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„Man hat das Gefühl, das Leben eines Menschen ist nichts wert“

Wenn Eltern in Russland, zumal in Kriegszeiten, nicht mehr wissen, was sie sonst für ihre Söhne tun sollen, dann wenden sie sich an die Soldatenmütter. Die Organisation mit zahlreichen Zweigstellen in ganz Russland, die es sich vor mehr als 30 Jahren zur Aufgabe gemacht hat, die Misshandlungen in der russischen Armee aufzudecken, ist später vor allem für ihre Hilfe in den beiden Tschetschenienkriegen bekannt geworden: um Söhne zu finden, die an die Front geschickt wurden und um Gefallene zu dokumentieren und den Verwandten Nachricht geben zu können.  

Schon Wochen vor dem großflächigen Angriff, den Wladimir Putin mit den russischen Streitkräften seit dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine führt, haben die Anfragen bei den Soldatenmüttern wieder zugenommen. 

Vor allem die Wehrdienstleistenden rückten dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil schnell die Vermutung aufkam, auch sie seien in die Ukraine geschickt worden: Schilderungen junger Rekruten legten schon Tage nach dem Einmarsch nahe, dass sie in der Ukraine in Gefangenschaft geraten waren. Videos kursierten davon im Netz, oft veröffentlicht vom ukrainischen Militär, außerdem auf dem Telegram-Kanal Ischi Swoich. Aber auch Eltern wandten sich mit Hinweisen an unabhängige russische Journalisten. 

Nachdem Präsident Putin zunächst geäußert hatte, Wehrpflichtige würden nicht eingesetzt, sondern nur Berufs- und Zeitsoldaten, so räumte das russische Verteidigungsministerium am 9. März das Gegenteil ein. Dabei versicherte die Militärführung, die Wehrpflichtigen seien, bis auf die Kriegsgefangenen, inzwischen wieder in Russland. Doch Transparenz ist kaum gegeben, auch mit Opferzahlen hält sich die russische Staatsführung bedeckt, spricht offiziell bislang lediglich von rund 500 getöteten Soldaten auf russischer Seite. US-Angaben und ukrainische Angaben gehen von mehreren tausend Toten bei den russischen Streitkräften aus. Wie viele es wirklich sind, ist unklar.

Die Leiterin der Petersburger Soldatenmütter, Oxana Paramonowa, spricht im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza darüber, wie sich ihre Arbeit vor dem Hintergrund des neuen Krieges gestaltet – über mütterliche Ohnmacht, einen Staat, der wenig preisgibt, und wie sie als Organisation auch selbst durch eine verschärfte Gesetzeslage in ihrer Arbeit beschnitten werden.

Source Meduza

Sascha Siwzowa: Wie hat sich die Arbeit der Soldatenmütter von Sankt Petersburg seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar verändert?

Oxana Paramonowa: Die Arbeit unserer Organisation haben wir [bereits] im Oktober letzten Jahres verändert – wir haben so gut wie jeden Rechtsbeistand für Armeeangehörige eingestellt und nur den Auskunftsdienst beibehalten. Allein die Zahl der Anfragen bei diesem Auskunftsdienst ist seit dem 24. Februar gestiegen. Und zwar deutlich.

Warum haben Sie das Format Ihrer Arbeit geändert?

Unsere Organisation hat 30 Jahre lang Ersuche entgegengenommen. Die Menschen wandten sich über verschiedene Kanäle an uns, meist persönlich. In den letzten Jahren gab es eine Hotline und Online-Beratungen. Unsere Anwälte haben sich um diese Anfragen gekümmert. Wir haben Treffen mit Kommandostäben und der Militärstaatsanwaltschaft organisiert. Die Grundlage für die Arbeit waren Informationen, die wir persönlich von den Menschen erhielten.

Im Oktober wurde der unglückselige FSB-Erlass verabschiedet, der das Sammeln jedweder Information über die Armee faktisch verbietet. Dadurch drohte den betreffenden Personen eine strafrechtliche Verfolgung, und wir waren gezwungen, diese Arbeit einzustellen.

Was hat sich seit diesem neuen Gesetz verändert? Sie haben aufgehört, Informationen zu sammeln und Rechtshilfe zu leisten?

