiner Ex-Frau „ganz bestimmt nichts mehr am Hut hat“.  

„Schöne Stiefel sind für sie ein Ticket ins Leben“ 

Zwei Militärbedienstete aus dem besetzten Teil der ukrainischen Oblast Saporishshja geben Verstka gegenüber zu, dass sie von Beziehungen zwischen Soldaten und minderjährigen Mädchen wissen. „Mädchen gibt’s hier überall, ohne Männer, sie wollen Sex, wollen Geld“, sagt Pjotr, einer der beiden. „Schöne Stiefel sind für sie ein Ticket ins Leben. Viele heiraten dann auch, um hier rauszukommen.“ 

Pjotr hat an Checkpoints auch selbst Bekanntschaft mit 14- bis 16-jährigen Mädchen gemacht: „Flittchen aus der Gegend hier, Titten, Ärsche, alles dran. Sie brachten uns Zigaretten und Alk, wir quatschten.“ In Frontnähe seien viele Teenager auf sich allein gestellt, meint er – die Eltern seien entweder Alkoholiker oder arbeiten viel und scherten sich nicht um die Kinder. „Nach der Schule kommen sie zu uns, das mögen sie und wir auch. Zusammen rumhängen“, erklärt er.  

Ein Soldat mit Kampfnamen „Batman“ bestätigt Verstka gegenüber, dass die Mädchen in der Oblast Saporischschja „sehr kontaktfreudig“ seien: „Weil wir ja relativ viel Geld haben, das Alter ist da kein Thema.“ „Batman“ hat acht Monate lang eine Minderjährige gedatet. Als sie zusammen waren, war sie angeblich 16 und er 19. Irgendwann trennten sie sich, weil ihre „Ansprüche echt nicht bescheiden“ waren: Sie wollte von ihm ein iPhone 16 ProMax.  

Manche solche Beziehungen münden wie bei Katja in gemeinsamen Zukunftsplänen. Zum Beispiel habe ein Kamerad von Pjotr seine 16-jährige Freundin aus der Oblast Saporishshja zu sich nach Kurgan mitgenommen und wolle sie heiraten. Die beiden hätten sich in einem Chat kennengelernt. Ein Kamerad von „Batman“ habe ebenfalls in der Region Saporishshja eine Freundin gefunden. Als er verwundet wurde, fuhr er zur Behandlung weg, verließ danach die Armee und zog zu ihr ins Dorf. 

Auf die Frage von Verstka, wieso die Soldaten überhaupt Zeit haben, mit Einheimischen anzubändeln, erzählt Pjotr, er habe letzten Sommer drei Monate lang mit seiner Armeeeinheit im Hinterland gelagert und sei die Dörfer abgefahren. Die Soldaten hätten den Mädels Geld für Klamotten und ein schönes Leben zugesteckt.        

„Für uns ist es okay und sie freuen sich. Für die sind wir ja erste Klasse, erwachsene Männer, wissen alles, können alles. Solchen rennen sie hinterher.“ 

Dass er und seine Kameraden mit Minderjährigen schlafen, da findet er nichts bei. „Geil für sie und geil für uns. Was, Gesetz? Das hier ist der wilde Westen. Du kannst umgelegt werden oder in einen Keller verschleppt, aber nur wenn du Scheiße baust. Wenn du ein Weib fickst und sie dich anzeigt, passiert gar nichts. Einem Weib glaubt hier sowieso keiner.“     

 

„Wie es mir wirklich geht, wird keiner je erfahren!!!“ 

Ende Juli erscheint Soltan Gassanow nach drei Wochen Social-Media-Pause wieder auf Vkontakte, unter neuem Namen. Am 15. August fragt er in einem Chat von Sexarbeiterinnen in Rostow am Don: „Ist hier jemand aus Berdjansk? Oder kennt einen Berdjansker Telegram-Kanal?“  

Ungefähr zur gleichen Zeit fährt Alina mit ihrer Mutter zu einem Ermittler nach Berdjansk zur Vernehmung und für ein weiteres medizinisches Gerichtsgutachten. Sie erfährt, dass Rita ihre Aussage verändert hat und diese nun mit Gassanows und Dshanbaschijews Angaben übereinstimmt: Der Sex zwischen Gassanow und Alina habe freiwillig stattgefunden und sie habe gelogen, 17 zu sein. 

