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„Wir müssen jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen“

Die Aufführung von Krieg und Frieden an der Bayerischen Staatsoper stößt in der deutschen Presse auf kontroverse Diskussionen. Während der Tagesspiegel nach der Premiere am 5. März über „einen einmalig großen Abend“ schreibt, ist der Musikkritiker Jörn Florian Fuchs im Deutschlandfunk ratlos: Auch nach dem Drüberschlafen wisse er nicht so recht, was er davon halten soll. Den Kern des Problems greift Christine Lemke-Matwey auf ZEIT Online auf: Eine Oper eines russischen Komponisten (Sergej Prokofjew) nach dem Roman eines russischen Schriftstellers (Lew Tolstoi), in der Aufführung eines russischen Regisseurs (Dimitri Tschernjakow) und russischen Dirigenten (Wladimir Jurowski) – und das alles in München kurz nach dem 1. Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine ... Das Stück, das von zwei russischen (Verteidigungs-)Kriegen inspiriert wurde – dem Vaterländischen Krieg 1812 und dem Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 – feiere seine Premiere mitten im russischen Angriffskrieg, und das Publikum sehe sich mit der Frage konfrontiert, „wer hier eigentlich wer sein soll, wer Opfer ist und wer Täter, wer Aggressor, wer Verteidiger“. 

Nach der Premiere hat sich Meduza in München mit dem Dirigenten Wladimir Jurowski getroffen. In einem langen Interview erzählt er über das problematische Stück von Prokofjew, über den Versuch, das „schwere kulturhistorische Gepäck“ auf die Münchener Bühne zu bringen, über die Instrumentalisierung von Prokofjew und anderen Komponisten durch die russische Kulturpropaganda und über jenes Russland, das sich lohnt, bewahrt zu werden.  

Источник Meduza

„Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)Wladimir Rajewski: Kaum zu glauben, dass die Idee zu Tschernjakows Inszenierung von Krieg und Frieden schon vor dem Krieg aufgekommen ist – und nicht als Reaktion der Bayerischen Staatsoper auf die aktuellen Ereignisse.

Wladimir Jurowski: Zuerst wussten wir nicht, in welcher Form wir die Oper dem Publikum präsentieren wollen, und wir hatten auch keine Ahnung von dem Konzept des Regisseurs, er selbst aber auch nicht. Wir ahnten nicht einmal, dass wir die Oper schlussendlich in dieser stark gekürzten, zerschnittenen Version spielen würden. Die ursprüngliche Idee war, Krieg und Frieden von der ersten bis zur letzten Note aufzuführen, sozusagen den Urtext.      

Es gibt eine ganze Reihe von Opern, die in unterschiedlichen Versionen vorliegen. Auf der ganzen Welt werden meistens sogenannte Mischversionen gespielt, also, man nimmt, was den Interpreten am besten gefällt, und wirft manchmal alles durcheinander in einen Topf. 

Kaum jemand weiß, dass die Sache mit Prokofjews Krieg und Frieden noch viel verworrener ist als mit anderen Opern. An Krieg und Frieden arbeitete Prokofjew von Frühling 1941 bis zu seinem Tod im Frühling 1953 – also zwölf Jahre. In dieser Zeit komponierte er mindestens drei Versionen. 

Auf uns hagelte es sowohl von russischer als auch von westlicher Seite allerlei Beschuldigungen: Wir hätten Prokofjew verdreht und dem eigenen Geschmack angepasst, indem wir vor allem den Teil über den Krieg zu einem, wie sie es nannten, Dog’s Dinner gemacht hätten. Und dann hätten wir noch dem Chor das berühmte letzte Stück entrissen und seine Musik der Banda überlassen. Was die Banda spielt, ist das Thema „Groß ist unser Land“, und im Vordergrund skandiert der Chor [in einer späten Bearbeitung von Prokofjew] einen propagandistischen, geradezu stalinistischen Text. Solang es Tschernjakows Konzept noch nicht gab, haben wir einfach einen Weg gesucht, wie wir das so hinkriegen, dass wir Sergej Sergejewitsch [Prokofjew] nicht vollends blamieren und uns selbst auch nicht. Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen und alles Unnötige zu streichen. Zur Gänze kann man das natürlich nicht entfernen, das ist unmöglich, aber sehr vieles haben wir herausgenommen.    

„Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

Prokofjew hat uns kein fertiges Werk hinterlassen, sondern eine riesige Skizze, einen Torso, ein Gerüst, das nicht vollendet wurde. Es zerfällt in lauter fragmentarische Szenen, die sich fast unmöglich zu einem großen Ganzen zusammenfügen lassen. Tschernjakow ist das gelungen, aber nur dank der außergewöhnlichen Situationen und den Bedingungen, unter denen die Inszenierung entstanden ist, und weil er bewusst auf die Gegenüberstellung „Krieg und Frieden“ verzichtet hat. Und nur dank dem sehr konzeptualistischen und sehr starken Zugang, der in das Grundprinzip Tolstois und Prokofjews eingreift, gelang uns eine Inszenierung, die sich als zusammenhängende Geschichte erzählen lässt. Aber an sich ist es eine Collage. 

Wir haben eine Art erfundene, dystopische Situation: Russen sind im Haus der Gewerkschaften im Zentrum Moskaus in der Säulenhalle eingeschlossen, in einer Art Kriegsatmosphäre. Wir erwähnen kein einziges Mal, was eigentlich passiert ist. Das ist der Ausgangspunkt des Spiels: Es fehlt die wichtigste Komponente jedes Kriegs – der äußere Feind. Wir sehen Menschen, die verängstigt sind, die sich Sorgen machen, die etwas quält, aber einen Feind als solchen gibt es nicht. Also beginnen sie, den Feind in den eigenen Reihen zu suchen und auch zu finden. Obwohl wir den Text nicht verändert haben – sie sprechen weiterhin von Franzosen, von deutschen Generälen, russischen Spionen und Partisanen.   

Brächten wir ein Drama nach dem Roman von Tolstoi auf die Bühne, dann würden solche Freiheiten natürlich extrem stören. Aber wir inszenieren ja die Oper von Prokofjew, und wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne und in den Saal: das Jahr 1812, in dem Napoleons Russlandfeldzug stattfand, das Jahr 1856, in dem Tolstoi seinen Roman zu schreiben begann, das Jahr 1941, in dem Prokofjew anfing, seine Oper zu komponieren, das Jahr 1946, in dem die Oper aufgeführt und kritisiert wurde, das Jahr 1953, in dem Prokofjew am selben Tag wie Stalin starb, schließlich auch unsere unselige Zeit. Und eben weil wir eine Oper machen und keinen Roman, und weil wir damit einen riesigen kulturhistorischen Raum abdecken, viel größer, als wenn wir einfach Tolstois Text verfilmen oder als Theaterstück auf die Bühne bringen würden – deswegen dürfen wir uns solche Freiheiten erlauben. 

„Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

Was haben Sie mit der Musik gemacht, als Sie von dem Konzept erfuhren, dass Prokofjews patriotischer Chor so etwas sein wird wie … ein heutiger patriotischer Chor?

Ich musste nichts Spezielles machen, weil etwas Erstaunliches und äußerst Bemerkenswertes passiert ist: Das, was mich persönlich an Prokofjew immer irritiert und sehr genervt, geärgert hat, hat sich bestätigt: dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus. Den man übrigens keineswegs nur in Krieg und Frieden findet, sondern auch in vielen anderen sowjetischen Kompositionen. 

So wie im Oratorium Auf Friedenswache und dergleichen? 

Ja. Da gibt es überall wundervolle Musik, aber auch immer wieder Momente, für die man sich einfach schämt. Ich habe zum Beispiel längst, lange vor dem Krieg gegen die Ukraine, bewusst aufgehört, Prokofjews Kantate Alexander Newski aufzuführen. Früher hat sie mir sehr gefallen, und als Musik zu Sergej Eisensteins großartigem Film finde ich sie immer noch absolut angemessen – es ist wirklich eine tolle Filmmusik. Aber wenn ich sie auf einer Konzertbühne als eigenständige musikalische Komposition spiele, dann treiben mir manche Seiten daraus die Schamesröte ins Gesicht. 

„Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische StaatsoperDiese betont patriotische Glut im vierten Teil der Kantate Steht auf, russische Leute oder das beinah sadistische Vergnügen, mit dem Prokofjew die Kreuzritter auf dem zugefrorenen Peipussee „schlägt“, lassen einen spüren, wie sehr dieses Werk trotz des unbestrittenen Talents seines Urhebers vergiftet ist mit einem üblen, beinah faschistischen Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer. Hier werden ganz offensichtlich und bewusst historische Ereignisse verwendet, um nationalistische, ideologisierte Weltbilder zu untermauern. Wenn wir das auf die Konzertbühne bringen, dann übernehmen wir einen Teil der Verantwortung für das, was die Menschen auf der Bühne von sich geben. Im Theater oder im Kino ist diese Verantwortung nicht so umfassend. Im Theater und im Kino werden reale Situationen gespielt, unter anderem aus ferner Vergangenheit. Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung. 

