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Karrieren aus dem Nichts

Am 30. September 2022 verkündete Wladimir Putin die Angliederung von vier ukrainischen Gebieten in die Russische Föderation: Donezk, Luhansk, Saporishshja und Cherson. Obwohl Moskau zu keinem Zeitpunkt auch nur eines dieser Gebiete vollständig unter seiner Kontrolle hatte, wurden eilig Verwaltungsbehörden nach russischem Vorbild eingerichtet. Journalisten des russischen Portals Verstka haben recherchiert, wer in den Okkupationsorganen wichtige Ämter innehat und dazu die Biographien von 224 Verwaltungsbeamten des mittleren und höheren Dienstes analysiert.

Das Ergebnis: Etwa jeder zweite Leitungsposten in den regionalen Behörden ist von Beamten besetzt, die aus der Russischen Föderation kommen. Auf kommunaler Ebene überwiegen derweil Mitarbeiter, die vor der Besetzung bereits in den ukrainischen Behörden tätig waren. Ein beträchtlicher Teil der aus Russland zugezogenen Beamten wurde offenbar von der Aussicht angelockt, durch den Einsatz in den Besatzungsbehörden einer Strafverfolgung zu entkommen. Ukrainische Kollaborateure wurden dagegen mit Karriereversprechen geködert. 

Quelle Verstka
Einwohner der Region Saporishshja stehen Schlange, um in einem Zentrum für die Beantragung der russischen Staatsbürgerschaft Dokumente für den Erhalt des russischen Passes zu bekommen / Foto © RIA Novosti/SNA/imago-images

Vom Putin-Verspötter zum Beamten seiner Besatzung

Anfang Februar 2021 platzierte Igor Telegin aus Cherson auf dem Jobportal work.ua seine Bewerbung, in der er sich bereit erklärte, für 30.000 Hrywnja pro Monat (seinerzeit umgerechnet 1100 US-Dollar) als Drehbuchautor und Regisseur zu arbeiten. Als eine seiner besten Arbeiten nannte Telegin einen 2017 auf YouTube veröffentlichten Clip zu einem Lied von Alexander Ponomarjow, einem Schlagersänger mit dem Rang eines „Volkskünstlers der Ukraine“. Die erste Zeile lautet: „Wir werden uns nie von unserer Muttersprache lossagen.“ Die Videosequenz zeigt Antiterrorübungen von Spezialeinheiten der ukrainischen Streitkräfte und Schüler, die eine riesige ukrainische Flagge entrollen. Auch sind Kinder zu sehen, die in ukrainischer Nationaltracht einen ukrainischen Volkstanz aufführen. Telegin bezeichnete sich auch als Autor des Drehbuchs für eine Staffel der populären ukrainischen Serie Weschtschdok (dt. Sachbeweis), die von einem faschistischen Kollaborateur und Spion erzählt, der von Kyjiwer Milizionären gefangen wurde.

Vor Kriegsbeginn war Telegin ein intensiver Facebook-Nutzer, wobei er dezent die Sowjetunion lobte und ironische Bemerkungen über russische wie auch ukrainische Politiker schrieb. So postete er nach einer der Militärparaden in Kyjiw, auf der sowjetische Kriegstechnik zu sehen war, eine Kollage mit Wladimir Putin und Dimitri Medwedew in T-Shirts in den ukrainischen Nationalfarben – und mit einem Aufdruck „Putin ist ein Schwanz!“. Telegin hat bis zum Abschluss dieser Recherche weder seine Bewerbung noch die Kollage gelöscht.