Maria zufolge hat Rita ihre Anzeige wegen Vergewaltigung zurückgezogen. Ritas Angehörige dementieren das. Weitere Anhörungen verweigern sie jedoch – sie hätten nicht das Geld, um es „zum Fenster rauszuwerfen“.  

 

Rita schreibt Ende August in sozialen Netzwerken: „Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, sage ich immer: Gut! Wie es mir wirklich geht, wird keiner je erfahren!!!“    

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Russisch-Orthodoxe Kirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

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Russland und der Kolonialismus

Russland – ein imperialer Staat mit kolonialem Erbe? Was vor der Krim-Annexion 2014 und dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 lediglich ein Thema für Historiker war, ist mittlerweile ein zentrales Motiv unserer Gegenwart. Nun wollen nicht mehr nur Wissenschaftler, sondern auch Aktivisten und Kunstschaffende Russlands Kolonialgeschichte aufdecken. Das Bedürfnis, ein für alle Mal zu klären, dass Russland eine koloniale Geschichte hat, ist von großer politischer Bedeutung, denn es würde die offensichtliche Handlungsoption aufzeigen: die Dekolonisierung und somit eine Rückgabe der ehemals eroberten Gebiete.  

Eine solche „Dekolonisierung“ ist zu einem zentralen Motiv des Widerstands gegen das russische Regime geworden. Für die russländische Opposition wird das Thema jedoch zunehmend zur Zerreißprobe: Ist dieser „koloniale“ Krieg – schließlich geht es darum, fremdes Territorium zu erobern und zu besiedeln – den heutigen Machthabern im Kreml anzulasten oder muss man tiefer graben?  

Solche Fragen sind keine bloße Gedankenspielerei. Sie sind auch politisch relevant: Am 25. Juli 2024 erklärte der Oberste Gerichtshof der Russischen Föderation die renommierte Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde zum Teil einer angeblichen „antirussischen separatistischen Bewegung“. Als erste deutsche Organisation wurde sie zur „extremistischen Organisation“ deklariert, nachdem das Heft „Bodenprobe“ der DGO-Zeitschrift Osteuropa erschienen ist. In dieser Ausgabe kommen nicht nur Historiker zu Wort, sondern auch Aktivisten, die aufzeigen, dass im Inneren Russlands ein anti-kolonialer Widerstand wächst – gegen den Krieg und gegen die Regierung. 

Angehörige ethnischer Minderheiten aus Russland demonstrieren in London gegen den Krieg und die Mobilisierung © Thomas Krych / Zuma Press Wire/ Imago

Die Geschichte des russischen Kolonialismus ist lang und umstritten. Manche Experten sehen dessen Beginn in der Eroberung der Gebiete hinter dem Uralgebirge. Dort lebten entlang des Flusses Ob’ indigene Völker wie die Nenzen, Chanten und Mansen, die als anerkannte Minderheiten bis heute den (Nord-)Westen Sibiriens besiedeln. Das damalige Khanat Sibir' – eine Art Fürstentum, über das die muslimisch geprägten Tataren walteten – verleibte sich das russische Reich unter Führung des Kosakenanführers Jermak im 16. Jahrhundert ein. Jermak sind in Russland nach wie vor einige Denkmäler gewidmet. 

Andere wiederum setzen den Anfang russischer Kolonisierung schon 500 Jahre früher an. Bereits im 11. Jahrhundert betrieb Nowgorod Pelzhandel mit der indigenen Bevölkerung entlang des Flusses Ob’. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte erwarben auch Kyjiw und die Hanse Pelze aus Sibirien. „Handel“ ist dabei beschönigend: Die Pelze waren Tributzahlungen an den russischen Großfürsten. Um sie durchzusetzen, töteten seine Söldner bei Widerstand auch Frauen und Kinder.1 

Den Höhepunkt des Kolonisationsprozesses erreichte Russland im 18. und 19. Jahrhundert, als es den Kaukasus, das Baltikum, Alaska, große Gebiete Finnlands, Polens, Bessarabiens, Zentralasiens und Gebiete im östlichen Teil Asiens unterwarf. Durch diese gewaltsamen Eroberungen wurde Sankt Petersburg zum Machtzentrum des – nach dem Mongolischen Reich – zweitgrößten zusammenhängenden Reiches der Weltgeschichte.  

