„Die Zukunft liegt in der Kultur, nicht im Kuhstall“ 

Das Volk gegen die Mächtigen: Proteste im August 2020 in Belarus / Foto © svaboda.org (RFE/RL) 

Die dörfliche Mentalität in Belarus, „dazu in ihrer schlimmsten Ausprägung“, ist für Siarhiej Dubaviec die Wurzel aller Unterdrückung und für ein Machtsystem wie jenes unter Lukaschenko. In einer neuen Ausgabe seiner Kolumne Brief an einen Freund, die er regelmäßig für das Onlineportal Svaboda schreibt, legt er diese Wurzeln frei und arbeitet heraus, was der belarussischen Gesellschaft helfen wird, den Teufelskreis der Unterjochung zu durchbrechen.  


Ich grüße dich, mein Freund! 

Du schreibst, dass du jetzt immer öfter die Frage hörst: Wann wird das alles enden? Ich glaube, darüber denken die Belarussen auf beiden Seiten der Grenze nach. Man muss nicht einmal erklären, dass es um die Repressionen, den Krieg, das Absurde im Fernsehen und den Niedergang in allen Lebensbereichen geht. All das muss enden. 

Weißt du, ich höre nicht auf zu staunen, wie weit es Litauen gebracht hat. Ich kann mich noch erinnern, wie in der Litauischen SSR die litauischen Sowjetpartisanen geehrt und die Parteitage der KPdSU (TSKP) gefeiert wurden, dass die Hauptstraße in Vilnius nach Lenin benannt war, im Strafgesetz ein Paragraph über antisowjetische Propaganda stand und der Kolchos auf Litauisch kolūkis hieß. (Interessant, dass unsere belarussischen Kolchosbauern nie die belarussische Übersetzung – kalhas – verwendeten, sondern immer das russische Wort, kolchos). Als sei es ein furchtbarer Zirkus gewesen, haben die Litauer all das vergessen und sind weitergegangen, voran. Wir aber stecken fest auf dem Weg in die Vergangenheit. Es ist eine Zeit, in der nicht mal die Illusion übrig ist, dass hinter uns eine Zukunft liegen könnte.  

Natürlich sind die Litauer sehr verschieden, aber eine Frage wie „Wann wird das alles enden?“ kommt hier niemandem in den Sinn. Sie haben sich die Welt geschaffen, in der sie leben wollen. Sie können sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre Welt enden könnte.  

Das Echo des einstigen Dorfes

In diesen dreißig Jahren hat das Dorf in Belarus aufgehört zu existieren, die Bauern als Klasse sind verschwunden, die Dorfmentalität hat sich in Luft aufgelöst. Alles, was in dieser Zeit an Wertarbeit auf der Scholle verrichtet wurde, war das Ergebnis von Stadtflüchtigen, gebildeter, unternehmerischer und nichtstaatlicher Leute. 

An der Macht sind hingegen noch immer Menschen mit dörflicher Mentalität, dazu in ihrer schlimmsten Ausprägung – ihnen gilt das Unglück des Nachbarn als Erfolg und als Leistung, ihm zu schaden, ihm auch nur irgendeine Widerwärtigkeit in den Hof zu werfen. Diese Mentalität ist es, die die Menschen der Macht vereint. Und genau darin unterscheiden sie sich von der Mehrheit der Belarussen, die modern denken, wirklich arbeiten und Erfolge erzielen, wie etwa die IT-Leute – wären da nicht die Mächtigen, die sie hindern, weil sie sowohl an sich als auch an alle anderen niedrige Erwartungen haben. 

Vielleicht kommt daher dieser „Extremismus“ – als Bild erhöhter Erwartungen, Fähigkeiten, Empathie und Glaube an die Nation. Die Mächtigen glauben nur an Russland – und auch das ist Ausdruck des „geschundenen Dorfbewohners“, bar jeder Würde und jedes Glaubens an sich und die Zukunft des Landes. Aus Perspektive der negativen Dorfmentalität, die zur Zeit der Kolchosen extrem für ihre Dummheit und Rückständigkeit diffamiert wurde, war 1994 wirklich ein Sieg, aber ihre Macht verwandelte sich sogleich in ein Phantom. Und dieses Phantom stützt sich nur auf die treuen Beamten, deren Selbstsicherheit auf Waffen beruht.

Die Phantommacht ist nur notwendig, um fiktive „Wahlen“ durchzuführen.