Da wir jetzt keine Informationen mehr sammeln, können wir uns nur aus den Anfragen ein Bild von der allgemeinen Lage machen, aber wir können keinen aktiven Rechtsbeistand mehr leisten. Faktisch wurde uns die Möglichkeit genommen, im Namen der Organisation zu agieren, weil wir nicht schreiben können, dass uns irgendwer irgendwo irgendetwas erzählt hat. Wir brauchen konkrete Angaben, um jemanden als Organisation vertreten zu können. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir praktisch keine Daten mehr erheben – angefangen bei personenbezogen Daten bis hin zu medizinischen Auskünften, Angaben zu Straftaten und begonnenen Ermittlungen. Wir haben nicht mehr das Recht, solche Informationen zu sammeln.

Wie stark ist die Zahl der Anfragen seit Kriegsbeginn gestiegen?

Bis Oktober waren es viele Anfragen – um die zweitausend im Jahr. Dann gingen die Anfragen natürlich zurück, weil wir erklärt hatten, dass wir unser Arbeitsformat ändern und keine Rechtshilfe mehr anbieten können. Aber die Zahl der Anfragen, die wir seit dem 24. Februar erhalten, ist im Vergleich zu dem, was wir seit Oktober hatten, sprunghaft gestiegen. Im Oktober und November erreichten uns ein bis zwei Anrufe täglich. Jetzt sind es zwanzig.

Was möchten die Angehörigen der Wehrpflichtigen von Ihnen wissen?

Alle Fragen beziehen sich auf die Ereignisse seit dem 24. Februar. Uns rufen Eltern an, die meisten von ihnen bitten um Hilfe bei der Suche nach ihren Söhnen.

Was erzählen Ihnen die Eltern der Armeeangehörigen?

Wir sammeln praktisch keine Informationen, mit Ausnahme derer, die uns die Leute selbst geben. Je nach Fragestellung geben wir Orientierung, was man tun kann. Unter diesen Umständen fällt unsere Hilfe recht mager aus.

Aber an der Menge der Anrufe und daran, wie es den Menschen geht, sehen wir, dass sie nirgendwo sonst anrufen können. Sie finden unsere Nummer und melden sich. Manche sagen, dass sie in der Armee-Einheit angerufen haben, aber nicht durchgekommen sind oder zu hören bekamen: „Warten Sie, Sie werden informiert.“ Manche erzählen, dass sie versucht hätten, beim Verteidigungsministerium anzurufen. Aber auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums wurden seit dem 24. keine Informationen veröffentlicht, an wen sich Angehörige wenden können [das Verteidigungsministerium hat einen Tag nach dem Interview, am 9. März, eine Hotline eingerichtet – dek]. 

Wir geben den Leuten einfach Kontakte aus dem Verteidigungsministerium weiter, die wir im Laufe der Jahre gesammelt haben. Wir arbeiten ja ziemlich eng mit verschiedenen Abteilungen innerhalb des Verteidigungsministeriums und in den jeweiligen Bezirken zusammen. Wir geben ihnen die Kontakte, die wir haben, und empfehlen den Leuten, überall anzurufen, um Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen. Hauptsächlich geht es darum.

Was tun Sie noch, abgesehen von der Empfehlung, welche Behörden man kontaktieren soll?

Wir versuchen, die Eltern untereinander zu vernetzen. Das ist für uns als Organisation eine schwierige Aufgabe, manchmal nicht machbar.

Aber es ist wichtig, dass die Eltern gemeinsam handeln. Dass sie sich koordinieren, dass jemand direkt an den Dienstort [d. h. in die Militäreinheit] fährt, an dem sie das letzte Mal Kontakt [mit dem Vermissten] hatten, dass ein anderer am Telefon sitzt und wieder ein anderer Schreiben [an das Verteidigungsministerium und andere Behörden] aufsetzt. Sie müssen sich zusammentun.

Wir haben auch früher alles dafür getan, solche Supportgruppen entstehen zu lassen: Damit der Rekrut nicht alleine zur Musterungsbehörde geht, damit er eine Gruppe von Eltern oder seine Kameraden plus seine Eltern hinter sich hat, die wenigstens eine minimale Kontrolle darüber haben, wie der Armeedienst abläuft.

Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind

Gibt es jetzt solche Gruppen?

