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„Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt“

Seit 2022 gibt es in Russland Menschenrechtsorganisationen, die Soldaten und von der Mobilmachung betroffene Männer bei der Fahnenflucht unterstützen. Eine davon ist Idite lessom (dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!). Auf iStories sprechen ein Funker aus dem Ural und ein Militärarzt aus Burjatien anonym darüber, wie sie mit Hilfe der Organisation dem Fronteinsatz in der Ukraine entkommen konnten.

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„Ich denke, dass man immer eine Wahl hat“, sagt ein Militärarzt aus Burjatien, der einem Fronteinstatz entkommen konnte / Foto © IMAGO / SNA

„Ich bekam Angst und unterschrieb den Vertrag”

Funkmelder aus dem Ural. Desertierte nach sechs Monaten an der Front

Ich bin in einer ganz normalen Familie im Ural aufgewachsen. Wenn mir Zeichentrickfilme vorgesetzt wurden, schaltete ich um auf Kriminelles Russland. Ich träumte vom Himmel, wollte auf die Fliegerschule und Pilot werden, weil mich Flugzeuge und Kampfjets faszinierten. 

2018 ging ich zum Wehrdienst, dachte, es sei nichts dabei, ein Jahr meines Lebens der Armee zu schenken. Ich war MG-Schütze in den Truppen der Nationalgarde, habe dort die Fußball-WM miterlebt – meine einzige positive Erinnerung an diese Zeit. 

An meinen Händen klebt Blut bis zu den Ellenbogen

Nach der Entlassung suchte ich mir eine normale Arbeit, während meine Kameraden zum FSB, ins Ermittlungskomitee und zur Staatsanwaltschaft gingen. Als die Mobilmachung begann, haben sie mir gesagt, dass ich das Land nicht mehr verlassen könne. Sie rieten mir, den Vertrag freiwillig zu unterschreiben und versprachen mir Tipps, wie ich die Front meide und am Leben bleibe. Ich hatte Angst, dass meine Familie Probleme kriegen würde, wenn ich mich weigerte (sie hatten dem FBK Geld überwiesen, das könnte ihnen womöglich zum Verhängnis werden) und unterschrieb den Vertrag. Ich wollte bei nächster Gelegenheit sofort aussteigen. Dann erfuhr ich, dass der Vertrag automatisch bis zum Ende der „Spezialoperation“ verlängert wurde. Ich konnte weder kündigen noch Urlaub nehmen – es gab keine Rotation. Oder wie man uns später sagte: Im Verteidigungsministerium herrscht Leibeigenschaft.

Ich kam [mit Hilfe meiner ehemaligen Kameraden] in eine Sonderabteilung der Aufklärungsgruppe, offiziell hieß meine Funktion „Funkmelder der Gruppe für Korrespondenz und Kommunikation für kleinere Funkstationen der Sondereinsatzgruppen“. Ich stand auf der Sendestation und funkte der Artillerie die Richtung durch. Ja, an meinen Händen klebt Blut bis zu den Ellbogen von diesem Artilleriefeuer. Aber ich habe nie selbst auf jemanden geschossen.  

Wie landen die Leute an der Front? Mein Kamerad verdiente zum Beispiel im Bergbau 150.000 Rubel [rund 1500 Euro – dek]. Das war ihm zu wenig, also wurde er Vertragssoldat. Ich hab auch andere gefragt, warum sie hier sind. Manche der Mobilisierten sagten, Hauptsache weg von zu Hause, von der Ehefrau. Manche sind einfach nur Gesocks. Einer sagte: „Ich hab eine große Familie und wusste nicht, wie ich sie ernähren soll, und dann wurde ich einberufen.“ Er hat sich also einfach damit abgefunden, das bricht mir das Herz.

Ein anderer Vertragssoldat hat geantwortet, zu Hause sei ihm langweilig gewesen. Ich sagte zu ihm, er sei ein kompletter Vollidiot. Später, nach einem Beschuss, sah ich die Angst in seinen Augen und dass er erkannt hatte, wo er da gelandet war und dass sein Leben keinen müden Heller wert ist.

Und dann gibt es die sogenannten Patrioten. Ich kann mich an einen Jungspund erinnern, der zu unserer Brigade kam und sagte, er wolle was erleben, „die Chochly aufschlitzen, von einem Ohr zum anderen“. Ein paar Tage später konnte ich zusehen, wie es ihm den Kopf abriss – er wurde von einem Granatsplitter getroffen, „von einem Ohr zum anderen“.