Je nach Territorium und Epoche wandte Russland unterschiedliche koloniale Strategien an. Neben militärischer Unterwerfung und dem Installieren wirtschaftlicher Kontrolle und eigener Verwaltungsapparate bediente sich der Zar kultureller und geopolitischer Strategien. Russisch wurde langfristig in den kontrollierten Gebieten als Verwaltungs- und Bildungssprache eingeführt. Eine weitere Strategie bildete der Siedlerkolonialismus, wie ihn beispielsweise die Zarin Katharina die Große im 18. Jahrhundert praktizierte, indem sie Einwanderer aus Europa anwarb. Dem Ruf folgten insbesondere Siedler aus ihrer deutschen Heimat, die sich – angelockt von Begünstigungen wie der Befreiung vom Militärdienst oder Steuererleichterungen – am Schwarzen Meer oder an der Wolga niederließen. 

Eine „gute“, sowjetische Kolonisierung? 

Die von Russland eroberten Gebiete und die Menschen, die wirtschaftlich ausgebeutet wurden, lagen nicht in Übersee, sondern auf zwei zusammenhängenden Kontinenten: Europa und Asien. Zudem erstreckte sich die Kolonisierung über mehrere Jahrhunderte. Deshalb verstehen Historiker den russischen Kolonialismus heute noch eher in Analogie zum preußisch-deutschen Ost- und Grenzkolonialismus oder zum US-amerikanischen Frontier Colonialism. Im spät-imperialistischen Russland etablierte sich vom Konzept des Binnenkolonialismus ausgehend die „Selbstkolonisierung“ als Begriff – ein Euphemismus, der darauf abzielt, den für die Geschichtsschreibung wichtigen Unterschied zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten zu verwischen.2 Er ist eine Chiffre für die erklärte Andersartigkeit des russischen Kolonialismus im Versuch, die russische Kolonisierung von der westlichen abzugrenzen. 

Die Bolschewiken unter Lenin wie auch spätere Vertreter des Sowjetsozialismus verstanden die vom russischen Zarenreich erworbenen Gebiete als „normale“ Kolonien. Das galt auch für ukrainische Gebiete.3 Diese Haltung hatte politisches Kalkül: Sie sollte den von der Februarrevolution 1917 erzwungenen Regimewechsel legitimieren. 

Lenin wollte die Länder und Gebiete des zerfallenen russländischen Imperiums in seinem Sinne dekolonisieren. Die einst vom Zarenreich unterworfenen Völker sollten ihre Staatsgebiete selbständig verwalten können. Die Unabhängigkeit verlief jedoch nicht so, wie es sich die Vertreter der ehemaligen Kolonien vorgestellt hatten. Denn Lenin setzte voraus, dass die Länder sowjetisch werden. Vor allem unter Stalin traten dann Sowjetisierung, Industrialisierung, Deportationen, Zwangsarbeit und Zwangskollektivierung an die Stelle der kolonialen Strategien des Russischen Reiches. Um die Kolonisierung voranzutreiben, arbeiteten Wissenschaftler ab 1922 in einem eigens dafür gegründeten Institut: dem Staatlichen Kolonisierungs-Institut (Goskolonit), wo sie an Konzepten für Umsiedlungen und wirtschaftlicher Nutzbarmachung forschten.4  

Obwohl sie selbst koloniale Strategien anwendete, hatte sich die Sowjetunion antikolonialen Widerstand auf die Fahne geschrieben. Wie schon bei Lenin, wurde die westliche Kolonisierung als ausbeuterischer Kapitalismus (Kolonisatorstwo) einem gemeinsinn- und kulturschaffenden Sowjetsozialismus entgegengestellt. Global relevant wurde diese Haltung spätestens 1960, als die Sowjetunion den ersten Entwurf für die UN-Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker (Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples) vorlegte.  