Nach Beginn des großangelegten russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 wurde Telegin zu einer der markantesten Figuren der Besatzungsbehörden. Ende Mai letzten Jahres wurde er zum Chef der Abteilung für Innen- und Außenpolitik der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Cherson ernannt. Im September wurde er Abgeordneter der „gesetzgebenden Versammlung“ der Region. An Clips mit heldenhaften Kämpfern der ukrainischen Streitkräfte und eine Zusammenarbeit mit einem Kanal des ukrainischen Oligarchen Viktor Pintschuk erinnert er sich nicht. Stattdessen erzählt er, die lokale Bevölkerung habe „auf ihre Befreiung gewartet“, hätte aber „Angst, darüber zu sprechen“, weil sie Repressionen durch das „ukrainische Regime“ fürchte.

Vor dem Krieg war Telegin kein Ziel strafrechtlicher Verfolgung durch die ukrainischen Behörden. Die örtlichen Medien nannten ihn respektvoll einen „Prominenten der Stadt“. Auf eine Anfrage von Verstka hat Telegin nicht reagiert.

Er ist längst nicht der einzige Einheimische, der einen leitenden Posten in der Besatzungsverwaltung der Gebiete Cherson und Saporishshja übernahm. Wolodymyr Saldo war Bürgermeister von Cherson und ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada für die Region. Dann wurde er Chef der Besatzungsverwaltung von Cherson. Drei von fünf seiner wichtigsten Stellvertreter sind ebenfalls Einheimische. 

Früher gratulierten sie den ukrainischen Streitkräften, jetzt feiern sie russische Propaganda

Einige von ihnen haben wohl, genauso wie Telegin, erst kürzlich gemerkt, dass sie das ukrainische Regime nicht mögen, dafür aber das russische. So erklärte der stellvertretende Ministerpräsident des Gebiets Witali Buljuk noch im April 2022 öffentlich: „Cherson gehört zur Ukraine“. Schon wenige Wochen später erhielt er einen Posten in der Besatzungsverwaltung von Saldo. Ukrainische Medien erklären dieses Umsatteln damit, dass Buljuk, der vor dem Krieg stellvertretender Vorsitzender der Gebietsrada war, einer der größten Unternehmer von Skadowsk ist, einer Stadt im Süden des Gebietes Cherson, die von russischen Truppen in den ersten Tagen der Invasion erobert wurde. In dieser Stadt gelangten ebenfalls Leute aus Buljuks Dunstkreis an die Macht. Stellvertretende Bürgermeisterin wurde beispielsweise Ljudmila Zelep-Koslowa, lokalen Medien zufolge eine Verwandte von Buljuk. Im Dezember 2021 hatte sie in den sozialen Medien noch Gratulationen zum Tag der ukrainischen Streitkräfte gepostet. Jetzt sind auf ihren Seiten Lieder des russischen Propaganda-Bаrden Jaroslaw Dronow (Schaman) zu finden.

Das markanteste Beispiel von Kollaboration zur Sicherung des eigenen Besitzes ist das Oberhaupt des benachbarten Gebietes Saporishshja, Jewhen Balyzkyj, ein ehemaliger Abgeordneter der Werchowna Rada der Ukraine für den Oppositionellen Block. Vor dem Krieg hatte seine Familie zu den größten Unternehmern in Melitopol gezählt. Die Stadt wurde bereits Anfang März 2022 eingenommen und zur „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Saporishshja gemacht. Und dort gab es dann auch die erste hochrangige Kollaborateurin: Melitopols „Bürgermeisterin“ Galina Daniltschenko, die in den Unternehmen der Familie Balyzkyj für Finanzen und Buchhaltung zuständig war. Auch andere lokale Unternehmer widersetzten sich dem neuen Regime nicht. So erhielten Sergej Solotarjow aus Melitopol und Viktor Gretschka aus Berdjansk recht bald in ihrer Stadt jeweils einen Posten als Vizebürgermeister. Solotarjow ist inzwischen Vorsitzender des Stadtrates von Melitopol. 