Die Menschen schätzen die aktuelle Situation sehr unterschiedlich ein. Das ist ein Problem, denn manche warten lieber ab, und andere finden, dass man sofort handeln sollte.

Was ist besser, abwarten oder handeln?

Die Entscheidung muss jeder selbst treffen. Ich persönlich finde immer, handeln ist besser. Ich verstehe, dass Beten auch eine Form von Handeln ist. Aber meines Erachtens nicht die einzige. Manche entscheiden sich dafür zu warten. Man kann nur hoffen, dass irgendwann das eintritt, worauf sie warten. 

In den ersten Tagen war ich sehr aufgewühlt und habe den Eltern versucht zu erklären, dass man etwas tun muss, anstatt zu warten. Bei manchen hat es funktioniert, bei anderen nicht. Die Kooperation zwischen den Eltern ist sehr schwierig. In den meisten Fällen haben die Eltern, die bei uns anrufen, weder die Telefonnummern der Militäreinheiten noch Kontakte zu den Eltern der Kameraden ihrer Söhne.

Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind. Und selbst die haben zum Beispiel oft keine Kontaktdaten der Einheit. Ich finde das merkwürdig.

Inwiefern merkwürdig?

Ich habe das Gefühl, sie sind völlig abgekoppelt vom Dienst in der Armee. Die Familien haben alles dem Staat überlassen. Aber die Folgen davon, dass wir alles dem Staat überlassen haben, baden wir jetzt aus.

Das nächste Problem wird sein, dass der Staat für das, was passiert, nur eine minimale Verantwortung übernehmen wird. Dessen muss man sich bewusst sein. Das ist es den Eltern leider nicht. Ihnen ist nicht klar, dass, egal was mit ihren Söhnen jetzt passiert, die vom Staat übernommene Verantwortung minimal sein wird.

Wladimir Putin hat Angehörigen von in der Ukraine gefallenen Soldaten zusätzliche Kompensationen versprochen.

Wir kriegen ein paar Vorzeigebeispiele präsentiert – Kompensationen in Millionenhöhe [in Rubel – dek] und so was. All das, was uns der Präsident versprochen hat. Der Rest wird diesen Kompensationen jahrelang hinterherrennen – im besten Fall. Schlimmstenfalls versuchen sie es einmal und geben dann auf, sagen: „Tja, so läuft das eben in unserem Land.“ Danach werden sie nur in ihrem Umfeld darüber sprechen, dass es ihnen so ergangen ist. 

Verstehen Sie, wie die Verluste gezählt werden? Das Verteidigungsministerium spricht von 498 Gefallenen auf russischer Seite. 

Dazu kann ich nicht viel sagen, weil die Zahlen auseinandergehen: Die beiden Kriegsparteien nennen unterschiedliche Zahlen. Das ist normal, die Menschen sollen auf diese Art beeinflusst werden. Wie sie das jeweils zählen, ist schwer zu sagen. Wenn im Netz Informationen auftauchen, dass dieser Held mit Ehren bestattet wurde, dass jener Held mit Ehren bestattet wurde, dann kann man davon ausgehen, dass das auch eine Rolle spielen wird. 

Was meinen Sie?

Dass möglicherweise für manche gar nichts ausgezahlt werden muss, weil sie Heldenbegräbnisse bekommen, eine Gedenktafel in ihrer Schule und in ihrem Heimatdorf, und fertig. Ich fürchte, dass sich ein Teil der Gesellschaft auch damit zufrieden geben wird, leider. 

Wie könnte die Suche nach vermissten Soldaten offiziell aussehen?

Auf der Website des Verteidigungsministeriums läuft kein rotes Band, wo man nach Soldaten suchen kann. Es gibt auch keine Listen mit Gefallenen. 

Außerdem unterliegen Informationen über Verluste bei „Spezialoperationen“ seit 2015 der Geheimhaltungspflicht. So gesehen stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage sie jetzt die Namen der Gefallenen offiziell verlautbaren lassen.

Liegen Ihnen Zahlen über Verluste vor?