Bei der Allbelarussischen Volksversammlung kommen sie alle in einem großen Saal zusammen. Sie sind gleichermaßen selbstzufrieden und verängstigt. Auf einem Foto dieser Versammlung sieht man in Reinform die Psychologie des unterjochten Bauern, der vor seinem russischen Herrn dienert. Niemand von diesen Leuten ist ein Landbewohner, lebt wirklich im Dorf. Sie bewohnen teure Villen, obwohl sie keinerlei wirkliche Verdienste haben. Alle sind vom Präsidenten sofort mit einer Markierung versehen – dem öffentlichen Duzen. Ein solcher Mensch ist sofort schuldig, sofort Knecht. Ihre Zusammenkunft ist fern von der modernen Stadt, von Zivilisation, Fortschritt und Lebendigkeit. Anders gesagt, sie sind weder im Dorf noch in der Stadt. Sie sind ein Phantom, und deshalb bleiben sie so lange an der Macht. Diese Herrschaft ist dem Volk ein Phantomschmerz. Wie bekämpft man etwas, das es nicht gibt? 

Wenn diese Staatsbeamten einen Rüffel bekommen, weil die Kühe zu schmutzig sind und gewaschen werden müssen, muss man sich vorstellen, wie sie das angehen werden. Bei uns sind für alles die Beamten verantwortlich und nicht diejenigen, die tatsächlich etwas von der Sache verstehen. Die Beamten sind entweder zu wirklich nichts in der Lage oder sie sitzen auf dem falschen Posten. Man sagt, Karanik sei ein guter Chirurg gewesen, aber jetzt spiele er Basketball mit einem Kohlkopf. 

Die Phantommacht ist nur notwendig, um fiktive „Wahlen“ durchzuführen. Diese wiederum sollen den Saal der „allbelarussischen Volksversammlung“ füllen und nicht sonderlich auffallen. Jegliche Aktivität, Sinn oder Streben sind in diesem Konstrukt schon völlig verkümmert.   

Der chinesische Scheinwerfer 

„Woher kommt der Scheinwerfer?“, fragt ein Beamter den anderen. „Aus China.“ „Und das Schutzblech?“ „Aus China.“ Worüber sprechen sie? Beide haben überhaupt nichts mit der Produktion von Motorrädern zu tun. „Hier muss mal einer Ordnung machen!“, sagt ein Beamter zu einer Gruppe ebensolcher Bürohengste, die auf einem Kolchoshof inmitten von Güllepfützen stehen. Als würden diese überfütterten Eber in Goldrandbrille irgendwo irgendetwas in Ordnung bringen. „Keine Kultureinrichtungen mehr, alles Geld für Kuhställe!“, „Zum Teufel mit dem Bologna-Prozess, zum Teufel mit der Magistratur!“ So löst in einem Land, in dem normale belarussische Menschen leben, das tote Dorf auf höchstem Niveau alle Probleme.  

Vor einhundert Jahren beschrieb der Schriftsteller Maxim Harezki in seinem Roman Zwei Seelen eine damalige Dorfversammlung (im Original im Dialekt von Mahiljou): 

Da tritt ein zweiter junger Mann vor und sagt: «Genossen! Eine Schule muss unbedingt eröffnet werden. In drei Dörfern gibt es keine Schule in Alt- und Neuschkandsina und in Harelauka. Und unter uns, Genossen, gibt es nicht einen einzigen gebildeten Menschen, wir sind alle unwissend …» Drauf schreit der gescheiteste Vater trotzig: «Hört nicht auf ihn! Er hat nur gelernt, seine Zunge zu wetzen … Das Holz mag gratis sein, aber über die Steuern, wenn wir eine Schule aufmachen, hat er nichts gesagt.» Sofort fällt ein anderer Vater ein: «Die haben festgelegt, ein Klafter Holz soll vierzig Rubel kosten da versuche mal einer, hier zu leben …» Sogleich brüllt noch einer aus vollem Hals: «Ich hab keinen, den ich in die Schule schicken kann!» «Und was ist mit deinem Sohn und deiner Tochter?», fragt ein junger Mann. «Wer soll mir dann die Bastschuhe flechten?», brüllt dieser zurück. «Und du selbst?», fragt der junge Mann abermals. «Ich? In vierzig Jahren habe ich genug geflochten!» Und schon beschließen die Alten: «Wir brauchen keine Schule, wir haben keine nötig. Wozu die Kinder verwöhnen?» 