Unter den Führungskräften gibt es übrigens auch „unfreiwillige Kollaborateure“: Der Landwirtschaftsminister des Gebietes Cherson, Pjotr Sbarowski, hatte vor dem Krieg ein Unternehmen zur Produktion von Windkraftanlagen geleitet. Bevor er seine Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern begann, hatte es Informationen gegeben, dass er angeblich zuerst gekidnappt und dann von russischen Sicherheitskräften wieder freigelassen worden sei. 

Früher Animateur im Bärenkostüm, heute verantwortlich für Kultur

Für viele bedeutet eine Zusammenarbeit mit den Russen einen beträchtlichen Karrieresprung. So war Tatjana Kusmitsch, die Vizegouverneurin von Cherson, vor dem Krieg in der alles andere als beneidenswerten Stellung einer Lehrerin, die von den ukrainischen Sicherheitsbehörden des Landesverrats zu Gunsten Russlands beschuldigt wurde. Jelena Terskich, die Bürgermeisterin von Henitschesk, der „provisorischen Hauptstadt“ des Gebietes Cherson, war zuvor eine gewöhnliche Angestellte in der Stadtverwaltung. Und der Kulturminister des Gebietes, Alexander Kusmenko, war zuvor Direktor einer Musikschule in Cherson.

Die Beamten der „neuen Verwaltungen“, die aus der Gegend kommen, sprechen allerdings nicht von Karrieresprung. Und sie können sehr genau von den Vorteilen „durch die Ankunft Russlands“ erzählen: „In der Ukraine schert sich niemand um die jungen Leute. Es wurden zwar Haushaltsmittel für sie bereitgestellt, doch die Gelder kamen nicht bei den Menschen an. Deswegen war es öfter so, dass die Verwaltung oder ein Mäzen einen Laden oder einen Spielplatz baute, und der dann nach ein paar Tagen von lokalen Jugendlichen zerstört wurde. Einfach, weil die nichts zu tun haben“, erinnert sich Bogdan Kasnawezki im Gespräch mit Verstka. Er kommt aus Cherson und arbeitet in der Kulturverwaltung des Gebietes. Vor dem Krieg war er Statist und Animateur, trat bei Unternehmens- und Familienfeiern im Bärenkostüm auf.

Nach der Eroberung von Henitschesk durch russische Truppen wurde Kasnawezki zunächst erster Stellvertreter des Chefs der Militär- und Zivilverwaltung der Stadt. Dann merkte er aber, „dass ihm die Kultur näher liegt“. Und er begann, im Auftrag der Kulturverwaltung des Gebiets, Veranstaltungen zu organisieren. „Jetzt sind die Kinder aktiv, es gibt viele Organisationen, die sie in ihre Tätigkeit einbinden. Im Gebiet wurden 360 Veranstaltungen durchgeführt, im Jugendbereich! Und das bringt Ergebnisse: Bei den Feiern zum 9. Mai kamen viele junge Leute. Die hat niemand gezwungen, das war freiwillig“, erzählt er. Auf die Frage von Verstka, wie das zu dem Umstand passe, dass Umfragen zufolge 64 Prozent der Bewohner des Gebiets Cherson für Ukrainisch-Unterricht in den Schulen sind, meint Kasnawezki, es gebe „tatsächlich nicht wenige Shduns hier“, doch die „können nichts als einem in die Suppe spucken“.

Flucht vor Strafverfahren

Ende Dezember 2021 durchsuchte der FSB das Bürgermeisteramt in Krasnodar sowie die privaten Räume des gerade vor einem Monat ernannten Stadtoberhauptes Andrej Alexejenko. Der wurde wegen des Verdachts auf Bestechung festgenommen. Der mutmaßliche Bestechungslohn: eine handgefertigte extravagante Jagdflinte im Wert von 1,5 Millionen Rubel [damals etwa 18.000 Euro – dek]. Der Pressedienst der regionalen Verwaltung des Strafermittlungskomitees veröffentlichte sogar ein 18-sekündiges Video, in dem der Ermittler Alexejenko den Haftbefehl verliest. Bald wurde bekannt, dass Einiges Russland die Partei-Mitgliedschaft des Bürgermeisters ausgesetzt hat. Alles sah nach einer typischen regionalen Korruptionsgeschichte aus. Im weiteren Verlauf hätte – so das übliche Szenario – eine Untersuchungshaft oder ein Hausarrest und dann eine tätige Reue des Bürgermeisters erfolgen müssen und es wären eine Menge Details darüber in Umlauf gekommen, wie er und seine Untergebenen sich bereichert haben.