Nein, wir sammeln sie nicht. An uns wenden sich Eltern, die jemanden suchen und in der Regel keine Informationen haben. Sie versuchen, Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen, zu erfahren, wo sie sind und wie es ihnen geht. Wir dürfen keine Daten zu Verlusten sammeln. Wir hatten ein paar Anfragen, bei denen Eltern sagten, sie hätten ihre Söhne unter den Kriegsgefangenen erkannt. Die reichen wir an Kollegen weiter, die sich mit der Suche von Kriegsgefangenen auskennen. Wir geben den Eltern den Kontakt, alles weitere erfahren sie dort, was man überhaupt machen kann.

Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe

Können Sie eine Institution nennen, die sich mit Kriegsgefangenen befasst?

Das sind einfach Sankt Petersburger Menschenrechtsaktivisten, die bereits aus anderen Militärkampagnen Erfahrung haben. Sie wissen, an wen sich die Eltern wenden können. Aus Gesprächen mit Journalisten, die sich während des Tschetschenienkriegs mit solchen Fragen beschäftigt haben, weiß ich, dass die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation [Tatjana Moskalkowa] dabei helfen kann. Ich empfehle den Angehörigen, dort einen Gefangenenaustausch anzuregen. Ansonsten sind es zivilgesellschaftliche Initiativen, keine offiziellen Strukturen. 

Es heißt, die russische Armee führe womöglich mobile Krematorien mit sich. Stimmt das?

Dazu haben wir keine gesicherten Informationen.

Haben die Anfragen der Angehörigen, die jetzt nach Soldaten suchen, etwas gemeinsam?

Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe. Ich habe verschiedene Mütter in verschiedenen Situationen erlebt, und ich weiß, wie Mütter handeln können. Momentan höre ich auf viele meiner Vorschläge nur: „Was bringt das?“ Verstehen Sie? Das klingt für mich, als sähen die Leute keinen Sinn darin, das Leben ihrer Söhne zu retten. „Wozu denn? Lassen die mich denn dort rein?“ Wenn ich zum Beispiel sage: „Fahren Sie zum Kommandostab, und fragen Sie dort nach.“ Wenn eine Mutter das will, dann lassen sie sie rein, und dann reden sie auch mit ihr. Aber wenn sie sich von all diesen Fragen abschrecken lässt und ihre eigene Kraft in Zweifel zieht, dann wird sie höchstwahrscheinlich nicht durchkommen. 

Ist das eine Art allgemeine Ohnmacht?

Wie auch immer man das nennen will. Es herrscht ein allgemeiner Zustand der Passivität: Apathie, Ohnmacht. Man könnte es auch schärfer formulieren. Jedenfalls hat man das Gefühl, das Leben eines Menschen sei nichts wert. Es gibt den Wunsch, irgendwo etwas zu beweisen, aber die Fähigkeit zum Handeln, um ein Leben zu retten, ist blockiert. Ich weiß nicht, ob es Angst ist, oder Schuld. Wenn man genauer hinschaut, hat da wahrscheinlich jeder sein Päckchen zu tragen. Aber dass dieser Impuls in der heutigen Zeit praktisch fehlt, ist, glaube ich, eine Tatsache. Da ist kein Impuls, Leben zu retten. 

Was werden diese Geschehnisse noch für Folgen haben?

Welche Folgen diese „Spezialoperationen“ in Russland haben werden? Das wird in jeder Familie anders sein. Die Frage ist, ob sie zu einem gemeinsamen Bild zusammengefügt werden, anhand dessen die Verantwortung und Beteiligung der Gesellschaft sichtbar werden, die Verantwortung des Staates, und ob daraus irgendwelche tiefgreifenden Veränderungen resultieren. Aber wahrscheinlich wird das eher ein Mosaik bleiben. Das heißt, jede Familie wird eine eigene Geschichte erleben, mit individuellen Folgen – und irgendwie damit zurechtkommen, so gut es eben geht. Und wir werden in dem Zustand verharren, in dem wir jetzt sind. Oder es wird noch schlimmer. 