Ich war nicht der Einzige, der sich entschloss, zu fliehen: Bei uns waren es vier, in anderen Einheiten einer oder zwei. 

Anfang April 2023 gerieten unsere Stützpunkte unter Beschuss: Ein Kamerad, der erst seit einem Monat dabei war und nicht wusste, wie man unbemerkt zum Stützpunkt zurückkehrt, hatte eine ukrainische Drohne angelockt. Sechs Personen, mich eingeschlossen, wurden verletzt – ich hatte eine leichte Gehirnerschütterung und Splitter im Arm. Wir liefen zu Fuß bis zum Evakuierungspunkt, dann brachte man uns ins Spital. Dort traf ich unseren Kommandanten (er war schon früher verletzt worden) und sagte zu ihm: „Ich gehe nicht mehr dahin zurück, du weißt selber, warum.“ Ich wusste, dass er ebenfalls keine Illusionen mehr hatte. Er antwortete: „Ja, ich verstehe dich“, und drückte mir die Hand. 

Mein verletzter Kamerad bekam zu hören: ,Laufen kannst du ja‘ – und wurde wieder in die Schlacht geschickt

Von anderen Soldaten erfuhr ich, dass ein Entlassungsschein drei Millionen Rubel [ca. 30.000 Euro – dek] kostet. Das heißt, man wird verletzt und steckt dann die ganze Entschädigung in die Vertragsauflösung. Aber das geht nur über Angehörige im Kaukasus, und ich bin vom Ural. 

Sie zogen mir die Splitter raus, operierten mich. Mein Arm funktionierte nicht mehr richtig, Sehnen und Muskeln waren beschädigt. Im Fall einer Verletzung bekommt man 30 Tage frei, in dieser Zeit engagierte ich Juristen, die mir helfen sollten, da rauszukommen. Mein Kamerad, der eine Verletzung am Bein hatte, bekam zu hören: „Egal, laufen kannst du ja“ – und wurde wieder in die Schlacht geschickt. 

Einmal kamen vier „Kontrabässe“ aus meiner Einheit zu meinem Haus – das sind Kontraktniki [Vertragssoldaten – dek], die versucht haben, den Dienst zu verweigern, aber aufgrund der folgenden Drohungen dann doch geblieben sind. Sie dienten sozusagen als auswärtige Wachhunde und passten auf, dass ich nicht abhaue. Zwei Tage hingen sie vor meiner Tür herum, einer saß die ganze Zeit auf einem Pappkarton und lauerte.  

Neben meinem Haus stand ein Baum. Ich beschloss, mir Jägermeister und ein paar Schmerzmittel einzuwerfen und vom dritten Stock auf diesen Baum zu springen. Ich hatte sogar mit einem Freund abgemacht, dass er mich unten aufsammeln würde, falls ich mir die Beine breche. Aber ich musste zum Glück nicht springen: Die Nachbarn gaben Bescheid, dass die beiden Wachhunde weg waren, und ich verließ die Stadt.

Einer von meinen Verwandten erzählte mir dann von der Organisation Idite lessom und schickte mir eine Videoreportage von iStories über fahnenflüchtige Offiziere. Was eine solche Flucht betraf, war ich skeptisch, zudem dachte ich ja, meine Juristen würden mir helfen. 

Ich tauchte ein paar Monate unter. Es wurde sogar ein Fahndungsfoto von mir überall in der Stadt aufgehängt. Ein Kamerad, mit dem ich im Krieg gewesen war und der nach einem Urlaub mit Hilfe von Bekannten in den Ural versetzt wurde, erzählte mir, dass man ihm Geld und einen Posten versprochen hätte, wenn er mich verrät. Als wir zusammen gedient haben, lieh ich ihm immer wieder Geld, damit er es seinen Eltern nach Hause schicken konnte, wenn er mal wieder kein Gehalt bekam. Und er erzählte mir, dass die Spionageabwehr nach mir fahnden würde – weil ich ja ein Staatsgeheimnis unterzeichnet habe. Aber er sagte auch, diese Suche würde eine gewisse Zeit dauern, und die sollte ich nutzen, um mir „einen Fluchtplan auszudenken“. Da schrieb ich an Idite lessom. Gleich am nächsten Tag schickten sie mir einen Plan mit einer Fluchtroute, und ich verließ das Land. 