Doch Alexejenko widerfuhr nichts dergleichen. Im Gegenteil: Das Video von seiner Festnahme wurde von den Sicherheitsbehörden in den Netzwerken zwei Tage nach seiner Veröffentlichung wieder gelöscht. Der Bürgermeister verschwand zwar aus der Öffentlichkeit, trat aber nicht umgehend zurück. Quellen von Verstka meinen, der Bürgermeister sei von Gouverneur Weniamin Kondratjew gerettet worden, zu dessen Team Alexejenko in den letzten Jahren gehörte. „Kondratjew hat für Alexejenko buchstäblich so etwas wie eine zweite Chance erbeten und sich für ihn gegenüber den Behörden in Moskau verbürgt“, behauptet ein Gesprächspartner von Verstka in der Verwaltung von Krasnodar, ohne genauer zu sagen, um welche Behörden es ging.

Und in der Tat eröffnete sich ihm schon bald eine zweite Chance: Am 19. August schied er offiziell aus dem Amt des Bürgermeisters von Krasnodar aus; bereits am nächsten Tag wurde er zum ersten stellvertretenden Leiter der Militär- und Zivilverwaltung des Gebietes Charkiw ernannt. Zu jener Zeit traten Führungspersonen der Besatzungsverwaltung wie Wladimir Saldo und Jewgeni Balizki vorwiegend in repräsentativer Funktion in Erscheinung. Für die tatsächliche Zusammenarbeit mit den russischen Behörden und die Verwaltung des besetzten Gebietes waren deren erste Stellvertreter zuständig. 

In Cherson war das zum Beispiel Sergej Jelissejew, ein ehemaliger FSBler und Vizegouverneur der Oblast Kaliningrad. Für Alexejenko hätte der Posten bedeutet, dass er alle Hebel in der Region Charkiw in die Hand bekommt. Die Streitkräfte der Ukraine eroberten jedoch schon einen Monat später das Gebiet nahezu vollständig zurück. Und Alexejenko blieb nichts, was er noch verwalten könnte. 

Alexejenko ist nicht der einzige, der in den „neuen Territorien“ einer Strafverfolgung in Russland entkommt. Der Chef des Bauministeriums der „Volksrepublik Donezk“, Nikolaj Ziganow, ein Verwaltungsbeamter aus der Oblast Leningrad, war einer derjenigen, der von Sankt Petersburg aus den Wiederaufbau von Mariupol leitete. Im „großen Russland“ liefen bereits vor Wirtschaftsgerichten verschiedener Instanzen Bankrottverfahren gegen seine Unternehmen für Immobilienentwicklung namens Premjer-Holding, das nicht beglichene Schulden hat und betrogene Investoren hinterlässt.

Im Gebiet Saporishshja wird die Behörde für Inneres vom ehemaligen stellvertretenden Leiter der Fahndungsabteilung der Moskauer Polizei, Oleg Koltunow, geleitet. Ukrainische Medien berichten, dass seine Versetzung in die besetzten Gebiete darauf zurückzuführen ist, dass Koltunow in Moskau bei ausgiebiger Bestechung erwischt wurde.