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Memorial

Moskau 1988. Ein hageres Gesicht, zur Hälfte Totenkopf, prangt von einem grellroten Plakat. Dazu eine Nummer: № 700454. Dahinter verbirgt sich ein Spendenkonto, das Plakat ruft dazu auf, ein „Denkmal für die Opfer ungesetzlicher Repressionen“ zu errichten. Initiiert wird diese für die Sowjetunion ungewöhnliche Aktion 1987–1988 von AktivistInnen, die bald unter dem klingenden Namen Memorial (lat. Andenken) firmieren sollen. In der Zeit der Perestroika werden ihre Rufe nach Aufarbeitung der politischen Repressionen, insbesondere unter Stalins Herrschaft, immer lauter. Das Schweigen soll durchbrochen werden und an die Millionen Opfer erinnert werden, die im Arbeitslagersystem Gulag inhaftiert waren, zwangsumgesiedelt wurden und dort den Kälte- oder Hungertod gestorben sind oder auf dem Höhepunkt des Massenterrors 1937–38 erschossen wurden. 

Die Tätigkeit von Memorial entwickelte sich von Anfang an allen staatlichen Hürden und zahlreichen Einschüchterungs- und Behinderungsversuchen seitens der sowjetischen und russischen Behörden zum Trotz. Doch in den vergangenen Jahren gerieten sowohl die Organisation selbst, als auch die einzelnen Mitglieder unter besonderen Druck. Einige lokale Mitarbeiter, wie Juri Dmitrijew von Memorial Karelien, befinden sich in Haft. 2016 wurde Memorial International als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt. Am 28. Dezember 2021 hat das Oberste Gericht die Auflösung der Organisation angeordnet. Die Entscheidung wurde in der Berufung zwei Monate später bestätigt. Zweigstellen bleiben weitgehend erhalten. 

Im Oktober 2022 gab das Nobelkomitee in Oslo bekannt, Memorial, den Menschenrechtler Ales Bjaljazki aus Belarus und die ukrainische Menschenrechtsorganisation Zentrum für zivile Freiheiten mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen. Der Preis würdige ihren Einsatz für die Zivilgesellschaft und gegen Machtmissbrauch.

Plakat „Im Gedenken an die Opfer des Stalinismus“, 1988 / © K. Ivanov/Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen

Die Anfänge der Memorial-Bewegung stehen ganz im Kontext der Reformen von Michail Gorbatschow Ende der 1980er Jahre. Perestroika und Glasnost ermöglichen einen gesellschaftlichen Aufbruch, lassen informelle Klubs und Gruppierungen entstehen und fördern eine bisher ungekannte Diskussionskultur. Diese wird von der Liberalisierung der Presse- und Medienlandschaft zusätzlich begünstigt. Diese Atmosphäre bildet den idealen Nährboden für die Entstehung von Memorial als eine der ersten unabhängigen Vereinigungen, die nicht von der Kommunistischen Partei gegründet werden. 

Geburt von Memorial

Bereits 1987 formiert sich eine Initiativgruppe, die sich mit dem Appell, einen zentralen Gedenkort für die Opfer politischer Repressionen einzurichten sowie ein Informations- und Aufklärungszentrum aufzubauen, an den Obersten Sowjet der Sowjetunion wendet. Im Juni 1988 findet mit der Kundgebung von Memorial eine der ersten offiziell genehmigten Kundgebungen in Moskau statt. Auf ihr tritt spontan der aus der Verbannung zurückgekehrte Bürgerrechtler Andrej Sacharow auf. Auch andere WissenschaftlerInnen und Kunst- und Literaturschaffende wie Bulat Okudshawa, Anatoli Pristawkin oder Jewgeni Jewtuschenko sprechen der Initiative ihre Unterstützung aus.

Viel wichtiger ist in diesem Moment jedoch der Zuspruch und das Interesse der breiten Bevölkerung. Zehntausende unterstützten die Unterschriftenaktion zur Gründung von Memorial und die damit verbundene Forderung nach einem angemessenen Gedenken. Nicht nur in Moskau, sondern vor allem auch in den russischen Regionen. Zwischen 1988 und 1990 lassen sich eine Vielzahl eigenständiger Memorial-Vereine registrieren, die auf lokaler Ebene aktiv werden. Trotz großer Widrigkeiten kann schließlich im Januar 1989 die „unionsweite freiwillige Gesellschaft für historische Aufklärung Memorial“ gegründet werden, in der Gruppen aus mehr als hundert Städten vertreten sind.1 

Zehntausende unterstützten die Unterschriftenaktion zur Gründung von Memorial und die damit verbundene Forderung nach einem angemessenen Gedenken / Foto – Kundgebung in Moskau 1988/© Archiv Memorial Moskau, M1_141a