Das Papier schuf die formalen Rahmenbedingungen für Dekolonisierung weltweit – nur nicht in der Sowjetunion. Dabei konnte sie von der sogenannten „Wasser-Regel“ der UN profitieren, da sie zu diesem Zeitpunkt keine Kolonien in Übersee besaß. Ohnehin hatte ihre Dekolonisierung aus sowjetisch-russischer Perspektive bereits in den Jahren nach 1917 stattgefunden, als die Kolonien und Protektorate des Russischen Zarenreiches zu autonomen Republiken, Oblasten und Kreisen umgewandelt worden seien – unabhängig davon, was das für die tatsächliche Souveränität der betroffenen Gebiete bedeutete.  

Die Besonderheiten des sowjetischen Kolonialismus bekamen Nordost-, Ostmittel- und Südosteuropa während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu spüren. Als Konsequenz aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und der Niederlage der Nationalsozialisten 1945 beanspruchte die Sowjetunion Regionen und ganze Länder für sich, die vormals zum Russischen Reich gehörten. Die sowjetische Rückeroberung dieser Länder bedeutete für die betroffenen Regionen zwar eine Befreiung vom Nationalsozialismus. Doch der Preis dafür war die Angliederung an die stalinistische Sowjetunion. So entstanden nicht nur neue Sowjetrepubliken, sondern auch Satellitenstaaten – sozialistische Regierungen in Osteuropa, die politisch um Moskau kreisten. Ideologisch wurden sie als „Brüdervölker“ in die Propaganda der Sowjetunion integriert – immer unter der impliziten Annahme, dass Russland in der Hierarchie der „größere Bruder“ blieb. 

Russische Dekolonialisierung – zweiter Versuch 

Der Zerfall der Sowjetunion 1989–1991 kündigte die über Jahrzehnte von Moskau diktierte „Völkerfreundschaft“ auf. Es folgte eine Umstrukturierung der Sprachpolitik – Russisch war nicht mehr überall Amtssprache und die Erinnerungspolitik der nun unabhängigen Staaten berief sich nicht mehr ausschließlich auf sowjetische Errungenschaften. 

Dass die ehemaligen Republiken die sowjetische Vergangenheit als eine historische Ungerechtigkeit wahrnahmen, zeigt sich nicht zuletzt am massenhaften Abriss sowjetischer Denkmale. So wurden 2009 im georgischen Kutaissi, 2022 im lettischen Riga und 2023 im bulgarischen Sofia sowjetische Kriegsdenkmale abgebaut oder gesprengt. Internationale Aufmerksamkeit erregte 2022 die Verlegung eines sowjetischen Panzers nahe der estnisch-russischen Grenzstadt Narwa. Die damalige Präsidentin Kaja Kallas schrieb dazu auf Twitter: „Als Symbole von Repressionen und sowjetischer Besatzung sind sie [die Denkmale – dek] zu einer Quelle zunehmender sozialer Spannungen geworden – in diesen Zeiten müssen wir die Gefahr für die öffentliche Ordnung so gering wie möglich halten.“ Ein Panzer sei „eine Mordwaffe, kein Erinnerungsobjekt. Und mit denselben Panzern werden gegenwärtig auf den Straßen der Ukraine Menschen getötet“, so Kallas.5  

Diese symbolischen Aktionen der Dekolonisierung und der Abgrenzung rufen in Russland das Trauma der 1990er Jahre auf. Der Zerfall der Sowjetunion ist gleichsam wunder Punkt und zentrales identitätsstiftendes Moment des heutigen Regimes. Putin beschwört das wirtschaftliche, politische und soziale Chaos der 1990er Jahre als Schreckensbild eines Russlands ohne seine Führung. Der Kreml geht deshalb entschieden gegen Bewegungen vor, die sich weitere Abspaltungen von der Russländischen Föderation auch nur vorstellen.  