Faschistischer Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer

Im heutigen Kontext kann man keine dieser Kompositionen spielen, ohne an die Parallelen und Überschneidungen zu unserer traurigen Realität zu denken. Vor allem, weil die heutigen russischen Machthaber in einer absolut stalinistischen Tonalität handeln und Kunst, auch klassische Kunst, bewusst als schwere Propagandawaffe einsetzen. Für sie wird Puschkin genauso zum Propagandawerkzeug wie Tschaikowski und Rachmaninow, den sie ebenfalls vereinnahmt haben, obwohl er emigriert war – war er doch ein echter Patriot! Sie verwenden dieselbe Lexik wie Stalins Ideologen, als diese den verderblichen Einfluss des Westens bekämpften und gegen die eigenen Komponisten, Dichter, Schriftsteller, Künstler, Formalisten, wurzellosen Kosmopoliten et cetera wetterten.        

Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist

Leider werden Prokofjew und sogar Schostakowitsch mit der Zeit selbst zu Instrumenten der russischen Kulturpropaganda. Schostakowitsch etwas weniger, einfach weil er sich viele Jahre lang bewusst gegen das Regime gestellt hat. Prokofjew hat mehrere Werke geschaffen, die gerade auch im heutigen Kontext ganz schreckliche Assoziationen wecken können.

Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist, wie er oft dargestellt wird. Er ist ein sehr komplexer Charakter.

Zwischen 2005, als Sie Krieg und Frieden in der Pariser Oper dirigierten, und 2023 scheinen Lichtjahre zu liegen. Haben die Ereignisse seit dem letzten Jahr irgendeinen Einfluss auf Ihre Interpretation gehabt?

Auch wenn es seltsam ist, muss ich da etwas zu den ersten Akkorden der ersten Szene sagen, mit denen das Opus beginnt. Das ist eine ziemlich einfache Quint, also ein Intervall aus zwei Noten, zerlegt auf zwei Oktaven, das von nur vier Instrumenten gespielt wird. Diese Quint klang für mich früher irgendwie … als ob jemand nachts im Wald einen Vogel aufgescheucht hätte. Aber jetzt beginnt vor allem dank Tschernjakows Idee alles mit Stille, und Fürst Andrej erwacht auf einer Matratze, umringt von diesen Menschen – vielleicht Flüchtlingen, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht – und zieht sich nach und nach die Kleider aus, bis er im Unterhemd dasteht. Dann stößt er einen unhörbaren schmerzlichen inneren Schrei aus. Und aus diesem Schrei entspringt Musik – Verzweiflung. Die Verzweiflung und Ohnmacht eines vom Leben gebrochenen Menschen. 

Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins

Mit den Jahren hat sich das Gefühl bei mir eingestellt, dass bei Prokofjew in der Musik oft zu finden ist, was ihm den Erinnerungen seiner Zeitgenossen zufolge als Mensch fehlte, nämlich Empathie. Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins. In der Musik aber beweint er die tote Julia oder den toten Romeo, als wären es seine eigenen Kinder. Und genau deswegen, weil das mit einer gewissen Distanz kreiert wurde, hängt das Ergebnis von uns selbst ab, von den Künstlern, den Interpreten. Wir können diese Musik in Richtung einer großen menschlichen Wärme interpretieren oder in Richtung absoluter Kälte und eisiger Emotionslosigkeit.  

Prokofjew hat sich auch nach seiner Rückkehr in die UdSSR sehr zynisch zu einer Kooperation mit dem Regime geäußert.

Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys. Er verhielt sich ja wie ein absoluter Schnösel, war ein großer Schachspieler, er glaubte an Sport, an die Macht des Fortschritts. Prokofjew war ein verwöhntes Kind seiner Zeit, und als es vorbei war mit der Kindheit und er sich die Nase anschlug [an der Zensur], war es zu spät. Gott sei Dank wurde er nicht als kreatives Wesen gebrochen, denn die letzten Sachen, die er geschrieben hat – die letzten Symphonien, das Symphoniekonzert für Violoncello sowie die Neunte, die letzte vollendete Klaviersonate – all das zählt immerhin zu den großen Schätzen der Musikgeschichte. In der Musik bewahrte er sich immerhin seine Freiheit, blieb er selbst.  

Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys

Krieg und Frieden ist leider eines der Beispiele, das veranschaulicht, wozu die innere Bestechlichkeit eines Künstlers führt. Obwohl ich Prokofjew immer noch für einen herausragenden Komponisten halte, der nicht nur erstaunliche Klangkombinationen schuf, sondern auch bemerkenswerte Aussagen tätigte, die die unbeugsame Kraft des menschlichen Geistes bezeugen. Aber gewissermaßen schrieb Prokofjew diese Musik nicht dank, sondern eher trotz seiner Eigenschaften.     

In Österreich und Deutschland hat Prokofjew keinen so guten Ruf. Woran liegt das?

Das hat grundsätzlich mit der Natur von Prokofjews Musik zu tun, die nicht wirklich in den österreichisch-deutschen musikalisch-psychologischen Raum hineinpasst. In Deutschland muss man Prokofjew erst einen Weg ebnen. Wenn ich in Deutschland mit seinen Partituren arbeite, dann muss ich auch in sehr guten Orchestern mit mehr Mühe den Widerstand dagegen abbauen, Prokofjew so zu spielen, wie er selbst gespielt werden wollte. 

„Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper Haben Sie auf diese Weise auch Krieg und Frieden den Weg geebnet?

Den Weg ebnen musste ich nicht – das hat unser Theater entschieden. Aber während der Arbeit mit dem Orchester tauchten manchmal Hemmungen und irgendwelche Problemchen auf. Das hat damit zu tun, dass Prokofjew einen sehr eigenen, einzigartigen Zugang zu solchen Aspekten des Musizierens hat wie Phrasierung und Artikulation. Das kann man sich vorstellen wie einen Menschen, der Gedichte oder Prosa schreibt, aber nicht in der allgemein üblichen Syntax und abseits der gültigen Rechtschreib- und Satzzeichenregeln. Orthografie, Satzbau und Interpunktion sind bei Prokofjew ungewöhnlich, einmalig.

Verstehe ich das richtig, dass Sie nicht nach Russland fahren?

Ich kann da nicht einreisen.

Weil Sie sogar jetzt eine Anstecknadel mit einer ukrainischen Flagge auf dem Revers tragen? 

Nein, die kam erst später dazu. Nach allem, was ich gesagt habe, wird mir einfach keiner mehr ein Visum geben.   

Ah, Sie sind ja kein russischer Staatsbürger.

Genau. Es war daher sehr kurios zu erfahren, dass ich in der schwarzen Liste von Roskomnadsor als „Meinungsbildner des öffentlichen Lebens“ erscheine. 

Oh, ich stehe auch auf dieser Liste. 

Man kann das als Auszeichnung betrachten. Aber „ausländischer Agent“ kann ich nicht werden, weil ich kein russischer Staatsbürger bin. Ich hatte ein Visum, mit dem ich letztes Jahr noch einreisen konnte. Aber ich habe natürlich alle Konzerte [in Russland] abgesagt. Jetzt wäre ich, selbst wenn ich unbedingt wollte, auf die Gnade des Kulturministeriums angewiesen.   

Das Sie jetzt nicht so gern hat?

Das mich natürlich nie im Leben einladen würde. Wie in dem einen [russischen] Spruch: Zieh dir entweder eine Hose an oder nimm das Kreuz ab. Also, wenn du so redest, wozu fährst du dann hin? Höchstens privat, um meine Lieben zu sehen, meine Freunde. Wobei es da auch ein paar gibt, mit denen ich nur schwer reden könnte. 

Haben Sie Leute im Umfeld, die den Krieg unterstützen?

Das nicht unbedingt, aber sie finden zum Beispiel meine Entscheidungen auch nicht gut. 

Ich war in Russland immer ein Fan Ihrer Aufführungen von Musik vergessener Komponisten aus der Sowjetzeit. Was wird daraus jetzt?

Jetzt berichtet man, dass das Konzert Drugoje prostranstwo. Continuo stattgefunden hat, und dann in Klammern: „ohne Wladimir Jurowski“. Ich werde hier und da in der Presse erwähnt. Zum Beispiel, nachdem ich im Februar 2022 zum ersten Mal die ukrainische Hymne gespielt habe. Das war in Berlin. Wir haben Tschaikowskis Slawischen Marsch, der auf dem Programm stand, durch Werbizkis Hymneersetzt und sogar noch eine symphonische Ouvertüre von ihm gespielt. Wobei wir aber zum Beispiel Tschaikowskis Fünfte Symphonie oder Rubinsteins Cellokonzert nicht gestrichen haben.