Mit einem Wort, kein Bedarf an Schulen, sie verwöhnen bloß die Kinder! Und erst recht keine Magistratur!  

Die Langlebigkeit dieser Macht rührt von ihrem Phantomcharakter her. Sie ist das, was gleichsam nicht ist. Denn es ist ja „kein Bedarf“. Sie ist wie ein abgehacktes Bein, das trotzdem schmerzt.  

Wann wird das alles enden? 

Der armselige Zustand des Landes und der Nation, aber auch die Inkompetenz der Machthaber zeugen davon, dass all das bereits zu Ende ist. Die Sicherheitsstrukturen, auf die sich das Machtphantom im Grunde nur noch stützt, können ihren Sieg begießen. Doch die Chimäre wird weiter in der Luft hängen, denn die Frage ist nicht, wann dies endet, sondern wann etwas anderes beginnt. 

Natürlich hat das viele Gründe: das verbrecherische Russland, die Passivität der Menschen, die Repressalien … Aber ich erinnere an die 1980er Jahre, als in belarussischen Kreisen darüber gar nicht gesprochen wurde, weil es auch so klar war. Man sprach über das Eigene. Wie bei Bacharevič: „Da sind sie, und da sind wir“. Auf der einen Seite die Zeitschrift Polititscheski sobessednik (dt. Politischer Gesprächspartner), auf der anderen die Swaboda (dt. Freiheit). Sie und wir. 

Niemanden wäre es damals in den Sinn gekommen, die eigenen Misserfolge damit zu erklären, dass die Macht oder der Geheimdienst einen hindert oder dass das Volk „rückständig“ sei. Wir sagten: Bei uns beginnt alles gerade erst zu wachsen, da kann es nicht anders sein. Irgendwann in den 1990er Jahren drangen diese Themen dann in die demokratischen Kreise durch – Passivität, ungenügende Entwicklung oder mangelnde Bereitschaft des Volkes (wir hatten also aufgehört, der entscheidende Faktor zu sein), wir verloren langsam das Gemeinschaftsgefühl und dadurch auch die gerade erst errungene Souveränität. 2020 konnte die Sache schließlich nicht vollendet werden, weil kein Souveränitätsgefühl mehr da war. 

Schau dir nur an, wie das Buchwesen aufgeblüht ist.

Wenn ich also darüber nachdenke, was jetzt beginnt, erinnere ich an die 1980er Jahre, als sich dieses Gefühl herausbildete, als es „sie“ und „uns“ gab, und wir immer noch mehr wollten. Auf den ersten Blick war das keine politische Bewegung, sondern Literatur, Musik, Theater, Folklore oder auch archäologische Ausgrabungen – alles, worum sich die Jugend scharte. Gleiches geschieht auch heute wieder. Schau dir nur an, wie das Buchwesen aufgeblüht ist. Ein kulturelles Produkt lebt nicht ohne einen Konsumenten und jeder, der etwa belarussische Bücher kauft und liest, schließt sich dem Team der Kulturschaffenden an. Viele kulturelle Projekte und Initiativen unterscheiden sich von den politischen darin, dass es dort keine Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten gibt (und nicht geben kann), weil dort das nationale Subjekt herangezogen, gezüchtet, gepäppelt wird. Im Vergleich zu den 1980ern ist zudem alles viel größer und weiter, man staunt über die Energie, die unter den eigenen Händen entsteht. Das ist „Bedarf“ in Reinform.  

Gestern erst schrieb mir [der belarussische Schriftsteller] Zmicer Bartosik beeindruckt: „Ich schaue Hamlet mit Mel Gibson auf der Seite Kinakipa. In belarussischer Synchronisation, gesprochen von Aleh Arbus. Wahnsinn. Wirklich cool.“ 

Ja, das sind wir. Aber sie … sie leben von Massenkeulung in der Landwirtschaft, von Menschen- und Zigarettenschmuggel nach Litauen, von ihrer neuen Residenz in Sotschi, dem neuen Gefängnis und allerlei anderer Barbarei, die für die Zukunft nur Verwüstung bringt. Auf unserer Seite steht als Reingewinn die Souveränität der Nation, die direkte Aktion für die Zukunft unserer Kinder. Die Zukunft liegt in der Kultur, nicht im Kuhstall.  

Fühl‘ dieses Morgen, das kommen wird. Sei nicht traurig.