Inzwischen bin ich in Russland wegen Artikel 337 angeklagt: Unerlaubtes Entfernen von der Truppe. Meinen Verwandten, die noch immer in Russland sind, hat man jedoch gesagt: „Er kriegt Artikel 275, Landesverrat. Wenn ihr uns nicht sagt, wo er ist, dann obendrein noch Artikel 338, Fahnenflucht.“ Bislang lebe ich von dem Geld, das ich als Soldat verdient und in Cryptowährung angelegt habe. Für die Verletzung habe ich drei Millionen bekommen. Damit habe ich meiner Familie geholfen, ihre Kredite abzuzahlen, der Rest ging bei dem Versuch drauf, eine Kündigung aus medizinischen Gründen zu erwirken – als Honorar für die Anwälte, die mir nicht helfen konnten.

Ich kenne Leute, die über Soldaten sagen: Das sind Trottel, Arschlöcher. Kann man das auch über mich sagen? Ja, von mir aus, nur zu. Ja, es war mein Fehler, dass ich da hingegangen bin und nicht sofort versucht habe, abzuhauen.

Wir müssen alles tun, damit ihr nicht kämpft

Jetzt muss ich erst mal weiter, einen Ort finden, an dem ich sicher bin. Ich fühle mich sehr allein. Ich kann mich schwer mit meiner Vergangenheit abfinden, schwer damit leben. Ich würde am liebsten alles vergessen und niemandem davon erzählen. Euch erzähle ich das, weil es vielleicht jemandem bei der Entscheidung hilft, jemandem zeigt, dass es Möglichkeiten gibt. Oder wie sie bei Idite lessom gesagt haben: „Wir müssen alles tun, damit ihr nicht kämpft.“
Wahrscheinlich klingt das, als wollte ich auf zwei Stühlen gleichzeitig sitzen. Aber verdammt. Ich habe mir von Anfang an geschworen, jede Möglichkeit zu nutzen, um nicht an diesem Krieg teilzunehmen. Aber das System hat mich gebrochen. Ich habe meine geliebte Heimat verloren, meine Verwandten, Eltern, Freunde, obwohl sie mich unterstützen. Meine Leute wissen, dass ich kein kompletter Vollidiot bin. Aber ich habe das Gefühl, dass ein Teil von mir dort geblieben ist. Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt.  

„Ich wollte nicht Handlanger für diese Kriegsverbrechen sein”

Militärarzt aus Burjatien. Flüchtete vor seinem Einsatz an der Front aus Russland

Ich bin in Ulan-Ude geboren und aufgewachsen. Meine Familie gehört statistisch gesehen zur Mittelschicht: Die Mutter Lehrerin, der Vater Fabrikarbeiter. Ich war noch ganz klein, als sie sich scheiden ließen. Als Schüler war ich in einem militär-patriotischen Klub, das war mein Einstieg. Ich nahm mir vor, zum Militär zu gehen, ich fand, das war ein gefragter Männerberuf.

Nach der Schule studierte ich an der militärmedizinischen Akademie. Im dritten Studienjahr fing ich an, mich näher mit der Kultur meines Volkes zu befassen, die burjatische Sprache zu lernen und das alles ernster zu nehmen. Der Wunsch, Offizier der russischen Armee zu werden, ließ gleichzeitig nach, weil mir bewusst wurde, dass Russland der direkte Rechtsnachfolger der Sowjetunion und des zaristischen Imperiums ist. Es kam mir plötzlich sehr dumm vor, unbedingt in die Armee zu wollen. Ich wollte mein Studium abbrechen und stellte einen Antrag auf Exmatrikulation. Erfolglos: Die Akademie schrieb meinen Eltern einen Brief mit der Aufforderung, „Maßnahmen zu ergreifen“. Meine Eltern sagten, es sei doch mein Plan gewesen, Offizier zu werden, also solle ich erst mal meinen Abschluss machen: Was man anfängt, das muss man auch durchziehen. Ich schloss also mein Studium ab und arbeitete dann meiner Ausbildung entsprechend als Arzt.    

Als der Krieg begann, war ich gerade im Außendienst: als Bereitschaftsarzt für Soldaten, die in Russland ein Infrastrukturobjekt sanierten. Ehrlich gesagt, hat mich das kalt erwischt, und das gab den Ausschlag dafür, dass ich beschloss zu kündigen.