Ehemalige und aktive Verwaltungsbeamte, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, beneiden diese Leuten: „Als ich aus der Untersuchungshaft freikam, setzten sich sofort einige gute Bekannte mit mir in Verbindung die ‚hinter dem Streifen‘ [= „in der Ukraine“ – dek] arbeiten: ‘Komm her, mit deinem Profil kannst du hier arbeiten. Was den Lohn angeht – so einer ist mir in Russland noch nicht untergekommen. Und was die Stelle angeht – nach einer solchen kannst du hier [in Russland] ewig suchen. Ich hatte schon zugesagt, aber meine Familie hat mir abgeraten, schließlich fliegen dort Granaten und Autos gehen in die Luft“, klagt einer von ihnen gegenüber Verstka.

Eine Person aus dem Stab des Bevollmächtigten des Präsidenten im Zentralen Föderalbezirk bestätigte Verstka: „Ein Trip ‚hinter den Streifen‘ setzt deine gesamte Vergangenheit auf null. Sünden, Strafverfahren oder Fehlschläge in der Verwaltung sind dann mit einem Mal vergessen, aber deine Erfahrung behältst du. Das ist eine Chance, aus dem Nichts eine Karriere zu starten. Für einige kann es die einzige Möglichkeit sein, in der Spur zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.“

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Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel

Der Süden der Ukraine – ein halbmondförmiger Bogen zwischen den Hafenstädten Odessa und Mariupol sowie die nordöstlich davon gelegenen Gebiete Donezk und Luhansk – ist in Wladimir Putins verzerrtem Geschichtsbild russländische Erbmasse. Als er im April 2014 nach dem Ausbruch des Krieges im Osten der Ukraine plötzlich mit Bezug auf diese Gebiete von Noworossija (dt. Neurussland) zu reden begann, sagte der Begriff nur eingeweihten Spezialist:innen und Russlandhistoriker:innen etwas. Im Rückblick jedoch war diese Wortwahl ein erstes Indiz dafür, dass sich der Machthaber im Kreml auf einen historischen Feldzug begeben wollte. Worum handelt es sich dabei? Welche Geschichte hat diese Region? Wie kann diese Geschichte gelesen werden? Und welche Bedeutung kommt Noworossija als politischem Kampfbegriff zu? 

Deutsche Karte von Noworossija von 1855 / Illustration © Wikipedia, gemeinfrei

In seinem von der theoretischen Erörterung zum kriegstreibenden Pamphlet gewandelten Artikel Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer vom Juli 2021 bezeichnet der russische Präsident die Gebiete der heutigen Ukraine als „südwestliche Teile des russländischen Imperiums“ im 19. Jahrhundert. Sie hätten aus drei Teilen bestanden: Malorossija (dt. Kleinrussland), die Krim und Noworossija (dt. Neurussland).1 Malorossija ist eine historische, bis auf die byzantische Zeit zurückgehende Bezeichnung für die Gebiete links des Dnjepr sowie nach den Teilungen Polens auch der rechtsufrigen Ukraine. Noworossija dagegen ist ein Begriff mit vergleichsweise jüngerer Geschichte. Seit dem 18. Jahrhundert war das Gebiet von Noworossija ein sozial- und wirtschaftspolitisches Laboratorium für das russländische Imperium. Heute ist es eine Kampfvokabel, die von russischen Großmachtfantasien über das Territorium der souveränen Ukraine zeugt und dabei bewusst mit Verkürzungen und Halbwahrheiten operiert.