Der Gründung voraus gehen mehrmonatige Grabenkämpfe zwischen jenen, die die sowjetische Führung und Staatssicherheitsorgane rechtlich zur Verantwortung ziehen wollen, und anderen, die eine gemäßigtere Linie verfolgen. Die Kommunistische Partei versucht Einfluss zu nehmen, die Ziele von Memorial an sich zu reißen und ergeht sich in Schikanen, wie dem Einfrieren des Spendenkontos. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird der Dachverband 1992 als Memorial International registriert und parallel dazu das Moskauer Menschenrechtszentrum von Memorial gegründet. Das Logo der Memorial-Organisationen ist eine entzündete Kerze zum Andenken an die Opfer der Repressionen.

Ausstellung „Woche des Gewissens“ in Moskau, November 1998 / Foto © Juri Rost/Archiv Memorial Moskau, M1_1317

Aufarbeitung der Vergangenheit

Im November 1988 wird in einem Moskauer Kulturhaus die sogenannte Woche des Gewissens organisiert, die einen imposanten Auftakt zu einer Vielzahl von Ausstellungsprojekten mit Archivcharakter geben soll. Auf einer meterhohen halbrunden Wand werden Dokumente Repressierter ausgestellt, versehen mit Lebensdaten und persönlichen Notizen. Diese Dokumente erhielt Memorial nach einem Aufruf an die Leserinnen und Leser in der Zeitschrift Ogonjok, in dem es darum ging, der Redaktion Entwürfe für ein Denkmal, persönliche Unterlagen wie Rehabilitationsurkunden oder Fotografien von Opfern der Repressionen aus der eigenen Familie zu übersenden. Die Resonanz, sowohl auf den Aufruf als auch auf die Ausstellung, ist unerwartet groß. Vor dem Einlass bilden sich lange Schlangen. Eine Teilnehmerin erinnert sich, dass diese Art der öffentlichen Darstellung vollkommen neu war: „Eine absolut unglaubliche Euphorie und ein Gefühl, dass sich plötzlich ein Fenster öffnet und frische Luft hereinweht.“2 

Nicht allein aufgrund seiner Wirksamkeit in der Öffentlichkeit, sondern auch durch gezielte Sammlungstätigkeit überantworten ehemals Repressierte Memorial persönliche Dokumente, die gemeinsam mit Kopien aus staatlichen Archiven und Interviews mit ZeitzeugInnen später den Grundstein für den Aufbau der Archivbestände von Memorial in Moskau legen. Neben den Stalinschen Repressionen dokumentiert das Archiv von Memorial International auch die Geschichte der Dissidentenbewegung nach 1953 sowie das Schicksal von Ostarbeitern und wird von einer Spezialbibliothek flankiert.3 Seine außerordentliche Bedeutung als Russlands unbequemes Gedächtnis ist unbestritten.

Russlands unbequemes Gedächtnis

Mit ihrem Fokus auf die Darstellung einzelner Schicksale wird die Woche des Gewissens auch zur Vorreiterin der Aktion Rückgabe der Namen. Jedes Jahr rund um den 30. Oktober, dem offiziellen Gedenktag der Opfer politischer Verfolgung, verlesen Memorial-Mitglieder über viele Stunden hinweg Namen und Lebensdaten Repressierter. In Moskau findet die Aktion vor dem ehemaligen KGB-Gebäude auf dem Lubjanka-Platz statt. An diesem Ort wird am 30. Oktober 1990 der Solowezki-Stein eingeweiht, der zum zentralen Denkmal für die Opfer politischer Repressionen wird. Damit kann Memorial noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine seiner maßgeblichen Forderungen umsetzen. 