Schon damals tauchten im russischsprachigen Internet Schlagzeilen auf wie: „Jurowski ersetzt Tschaikowski durch Bandera-Hymne“. Ich beließ es nicht dabei und spielte die „Bandera-Hymne“ auch andernorts. Und ich habe sehr vieles gesagt, mit dem ich mir ganz bewusst alle Wege zurück verbaut habe. 

Glauben Sie nicht, dass das Interesse an allem Russischen im kulturellen Sinn dann, wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, erst recht wieder aufkommen wird? Irgendwo müssen ja die Antworten auf die Fragen stecken, die früher niemand gestellt hat.  

Dieses Interesse geht nicht verloren – es ist auch jetzt nicht verschwunden. Nach unserer Premiere von Krieg und Frieden bekamen wir sehr viele schöne Rückmeldungen, nette und auch richtig schmeichelhafte. Ein Münchner Kritiker schrieb, so viel Selbstreflexion vonseiten russischer Künstler, wie wir in dieser Inszenierung sehen und hören konnten, nährt die innere Hoffnung, dass dieses Land noch nicht endgültig verloren ist. Da bin ich mit ihm einverstanden. 

Ich beließ es nicht dabei und spielte die ‚Bandera-Hymne‘ auch andernorts

Ich gehe sogar noch weiter: Ich bekam gerade bei dieser Premiere das Gefühl, dass im Saal, in dem übrigens sehr viele Vertreter der neuen russischen Emigration saßen, eine Art Schulterschluss der russischen, russischsprachigen Menschen außerhalb Russlands auf Basis gänzlich anderer Ideale stattfand.

Ich hoffe einfach sehr, dass die heutigen russischen Emigranten mehr Glück haben, dass sie sich nicht in Gezänk, Streitereien und persönlichen Geplänkeln suhlen werden wie die russischen Emigranten nach dem Bürgerkrieg. Weil damals ja doch das sowjetische Russland als moralischer Sieger aus der Schlacht hervorging. In diesem Punkt bin ich solidarisch mit Dimitri Bykow, der den Gedanken formuliert hat, dass der größte Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Emigration folgender ist: Damals rannten sie vor der Revolution davon, die zwar etwas Schreckliches, Böses war, aber gleichzeitig auch etwas Neues und Frisches. Die heutige Emigration flieht vor einer Reaktion, vor etwas, das im Inneren zerbrochen ist, das verfault, verwest und eigentlich nicht mehr lange bestehen wird. Insofern erinnert mich das eher an die Flucht der Deutschen 1848 oder die Flucht aus Frankreich und Österreich nach dem Wiener Kongress. Oder wie die Russen vor dem bereits morsch gewordenen Zarenregime der Romanows flüchteten.     

Ein scharfsinniger Gedanke, typisch für Bykow, aber auch von einer ihm typischen Sympathie für das sowjetische Projekt begleitet. 

Ich finde, wir müssen dieses sowjetische Atlantis jetzt, wo dieser furchtbare Krieg begonnen wurde, endgültig in uns begraben. In uns, ich klammere mich da selbst nicht aus, diese höchstgefährliche Nostalgie nach der Vergangenheit abtöten. Die wir im Grunde ja gar nicht wirklich erlebt haben. 

Alle meine Erinnerungen an die Sowjetunion stammen aus meiner Kindheit im häuslichen Umfeld und meiner Jugend am Konservatorium. Ins echte Leben hatte ich da noch gar nicht hineingeschnuppert. Wir müssen uns mit großer Sorgfalt Rechenschaft darüber ablegen, was genau wir da so nostalgisch vermissen. Sonst kann es passieren, dass wir unwillkürlich Geister der Vergangenheit wecken, die wir dann nicht mehr so einfach mit einem Espenpflock in ihre Särge zurücktreiben können. Wobei eigentlich genau das gerade vor unseren Augen geschieht.   

„Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper Sie haben ja nicht in Russland gelebt und den neuen Alexander-Newski-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre wahrscheinlich gar nicht mitbekommen.