Ausbau der imperialen Macht

Die Gebiete der nördlichen Schwarzmeerküste wurden am Ende des 18. Jahrhunderts in gewaltsamen Eroberungszügen dem Osmanischen Reich entrissen. Mit dem Frieden von Küçuk-Kaynarca (1774) wurde das Schwarze Meer unter der Herrschaft von Katharina der Großen vom osmanischen Binnen- zum internationalen Gewässer und sein nördliches Ufer zum russländischen Einflussgebiet.2 Was die traditionelle russische Geschichtsschreibung oft euphemistisch als „Zum-Teil-Russlands-Werden“ oder „Aneignung“ beschreibt, war in Wirklichkeit der forcierte Aufbau einer militärischen Sicherungszone zur Festigung und zum Ausbau der eigenen imperialen Macht. Der Begriff Noworossija fügte sich in die imperiale Meistererzählung von der prometheischen Schaffenskraft der Zarin Katharina der Großen und ihres Statthalters, Grigori Potjomkin, ein: Demzufolge waren die Gebiete zwischen den Flüssen Terek im Nordkaukasus und Dnjestr – die westliche Grenze der heutigen Ukraine – weitgehend unbesiedelte Gebiete, die erst durch den Aufbau staatlicher Administration und durch die Gründung von Städten zu wirtschaftlichen und kulturellen Leuchttürmen werden konnten. 

Diese Perspektive verstellt jedoch den Blick darauf, dass die Gebiete der Südukraine auch schon lange vor der russischen Eroberung besiedelt waren. Auf diesem Territorium lebten verschiedene nomadische und sesshafte Gesellschaften, die mitunter bereits staatliche oder proto-staatliche Formationen ausprägten. Dazu gehörten die turkstämmigen Chasaren, das Krim-Khanat und das Osmanische Reich. Der nördliche Teil am Unterlauf des Dnjepr war das Gebiet der Saporoger Kosaken. Sie bildeten im 17. Jahrhundert eine weitgehend autonome Staatsformation und suchten sich in wechselnden Allianzen zwischen Osmanischem und Russländischem Reich zu behaupten. 1775 entschied Katharina die Große, die Saporoger Sitsch – so hieß diese Staatsformation – gewaltsam zu zerschlagen und beauftragte Grigori Potjomkin mit dieser Aufgabe. Der Kosaken-Anführer, Petro Kalnyschewski, wurde auf die Solowezki-Inseln im Weißen Meer deportiert, wo sich in der Klosterfestung ein Gefängnis für politische Gegner befand, und das Eigentum der Sitsch konfisziert. Noworossija hatte bis zur gewaltsamen Einverleibung durch das Russische Reich also verschiedene Geschichten: eine ukrainische, osmanische, krimtatarische oder chasarische Geschichte. Eine nicht minder wichtige – die russische – kam hinzu und eröffnete ein weiteres Kapitel, das sich über ein Jahrhundert erstreckte. 

Sozialpolitisches und ökonomisches Laboratorium Russlands

Mit der Eingliederung der eroberten Gebiete wurde das Gouvernement Noworossija ab 1796 während sechs Jahren zu einer Verwaltungseinheit des Reichs. Nach 1802 blieb es ein Bestandteil im Namen des Gouvernements Neurussland und Bessarabien. In dieser Zeit wandelte sich die nördliche Schwarzmeerküste vom militärischen Frontgebiet zum sozialpolitischen und ökonomischen Laboratorium Russlands. Noworossija wurde nun zur Verheißung, zum Modell einer möglichen Entwicklung des gesamten Imperiums. 
Noch Katharina die Große strebte gezielt die Ansiedlung von ausländischen Kolonisten an und gestand den lokalen Gouverneuren weitreichende Entscheidungsbefugnisse zu. Sie tolerierte, dass das Territorium zum Anziehungspunkt für entflohene Leibeigene wurde – auf dem Gebiet von Noworossija befanden sich wesentlich weniger Menschen in Leibeigenschaft als in den anderen Territorien des Reiches. Insbesondere die Hafenstädte, allen voran Odessa, erlebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Boom mit sprunghaftem Anstieg der Bevölkerungszahlen. Der florierende Handel zog Menschen unterschiedlicher Herkunft an. Die Bevölkerung von Noworossija war multiethnisch und in den Dörfern und Städten lebten Russen, Ukrainer, Griechen, Deutsche, Armenier, Italiener, Roma und viele andere Tür an Tür. Auf diese Weise entstanden hier weltoffene Orte des Austauschs, von dem das Imperium ökonomisch profitierte. In Noworossija wurde aus dem Getreide der Schwarzerdegebiete ein weltweit begehrtes Handelsgut, das die Staatskassen füllte und den Wohlstand des Reiches mehrte. Der Hof in Sankt Petersburg stimulierte diese einträgliche Einnahmequelle durch die Einrichtung von Freihafen-Systemen, die einen zollfreien Umschlag von Waren ermöglichten.3