In den folgenden Jahren entstehen viele weitere Gedenkorte. So ist Memorial auch Mitbegründer der Initiative, die am Standort des ehemaligen Straflagers Perm-36 ein Museum für die Geschichte der politischen Repressionen aufgebaut hat. Auch einzelne Orte von Massenerschießungen wie etwa im karelischen Sandarmoch, werden als Erinnerungsorte markiert. Mit der Eröffnung eines Virtuellen Gulag-Museums verlagern sich die Aktivitäten zusätzlich ins Netz.4 

Die knapp einhundert einzelnen Memorial-Organisationen in Russland und im Ausland (unter anderem in der Ukraine, in Tschechien, Litauen und seit 1993 in Deutschland) realisieren unzählige Ausstellungen, Forschungs- und Archivprojekte und veröffentlichen Hunderte Publikationen. Allen voran die sogenannten Gedenkbücher mit biographischen Angaben Repressierter, die Datenbank Opfer des politischen Terrors in der UdSSR, die über eine Million Personeneinträge beinhaltet, aber auch regelmäßige Zeitschriften und eine Vielzahl an Forschungsliteratur zum Gulagsystem und den Staatssicherheitsorganen. 
Seit 1999 findet regelmäßig der Geschichtswettbewerb Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert statt. Schülerinnen und Schüler blicken auf die Geschichte der Repressionen durch das Prisma ihrer eigenen Familiengeschichte oder ihres unmittelbaren Umfelds.5

Menschenrechtsarbeit

Von Beginn an steht die Arbeit des Dachverbands Memorial International als auch der regionalen Vereine auf mehreren Standbeinen und wird lokal individuell gewichtet. Dabei setzt man sich nicht nur die historische Aufarbeitung und das Gedenken an die Repressionsopfer zum Ziel. Einzelne Memorial-Abteilungen konzentrieren sich auch auf Menschenrechtsarbeit im klassischen Sinne: Sie bieten sowohl Rechtsbeistand und juristische Konsultationen für Betroffene an und übernehmen außerdem auch die Aufgabe eines Interessenvertreters in gesamtgesellschaftlichen Belangen – wie im Falle der Ausarbeitung der Gesetzgebung zur Rehabilitierung der Opfer. Zudem koordiniert Memorial in vielen Regionen die Arbeit von Ehrenamtlichen, die sich sozial engagieren und ehemalige Repressierte oder deren Angehörige zusätzlich versorgen. Das Menschenrechtszentrum von Memorial beschäftigt sich zudem in seiner Arbeit fortan mit der Menschenrechtslage und seit Beginn der Tschetschenienkriege vorrangig mit den Konflikten und den daraus resultierenden Menschenrechtsverletzungen im Kaukasus, auch nach dem offiziellen Ende der Kriege in der Region

Gedenken und Menschenrechte im Konflikt 

Im Verlauf des über dreißigjährigen Bestehens von Memorial wird der Verband mit seinen vielgestaltigen Aktivitäten zu einem der wichtigsten Akteure der russischen Zivilgesellschaft. Er ist wohl auch eine ihrer bekanntesten Stimmen im Ausland. Dabei bildet der Menschrechtsgedanke die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart; die wenig ausgeprägten Hierarchien sowie die lebendige Diskussionskultur sind die Stärke von Memorial. 

Die Spielräume für Memorial-Organisationen in den einzelnen Regionen sind allerdings oftmals sehr unterschiedlich und von der Ausrichtung der jeweiligen Projekte und dem jeweiligen Zeitpunkt abhängig. Vor allem im Bereich der Menschenrechte im Kaukasus kommt es zu teils brutalen Übergriffen auf AktivistInnen. So wird 2009 Natalja Estemirowa ermordet, Mitarbeiterin von Memorial in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und enge Kollegin der ebenfalls ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja. Der Büroleiter des Menschenrechtszentrums von Memorial in Grosny, Ojub Titijew, wird 2018 wegen angeblichen Drogenkaufs und -transportes verhaftet. Das Büro im inguschetischen Nasran wird einige Tage später Ziel eines Brandanschlags. Nicht nur im Kaukasus, sondern punktuell auch in anderen Regionen gerät Memorial unter Druck. Für große Resonanz sorgt unter anderem die Verhaftung und das konstruierte Gerichtsverfahren gegen Juri Dmitrijew in der Republik Karelien. 