Der Außendienst dauerte bis zum Sommer, nach meiner Rückkehr reichte ich die Kündigung ein. Die Entlassung eines Militärangehörigen – und erst recht eines Offiziers – ist nicht gerade ein einfacher und schneller Vorgang. Es hilft, sich bei den Vorgesetzten unbeliebt zu machen, damit sie selbst daran interessiert sind, einen loszuwerden. Ich hatte gerade damit angefangen, aber dann kam die Mobilmachung und alle Kündigungen wurden aufgehoben. Wieder musste ich in den Außendienst, in den Fernen Osten, als Chefarzt einer Division.

Ich versuchte, eine Entlassung aus gesundheitlichen Gründen zu erwirken. Verbrachte fast drei Monate im Spital, wo sie ein paar Erkrankungen feststellten. Aber für eine Entlassung reichte es nicht. Ich wurde in Kategorie B eingestuft – tauglich mit leichten Einschränkungen.  

Im Februar 2023 kehrte ich an meine permanente Dienststelle zurück. Im Frühjahr wurde mir mitgeteilt, dass wir nach Zentralrussland versetzt werden, eine neue Einheit bilden und in der Ukraine kämpfen sollen. Mir blieben gerade mal zwei Wochen, in denen ich mich noch relativ frei im Land bewegen konnte.

Ich schrieb auf Instagram der Mitbegründerin der Stiftung Swobodnaja Burjatija (dt. Freies Burjatien) Viktoria Maladajewa, fragte sie um Rat. Sie gab mir ein paar Tipps und empfahl mir das Team von Idite lessom. Ich erklärte ihnen meine Situation und dass ich keinen Reisepass habe. Sie schlugen mir eine Route vor. 

Ich hatte Angst vor den Konsequenzen, falls ich erwischt würde, aber ich bemühte mich, diese Gedanken wegzuschieben und einem exakten Plan zu folgen. Von meiner Familie wurde ich sehr unterstützt. Meine Schwester kam extra zu mir nach Moskau, buchte meine Tickets, mietete Unterkünfte an – sie machte alles. 

Es hat geklappt. Jetzt bin ich weder in Russland noch in der Ukraine. Laut Gesetz der Russischen Föderation bin ich ein Deserteur, und das ist ein strafrechtlich relevantes Verbrechen. Das Land, in dem ich jetzt bin, kann mich nach Russland ausliefern. Deswegen habe ich Angst, einen Reisepass zu beantragen. Ständig rechne ich mit einem Anruf von zu Hause, dass sie sagen: Das war’s, du wirst gesucht. Aber noch ist meine Familie von Hausdurchsuchungen und Verhören verschont geblieben. 

Ich wollte nicht als einer der vielen Kriegsversehrten zurückkehren, die danach weiter Gräueltaten verüben

Warum ich mich zur Flucht entschieden habe? Ich wollte einfach nicht Handlanger sein für diese Kriegsverbrechen, die dort begangen werden. Ich wollte nicht als einer der vielen Kriegsversehrten zurückkehren, die in weiterer Folge auch immer wieder Gräueltaten verüben. Auch das ist eine Art Beihilfe.

Ja, ich bin Offizier, ich stehe unter Vertrag und ich dachte bis zu einem bestimmten Moment, dass ich meine Pflicht erfüllen muss. Doch sobald sich eine Möglichkeit geboten hat, habe ich sie genutzt. Ich habe viele Studienkollegen, die gleich nach der Ankündigung der Mobilmachung das Land verlassen haben. Das heißt, zumindest von jenen, zu denen ich noch Kontakt habe, ist der Großteil nach Möglichkeit abgehauen. Bisher ist keiner meiner Freunde und guten Bekannten in den Krieg gezogen und hat es auch nicht vor. Was sie da über die Burjaten schreiben, ist mir egal. Ich glaube, die meisten Burjaten wollten von Anfang an nicht kämpfen und wollen es auch jetzt nicht. 

Ich denke, dass man immer eine Wahl hat. Ich will keine Namen nennen, aber ich kenne Leute, die sich einen Finger abgehackt haben, um ins Krankenhaus zu kommen und nicht an die Front. Auch eine Entscheidung.