Diesen ersten Boom unterbrach der Krimkrieg jedoch auf abrupte Art und Weise. Russland kämpfte dabei auch gegen England und Frankreich, die in den Krieg an der Seite des Osmanischen Reiches eingetreten waren. Nach der militärischen Katastrophe, die dieser Krieg für Russland war, initiierte Alexander II. nicht nur die Großen Reformen, sondern setzte auch eine stärkere Anbindung der Gebiete von Noworossija an das imperiale Zentrum durch – mit weniger Entscheidungsbefugnisssen vor Ort. Mit der Auflösung des Generalgouvernements 1874 verschwand auch der Begriff Noworossija aus der offiziellen politischen Sprache. Das Gebiet hatte viel von seiner ursprünglichen Eigenständigkeit verloren und die lokale Administration wurde noch stärker in die ministeriale Bürokratie des Reiches eingegliedert. 
Nach der Oktoberrevolution und dem Bürgerkrieg stärkten die sowjetischen Machthaber durch ihre vom Paradigma der korenisazija (dt. Einwurzelung) geprägte Nationalitätenpolitik die „Ukrainisierung“ der neugegründeten Ukrainischen SSR. Um dieses Staatsgebilde – wenigstens an der Oberfläche – vom zaristisch-imperialen Konstrukt abzuheben, verboten die Bolschewiki den Gebrauch der Bezeichnungen Noworossija und Malorossija für die Gebiete der neu gegründeten Ukrainischen SSR.

These einer „dreieinigen Nation“

Die Rede von Noworossija und Malorossija, die Putin in seinem Artikel und in mehreren Fernsehansprachen bemühte, verweist nur in Teilen auf diesen historischen Kontext. Vielmehr handelt es sich um eine klare historisch-politische Position, die im 19. Jahrhundert entstand: Damals reagierten einflussreiche konservative Befürworter des von Petersburg regierten Vielvölkerreichs auf den entstehenden ukrainischen Nationalismus, indem sie die These einer „dreieinigen Nation“ bestehend aus Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen propagierten.4 Staatlichkeit sei dieser These zufolge nur im Verbund denkbar, und die Abspaltung einer Bevölkerungsgruppe bedrohe Russland als Ganzes. Diese Vorstellung teilte auch der russische Philosoph Iwan Iljin, der Russland als „jungfräulichen Körper“ betrachtete. Wer zu diesem Körper gehöre, das sei nicht Sache von Individuen, sondern die russische Kultur bringe „brüderliche Verbundenheit“ überall dort, wo Russland herrsche. Die Idee einer eigenständigen Ukraine war Iljin zutiefst fremd, und so wundert es nicht, dass Putin den seit den 1990er Jahren wiederentdeckten Denker zum Hausphilosophen machte und sich in seinen Ansprachen auf ihn bezog.5 
Putin zufolge ist die Region um die Städte Charkiw (das nie Teil von Noworossija war), Luhansk, Donezk, Cherson, Mykolajiw und Odessa im 19. Jahrhundert nicht Teil der Ukraine gewesen, sondern erst in den 1920er Jahren von der sowjetischen Regierung an die Ukraine „gegeben“ worden. Russland habe diese Territorien aus verschiedenen Gründen „verloren“, die von Putin ungenannt bleiben.6 Mit dieser Aufzählung und der vermeintlich geschichtswissenschaftlich informierten Dreiteilung der Ukraine in die Gebiete Malorossija, Krim und Noworossija unterschlägt Putin nicht nur, dass auch andere Bezeichnungen für das historische Gebiet der Ukraine gepflegt wurden – so unterschied man zu bestimmten Zeiten beispielsweise auch zwischen linksufriger Malorossija und rechtsufriger Ukrajina, die Region um Charkiw war eine eigenständige Region namens Sloboda-Ukraine – sondern macht auch ganz konkret seinen Anspruch auf diese Region geltend. Dieser Gebrauch des Begriffs Noworossija reduziert die historische Komplexität dramatisch, indem er selektiv Episoden aus der Geschichte auswählt, aber von anderen schweigt. Diese verkürzte, ja mitunter verzerrte Sichtweise konstruiert eine Linearität der Geschichte, die eine russische Aggression gegen die Ukraine als Korrektur eines historischen Irrtums erscheinen lässt. Sie geht mutwillig über die heutige ukrainische Gesellschaft in ihrer politischen, sozialen und kulturellen Lebenswirklichkeit hinweg und mutet ihr die Vergangenheit als gegebenes Schicksal zu. 