Es ist schließlich jedoch das Agentengesetz, das die Arbeit von Memorial gemeinsam mit einer Vielzahl weiterer NGOs grundsätzlich auf den Prüfstein stellte. Als das Gesetz  in Reaktion auf die massiven Proteste von 2011/2012 in Kraft tritt, folgen unmittelbar Schmierereien am Sitz der Organisation in Moskau. Zwischen 2014 und 2016 werden mehrere Memorial-Organisationen, darunter das Menschenrechtszentrum von Memorial, Memorial International, aber auch Memorial-Vereinigungen in Jekaterinburg, Sankt Petersburg und Rjasan, als sogenannte „ausländische Agenten“ registriert. Seither müssen sie ihre Veröffentlichungen mit einem entsprechenden Hinweis versehen. Memorial verurteilt diese NGO-Gesetzgebung offen und wird in mehreren Gerichtsprozessen zu hohen Geldstrafen wegen Nichtbeachtung der damit verbundenen Auflagen verurteilt. Diese können jedoch mit Hilfe von Spendenaktionen beglichen werden.

Als sogenannte „ausländische Agenten“ eingestufte Organisationen müssen ihre Veröffentlichungen mit einem entsprechenden Hinweis versehen. Hier – Schmiererei „ausländischer Agent“ neben dem Eingang des Gebäudes von Memorial in Moskau / Foto © Wassili Schaposchniko/Kommersant

Am 11. November 2021 schließlich geht bei Memorial International die Klage der russischen Generalstaatsanwaltschaft ein. Diese fordert mit dem Vorwurf, gegen die Agentengesetzgebung zu verstoßen, die Organisation aufzulösen. Parallel dazu wird dem Menschenrechtszentrum von Memorial eine gleichlautende Klage zugestellt. Die Klagen gegen beide Organisationen mobilisieren viele UnterstützerInnen im In- und Ausland, die sich mit zahlreichen Aufrufen, Petitionsschriften sowie an der von Memorial gestarteten Kampagne #MeMemorial / #МыМемориал beteiligen. 

Doch was sind die Motive dahinter: Geht es in einem zunehmend repressiven Klima darum, einen weiteren unabhängigen Akteur zu kontrollieren, auszuschalten? Geht es darum, die Deutungsmacht über die Geschichte zu erlangen (der Journalist Oleg Kaschin spricht von einer „Bestrafung des historischen Erinnerns“) – und damit auch um einen Shift in der offiziellen Geschichtspolitik, in der kritische Nischen bislang noch einen Platz hatten? Geht es beim Vorgehen um die international bekannte Organisation nicht nur um ein Signal nach innen, sondern nach außen, an den Westen – wie es etwa Maxim Trudoljubow und auch Memorial-Mitbegründerin Irina Schtscherbakowa vermuten? Spielt all dies zusammen? Darüber lässt sich nur mutmaßen. Irina Schtscherbakowa geht im Podcast von Memorial Deutschland jedoch davon aus: „Das ist keine juristische, sondern eine politische Entscheidung von ganz oben.“ 

Am 28. Dezember 2021 hat das Oberste Gericht in Moskau die Auflösung von Memorial International angeordnet, mit der abgewiesenen Berufung wurde sie zwei Monate später besiegelt.


1.Lezina, Evgenija (2014): Memorial und seine Geschichte: Russlands historisches Gedächtnis, in: Osteuropa 64 (2014), 11/12, S.165-176, hier S. 171; zur Entstehungsgeschichte von Memorial siehe ebenfalls Smith, Kathleen (1996): Remembering Stalin’s Victims: Popular Memory and the End of the USSR, Ithaca/London; Adler, Nancy (1993): Victims of Soviet Terror: The Story of Memorial Movement, London; Fein, Elke (2000): Geschichtspolitik in Rußland: Chancen und Schwierigkeiten einer demokratischen Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft MEMORIAL, Hamburg; Heinrich Böll Stiftung (Hrsg., 1990): Memorial. Aufklärung der Geschichte und Gestaltung der Zukunft, Köln ­­
2.urokiistorii.ru: «Moi – zdes'» 
3.vgl. Memorial (Hrsg., 2007): The Memorial Society Archive, Moskau. Auch Memorial St. Petersburg (Fond Iofe) verfügt über ein umfassendes Archiv. 
4.gulagmuseum.org: Virtual'nyj muzej gulaga 
5.urokiistorii.ru: Glavnaja 
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Sandarmoch

Die Erschießungsorte und Friedhöfe des NKWD unterlagen der strikten Geheimhaltung. Einer von ihnen wurde 1997 vom Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew entdeckt. Ekaterina Makhotina über Sandarmoch, das Waldgebiet in Karelien, wo während des Großen Terrors mehr als 7000 Menschen erschossen wurden. 

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