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Memorial

Moskau 1988. Ein hageres Gesicht, zur Hälfte Totenkopf, prangt von einem grellroten Plakat. Dazu eine Nummer: № 700454. Dahinter verbirgt sich ein Spendenkonto, das Plakat ruft dazu auf, ein „Denkmal für die Opfer ungesetzlicher Repressionen“ zu errichten. Initiiert wird diese für die Sowjetunion ungewöhnliche Aktion 1987–1988 von AktivistInnen, die bald unter dem klingenden Namen Memorial (lat. Andenken) firmieren sollen. In der Zeit der Perestroika werden ihre Rufe nach Aufarbeitung der politischen Repressionen, insbesondere unter Stalins Herrschaft, immer lauter. Das Schweigen soll durchbrochen werden und an die Millionen Opfer erinnert werden, die im Arbeitslagersystem Gulag inhaftiert waren, zwangsumgesiedelt wurden und dort den Kälte- oder Hungertod gestorben sind oder auf dem Höhepunkt des Massenterrors 1937–38 erschossen wurden. 

Die Tätigkeit von Memorial entwickelte sich von Anfang an allen staatlichen Hürden und zahlreichen Einschüchterungs- und Behinderungsversuchen seitens der sowjetischen und russischen Behörden zum Trotz. Doch in den vergangenen Jahren gerieten sowohl die Organisation selbst, als auch die einzelnen Mitglieder unter besonderen Druck. Einige lokale Mitarbeiter, wie Juri Dmitrijew von Memorial Karelien, befinden sich in Haft. 2016 wurde Memorial International als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt. Am 28. Dezember 2021 hat das Oberste Gericht die Auflösung der Organisation angeordnet. Die Entscheidung wurde in der Berufung zwei Monate später bestätigt. Zweigstellen bleiben weitgehend erhalten. 

Im Oktober 2022 gab das Nobelkomitee in Oslo bekannt, Memorial, den Menschenrechtler Ales Bjaljazki aus Belarus und die ukrainische Menschenrechtsorganisation Zentrum für zivile Freiheiten mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen. Der Preis würdige ihren Einsatz für die Zivilgesellschaft und gegen Machtmissbrauch.

Plakat „Im Gedenken an die Opfer des Stalinismus“, 1988 / © K. Ivanov/Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen

Die Anfänge der Memorial-Bewegung stehen ganz im Kontext der Reformen von Michail Gorbatschow Ende der 1980er Jahre. Perestroika und Glasnost ermöglichen einen gesellschaftlichen Aufbruch, lassen informelle Klubs und Gruppierungen entstehen und fördern eine bisher ungekannte Diskussionskultur. Diese wird von der Liberalisierung der Presse- und Medienlandschaft zusätzlich begünstigt. Diese Atmosphäre bildet den idealen Nährboden für die Entstehung von Memorial als eine der ersten unabhängigen Vereinigungen, die nicht von der Kommunistischen Partei gegründet werden. 

Geburt von Memorial

Bereits 1987 formiert sich eine Initiativgruppe, die sich mit dem Appell, einen zentralen Gedenkort für die Opfer politischer Repressionen einzurichten sowie ein Informations- und Aufklärungszentrum aufzubauen, an den Obersten Sowjet der Sowjetunion wendet. Im Juni 1988 findet mit der Kundgebung von Memorial eine der ersten offiziell genehmigten Kundgebungen in Moskau statt. Auf ihr tritt spontan der aus der Verbannung zurückgekehrte Bürgerrechtler Andrej Sacharow auf. Auch andere WissenschaftlerInnen und Kunst- und Literaturschaffende wie Bulat Okudshawa, Anatoli Pristawkin oder Jewgeni Jewtuschenko sprechen der Initiative ihre Unterstützung aus.

Viel wichtiger ist in diesem Moment jedoch der Zuspruch und das Interesse der breiten Bevölkerung. Zehntausende unterstützten die Unterschriftenaktion zur Gründung von Memorial und die damit verbundene Forderung nach einem angemessenen Gedenken. Nicht nur in Moskau, sondern vor allem auch in den russischen Regionen. Zwischen 1988 und 1990 lassen sich eine Vielzahl eigenständiger Memorial-Vereine registrieren, die auf lokaler Ebene aktiv werden. Trotz großer Widrigkeiten kann schließlich im Januar 1989 die „unionsweite freiwillige Gesellschaft für historische Aufklärung Memorial“ gegründet werden, in der Gruppen aus mehr als hundert Städten vertreten sind.1 