Der Film, den alle sehen wollen: Dekolonisierung Russlands 

Dennoch sind diese Vorstellungen heute von zentraler Bedeutung. Das gilt vor allem für Mittel- und Osteuropa und alle, die sich zur Opposition gegen das russländische Regime zählen. Fast drei Jahre nach dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine schwindet die Hoffnung, dass die russische Bevölkerung Widerstand leisten wird. Als einzige Rettung erscheinen die im Zuge der jahrhundertelangen Geschichte der Kolonisierung und Sowjetisierung unterdrückten Völker der Russländischen Föderation. Der ukrainische Filmemacher Oleksiy Radynski machte als einer der ersten auf dieses Potential aufmerksam: Die indigene Bevölkerung und die circa 180 Ethnien haben Radynski zufolge das Potential, wenn nicht sogar die moralische Verantwortung, sich an ihre Geschichten der Unterdrückung zu erinnern, sich mit den Ukrainern zu solidarisieren und sich zu wehren.6 

Radynski präsentiert die Ukraine als ein Modell für die Dekolonisierung der Russländischen Föderation. Er sagt, die Ukrainer trügen eine historische Verantwortung, denn einst seien sie selbst Kolonisatoren gewesen. Damit meint er die Ausweitung des russischen Reiches von Kyjiw aus und wahrscheinlich auch den Einsatz der Kosaken bei der Kolonisierung Sibiriens. Deshalb sei die Ukraine nun in der Pflicht, sich an der Dekolonisierung Russlands zu beteiligen. So verstanden wäre der ersehnte Sieg der Ukraine im aktuellen Angriffskrieg ein erster Schritt auf diesem Weg.  

In Analogie dazu ruft er Baschkiren und Burjaten auf, sich gegen die kolonialen Ansprüche der russländischen Herrschaft zu wehren. Burjatien ist eine der ärmsten Republiken Russlands. In ihrer Armut ausgenutzt, werden viele Männer aus der Republik im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt.  

Konsequent zu Ende gedacht, würde der Zusammenschluss all jener russländischen „Anderen“ womöglich zum Zerfall Russlands führen. Ein solcher wäre radikal genug, um der langen Geschichte der russischen Kolonisierung ein Ende zu setzen. Das wäre ein Film, den mittlerweile viele sehen wollen. Aber selbst wenn dieser Film heute produziert würde, wäre er noch weit von der Realität entfernt. 


Yuri Slezkine, Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North, Cornell University Press, Ithaca/London, 1994, S. 16. 
Alexander Etkind, How Russia ‘colonized itself’. Internal Colonization in Russian Classical Historiography, in: International Journal for History, Culture and Modernity, 3 (2), 2015, S. 162. 
3  “(…)Украина окончательно превращается в 19 в. в русскую колонию, в которой русское правительство усиленно начинает искоренять всякие следы национальных особенностей, а украинский народ окончательно становится угнетенным, задавленным национальным гнетом и крепостным правом.“ Malaja Soveckaja Enciklopedia 9, hg. von N.L. Meščeryakov, Moskau 1931, S. 116. “Die Ukraine wird schließlich im 19. Jahrhundert zu einer russischen Kolonie, in der die russische Regierung beginnt, alle Spuren nationaler Eigenheiten auszumerzen, und das ukrainische Volk wird schließlich unterdrückt, von nationaler Unterdrückung und Leibeigenschaft erdrückt.” (trans. M.G.). 
4 Dies betraf u.a. folgende Länder mit der Präzisierung, welche Rohstoffe für die Kolonisierung relevant sind: Der Norden der RFSR (Wald, Fisch, Erdöl), Kaukasus (Textil, Erdöl, Bergbau), Turkestan (Erdöl, Bergbau), Kirgisien (Untergrund), Sibirien (Wald, Fisch, Pelz, Untergrund), Fernost (Pelz, Gold, Fisch, Erdöl), Ural (Bergbau), Wolgaregion (Ansiedlung der Industrie), Süd-Ost (Salz, Erdöl), Ukraine (Donbass), Zentralland (Kursk: Eisen). 
5 tagesspiegel.de: „Quelle zunehmender sozialer Spannungen“: Estlands Regierung will bis zu 400 sowjetische Denkmäler demontieren. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/estlands-regierung-will-bis-zu-400-sowjetische-denkmaler-demontieren-859255...
6 Oleksiy Radynski: The Case Against the Russian Federation, in: e-flux 125 (2022), URL: https://www.e-flux.com/journal/125/453868/the-case-against-the-russian-federation/ 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)