Das Gespenst von der Wiederherstellung Noworossijas

Um die Sprengkraft seiner auf ein „russländisches Erbe“ verkürzten revisionistischen Behauptungen muss Putin 2014 gewusst haben. Die pro-russischen Separatisten in den Gebieten Donezk und Luhansk griffen diesen neuen Sprachduktus auf und benannten die aus ihren Gebieten gebildete Konföderation als Föderativen Staat Noworossija. Sie hofften auf weitere Anschlüsse durch orchestrierte separatistische Bewegungen und die darauf folgenden Referenden zur Loslösung von der Ukraine. Allerdings blieben diese namentlich in Charkiw und Odessa aus. Im Minsker Abkommen einigten sich die Konfliktparteien darauf, Noworossija nicht mehr als Bezeichnung eines politischen Subjekts zu verwenden, um den Konfliktherd auf die durch eine Demarkationslinie fixierten Separatistengebiete zu begrenzen. Das Scheitern des Projekts Noworossija im Jahr 2014 zeigte der politischen Inanspruchnahme der Geschichte seine Grenzen auf: Entscheidend war damals, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in den ehemaligen Gebieten von Noworossija an ihrer Zugehörigkeit zur Ukraine und an der Unabhängigkeit dieses Staates festhalten wollte und keine Lust hatte, sich von Putin belehren zu lassen. Und auch 2022 scheint sich die Bevölkerung von Odessa und Charkiw vehement gegen einen Anschluss an Russland zu wehren.

Das Gespenst von der Wiederherstellung Noworossijas verschwand aber nicht aus dem offiziellen politischen Diskurs. Putins Rede und der von ihm entfachte Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlichten erneut die toxische Kraft des Begriffs Noworossija, der die legitime Staatlichkeit der Ukraine in Frage stellt und es ermöglicht die Geschichte für die eigenen ideologischen Zwecke in Geiselhaft zu nehmen. 


1.Putin, Wladimir (12.07.2021): On the Historical Unity of Russians and Ukrainians; Baumann, Fabian (2001): Einseitiger Einheitswunsch – Putins neueste Geschichtslektion, in: RGOW, 9/2001, S. 3-5 
2.Kappeler, Andreas (2014): Kleine Geschichte der Ukraine, München, S. 106-112 
3.King, Charles (2011): Odessa: Genius and Death in a City of Dreams, New York, S. 39f./70 
4.Miller, Alexei (2003): The Ukrainian Question: The Russian Empire and Nationalism in the Nineteenth Century, Budapest; Hillis, Faith (2013): Children of Rus’: Right-Bank Ukraine and the Invention of a Russian Nation, Ithaca 
5.Snyder, Timothy (2018): The Road to Unfreedom: Russia, Europe, America, New York, S. 23 
6.Direct Line with Wladimir Putin vom 17.4.2014 
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