Zehntausende unterstützten die Unterschriftenaktion zur Gründung von Memorial und die damit verbundene Forderung nach einem angemessenen Gedenken / Foto – Kundgebung in Moskau 1988/© Archiv Memorial Moskau, M1_141a

Der Gründung voraus gehen mehrmonatige Grabenkämpfe zwischen jenen, die die sowjetische Führung und Staatssicherheitsorgane rechtlich zur Verantwortung ziehen wollen, und anderen, die eine gemäßigtere Linie verfolgen. Die Kommunistische Partei versucht Einfluss zu nehmen, die Ziele von Memorial an sich zu reißen und ergeht sich in Schikanen, wie dem Einfrieren des Spendenkontos. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird der Dachverband 1992 als Memorial International registriert und parallel dazu das Moskauer Menschenrechtszentrum von Memorial gegründet. Das Logo der Memorial-Organisationen ist eine entzündete Kerze zum Andenken an die Opfer der Repressionen.

Ausstellung „Woche des Gewissens“ in Moskau, November 1998 / Foto © Juri Rost/Archiv Memorial Moskau, M1_1317

Aufarbeitung der Vergangenheit

Im November 1988 wird in einem Moskauer Kulturhaus die sogenannte Woche des Gewissens organisiert, die einen imposanten Auftakt zu einer Vielzahl von Ausstellungsprojekten mit Archivcharakter geben soll. Auf einer meterhohen halbrunden Wand werden Dokumente Repressierter ausgestellt, versehen mit Lebensdaten und persönlichen Notizen. Diese Dokumente erhielt Memorial nach einem Aufruf an die Leserinnen und Leser in der Zeitschrift Ogonjok, in dem es darum ging, der Redaktion Entwürfe für ein Denkmal, persönliche Unterlagen wie Rehabilitationsurkunden oder Fotografien von Opfern der Repressionen aus der eigenen Familie zu übersenden. Die Resonanz, sowohl auf den Aufruf als auch auf die Ausstellung, ist unerwartet groß. Vor dem Einlass bilden sich lange Schlangen. Eine Teilnehmerin erinnert sich, dass diese Art der öffentlichen Darstellung vollkommen neu war: „Eine absolut unglaubliche Euphorie und ein Gefühl, dass sich plötzlich ein Fenster öffnet und frische Luft hereinweht.“2 

Nicht allein aufgrund seiner Wirksamkeit in der Öffentlichkeit, sondern auch durch gezielte Sammlungstätigkeit überantworten ehemals Repressierte Memorial persönliche Dokumente, die gemeinsam mit Kopien aus staatlichen Archiven und Interviews mit ZeitzeugInnen später den Grundstein für den Aufbau der Archivbestände von Memorial in Moskau legen. Neben den Stalinschen Repressionen dokumentiert das Archiv von Memorial International auch die Geschichte der Dissidentenbewegung nach 1953 sowie das Schicksal von Ostarbeitern und wird von einer Spezialbibliothek flankiert.3 Seine außerordentliche Bedeutung als Russlands unbequemes Gedächtnis ist unbestritten.

Russlands unbequemes Gedächtnis

Mit ihrem Fokus auf die Darstellung einzelner Schicksale wird die Woche des Gewissens auch zur Vorreiterin der Aktion Rückgabe der Namen. Jedes Jahr rund um den 30. Oktober, dem offiziellen Gedenktag der Opfer politischer Verfolgung, verlesen Memorial-Mitglieder über viele Stunden hinweg Namen und Lebensdaten Repressierter. In Moskau findet die Aktion vor dem ehemaligen KGB-Gebäude auf dem Lubjanka-Platz statt. An diesem Ort wird am 30. Oktober 1990 der Solowezki-Stein eingeweiht, der zum zentralen Denkmal für die Opfer politischer Repressionen wird. Damit kann Memorial noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine seiner maßgeblichen Forderungen umsetzen. 

In den folgenden Jahren entstehen viele weitere Gedenkorte. So ist Memorial auch Mitbegründer der Initiative, die am Standort des ehemaligen Straflagers Perm-36 ein Museum für die Geschichte der politischen Repressionen aufgebaut hat. Auch einzelne Orte von Massenerschießungen wie etwa im karelischen Sandarmoch, werden als Erinnerungsorte markiert. Mit der Eröffnung eines Virtuellen Gulag-Museums verlagern sich die Aktivitäten zusätzlich ins Netz.4 

Die knapp einhundert einzelnen Memorial-Organisationen in Russland und im Ausland (unter anderem in der Ukraine, in Tschechien, Litauen und seit 1993 in Deutschland) realisieren unzählige Ausstellungen, Forschungs- und Archivprojekte und veröffentlichen Hunderte Publikationen. Allen voran die sogenannten Gedenkbücher mit biographischen Angaben Repressierter, die Datenbank Opfer des politischen Terrors in der UdSSR, die über eine Million Personeneinträge beinhaltet, aber auch regelmäßige Zeitschriften und eine Vielzahl an Forschungsliteratur zum Gulagsystem und den Staatssicherheitsorganen. 
Seit 1999 findet regelmäßig der Geschichtswettbewerb Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert statt. Schülerinnen und Schüler blicken auf die Geschichte der Repressionen durch das Prisma ihrer eigenen Familiengeschichte oder ihres unmittelbaren Umfelds.5

Menschenrechtsarbeit

Von Beginn an steht die Arbeit des Dachverbands Memorial International als auch der regionalen Vereine auf mehreren Standbeinen und wird lokal individuell gewichtet. Dabei setzt man sich nicht nur die historische Aufarbeitung und das Gedenken an die Repressionsopfer zum Ziel. Einzelne Memorial-Abteilungen konzentrieren sich auch auf Menschenrechtsarbeit im klassischen Sinne: Sie bieten sowohl Rechtsbeistand und juristische Konsultationen für Betroffene an und übernehmen außerdem auch die Aufgabe eines Interessenvertreters in gesamtgesellschaftlichen Belangen – wie im Falle der Ausarbeitung der Gesetzgebung zur Rehabilitierung der Opfer. Zudem koordiniert Memorial in vielen Regionen die Arbeit von Ehrenamtlichen, die sich sozial engagieren und ehemalige Repressierte oder deren Angehörige zusätzlich versorgen. Das Menschenrechtszentrum von Memorial beschäftigt sich zudem in seiner Arbeit fortan mit der Menschenrechtslage und seit Beginn der Tschetschenienkriege vorrangig mit den Konflikten und den daraus resultierenden Menschenrechtsverletzungen im Kaukasus, auch nach dem offiziellen Ende der Kriege in der Region

Gedenken und Menschenrechte im Konflikt 

Im Verlauf des über dreißigjährigen Bestehens von Memorial wird der Verband mit seinen vielgestaltigen Aktivitäten zu einem der wichtigsten Akteure der russischen Zivilgesellschaft. Er ist wohl auch eine ihrer bekanntesten Stimmen im Ausland. Dabei bildet der Menschrechtsgedanke die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart; die wenig ausgeprägten Hierarchien sowie die lebendige Diskussionskultur sind die Stärke von Memorial. 

Die Spielräume für Memorial-Organisationen in den einzelnen Regionen sind allerdings oftmals sehr unterschiedlich und von der Ausrichtung der jeweiligen Projekte und dem jeweiligen Zeitpunkt abhängig. Vor allem im Bereich der Menschenrechte im Kaukasus kommt es zu teils brutalen Übergriffen auf AktivistInnen. So wird 2009 Natalja Estemirowa ermordet, Mitarbeiterin von Memorial in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und enge Kollegin der ebenfalls ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja. Der Büroleiter des Menschenrechtszentrums von Memorial in Grosny, Ojub Titijew, wird 2018 wegen angeblichen Drogenkaufs und -transportes verhaftet. Das Büro im inguschetischen Nasran wird einige Tage später Ziel eines Brandanschlags. Nicht nur im Kaukasus, sondern punktuell auch in anderen Regionen gerät Memorial unter Druck. Für große Resonanz sorgt unter anderem die Verhaftung und das konstruierte Gerichtsverfahren gegen Juri Dmitrijew in der Republik Karelien. 

Es ist schließlich jedoch das Agentengesetz, das die Arbeit von Memorial gemeinsam mit einer Vielzahl weiterer NGOs grundsätzlich auf den Prüfstein stellte. Als das Gesetz  in Reaktion auf die massiven Proteste von 2011/2012 in Kraft tritt, folgen unmittelbar Schmierereien am Sitz der Organisation in Moskau. Zwischen 2014 und 2016 werden mehrere Memorial-Organisationen, darunter das Menschenrechtszentrum von Memorial, Memorial International, aber auch Memorial-Vereinigungen in Jekaterinburg, Sankt Petersburg und Rjasan, als sogenannte „ausländische Agenten“ registriert. Seither müssen sie ihre Veröffentlichungen mit einem entsprechenden Hinweis versehen. Memorial verurteilt diese NGO-Gesetzgebung offen und wird in mehreren Gerichtsprozessen zu hohen Geldstrafen wegen Nichtbeachtung der damit verbundenen Auflagen verurteilt. Diese können jedoch mit Hilfe von Spendenaktionen beglichen werden.

Als sogenannte „ausländische Agenten“ eingestufte Organisationen müssen ihre Veröffentlichungen mit einem entsprechenden Hinweis versehen. Hier – Schmiererei „ausländischer Agent“ neben dem Eingang des Gebäudes von Memorial in Moskau / Foto © Wassili Schaposchniko/Kommersant

Am 11. November 2021 schließlich geht bei Memorial International die Klage der russischen Generalstaatsanwaltschaft ein. Diese fordert mit dem Vorwurf, gegen die Agentengesetzgebung zu verstoßen, die Organisation aufzulösen. Parallel dazu wird dem Menschenrechtszentrum von Memorial eine gleichlautende Klage zugestellt. Die Klagen gegen beide Organisationen mobilisieren viele UnterstützerInnen im In- und Ausland, die sich mit zahlreichen Aufrufen, Petitionsschriften sowie an der von Memorial gestarteten Kampagne #MeMemorial / #МыМемориал beteiligen. 

Doch was sind die Motive dahinter: Geht es in einem zunehmend repressiven Klima darum, einen weiteren unabhängigen Akteur zu kontrollieren, auszuschalten? Geht es darum, die Deutungsmacht über die Geschichte zu erlangen (der Journalist Oleg Kaschin spricht von einer „Bestrafung des historischen Erinnerns“) – und damit auch um einen Shift in der offiziellen Geschichtspolitik, in der kritische Nischen bislang noch einen Platz hatten? Geht es beim Vorgehen um die international bekannte Organisation nicht nur um ein Signal nach innen, sondern nach außen, an den Westen – wie es etwa Maxim Trudoljubow und auch Memorial-Mitbegründerin Irina Schtscherbakowa vermuten? Spielt all dies zusammen? Darüber lässt sich nur mutmaßen. Irina Schtscherbakowa geht im Podcast von Memorial Deutschland jedoch davon aus: „Das ist keine juristische, sondern eine politische Entscheidung von ganz oben.“ 

Am 28. Dezember 2021 hat das Oberste Gericht in Moskau die Auflösung von Memorial International angeordnet, mit der abgewiesenen Berufung wurde sie zwei Monate später besiegelt.


1.Lezina, Evgenija (2014): Memorial und seine Geschichte: Russlands historisches Gedächtnis, in: Osteuropa 64 (2014), 11/12, S.165-176, hier S. 171; zur Entstehungsgeschichte von Memorial siehe ebenfalls Smith, Kathleen (1996): Remembering Stalin’s Victims: Popular Memory and the End of the USSR, Ithaca/London; Adler, Nancy (1993): Victims of Soviet Terror: The Story of Memorial Movement, London; Fein, Elke (2000): Geschichtspolitik in Rußland: Chancen und Schwierigkeiten einer demokratischen Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft MEMORIAL, Hamburg; Heinrich Böll Stiftung (Hrsg., 1990): Memorial. Aufklärung der Geschichte und Gestaltung der Zukunft, Köln ­­
2.urokiistorii.ru: «Moi – zdes'» 
3.vgl. Memorial (Hrsg., 2007): The Memorial Society Archive, Moskau. Auch Memorial St. Petersburg (Fond Iofe) verfügt über ein umfassendes Archiv. 
4.gulagmuseum.org: Virtual'nyj muzej gulaga 
5.urokiistorii.ru: Glavnaja 
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Sandarmoch

Die Erschießungsorte und Friedhöfe des NKWD unterlagen der strikten Geheimhaltung. Einer von ihnen wurde 1997 vom Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew entdeckt. Ekaterina Makhotina über Sandarmoch, das Waldgebiet in Karelien, wo während des Großen Terrors mehr als 7000 Menschen erschossen wurden. 

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