Ja, das ist ehrlich gesagt an mir vorübergegangen. Der Kult um diese großen Helden der Vergangenheit: Kutusow, Peter der Große. Aber die allmähliche Rehabilitierung von Iwan dem Schrecklichen und Stalin ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Ich versuche einfach schon lange, mich von alldem fernzuhalten. Lange bevor ich 2021 aufhörte, mit dem Staatsorchester in Russland zu arbeiten, hatte ich ein sehr merkwürdiges, ein sehr ungutes Gefühl, wenn ich die russische Grenze passierte. Ich liebte meine Stadt immer noch, meine Freunde, und es war mir immer eine große Freude, für das Moskauer Publikum zu spielen, aber was gleichzeitig auf den Straßen Moskaus vor sich ging, versetzte mich immer mehr in Angst und Schrecken. Daher verkroch ich mich immer, wenn ich nach Russland fuhr, wie eine Schnecke in ihrem Haus. Ich versuchte, möglichst wenig draußen zu sein, möglichst wenig Kontakt zu fremden Menschen zu haben.

Wenn das, was am 24. Februar begonnen hat, nicht passiert wäre, dann wäre ich natürlich trotz aller Verschlechterungen dieses internen Klimas weiterhin nach Moskau gefahren. Das steht außer Frage. Ich wurde gefragt: Wie kannst du da immer noch hinfahren, bei dem Wahnsinn, der da vor sich geht? Morde an Journalisten, Morde an Oppositionspolitikern, Nawalny im Gefängnis und immer wieder in Einzelhaft, und so weiter und so fort. Ich habe immer mit den Worten des Dirigenten Iván Fischer geantwortet, der noch immer, trotz der ebenfalls schwierigen Situation in Ungarn, das Festival Orchester Budapest leitet. 

Er sagte auf solche Fragen: „Ja, mein Land ist krank. Aber stellen Sie sich vor, Sie haben einen kranken Verwandten, jemand in Ihrer Familie ist krank. Würden Sie ihn etwa (das war allerdings noch vor der Pandemie) isolieren? Würden Sie ihm verweigern, seine Angehörigen zu sehen? Nein, Sie bringen ihm Medikamente und Tee mit Zitrone, erzählen ihm etwas, um ihn aufzuheitern, damit er schneller gesund wird. Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied. Ich versuche, ihm mit meiner Musik etwas Wärme zu spenden und zu seiner raschen Genesung beizutragen.“ So ein herzensguter, idealistischer Gedanke.  

Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied

Mit diesem Gedanken habe ich noch lange auch in Russland gearbeitet. Und ich werde jetzt nicht lügen und behaupten, es hätte mir widerstrebt. Ich habe es sehr genossen. Ich fand es schön, mit meinen Musikern zu kommunizieren, und mir gefiel es, wie es uns gelang, eine Art Staat im Staat zu errichten. Denn in unserem Orchester waren die Beziehungen untereinander ganz anders als in anderen Orchestern mit anderen Dirigenten. Wir reisten auch zusammen durch Russland, hatten nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg Auftritte. Jetzt weiß ich das nicht. Aber ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.  

Und bis dahin?

Bis dahin müssen wir jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen. Und nach Möglichkeit dafür kämpfen oder anderen dabei helfen, dafür zu kämpfen, dass dieses Russland nicht endgültig abstürzt.  

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Sergej Prokofjew

Sergej Sergejewitsch Prokofjew starb am 5. März 1953, am gleichen Tag wie Josef Stalin. Angesichts der staatlich verordneten und von vielen sowjetischen Bürgern emotional durchlittenen Trauer um den verstorbenen „großen Führer“ erschien der Tod des Komponisten wie eine marginale Fußnote der Geschichte. Angeblich konnten nicht einmal mehr Blumen für sein Begräbnis aufgetrieben werden. Der gemeinsame Todestag mit seinem Peiniger erwies sich als letzte zynische Wendung von Prokofjews Lebensweg, der von Anziehung und Abstoßung, von Distanz und Nähe zum Sowjetstaat geprägt war. 

Wie Dimitri Schostakowitsch war Sergej Prokofjew (1891–1953) ein Shootingstar der klassischen Musikwelt im ausgehenden Zarenreich gewesen. Nach seinem Abschluss am St. Petersburger Konservatorium 1914 hatte er sich als herausragender, rebellischer Komponist und Pianist in der Musikwelt einen Namen gemacht. Als er im Jahr 1914 mit seinem 1. Klavierkonzert einen Wettbewerb für die fünf besten Klavierabsolventen eines Jahrgangs gewann, schien sein kometenhafter Aufstieg auf einem vorläufigen Höhepunkt angekommen zu sein. 

Der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution und der folgende Zusammenbruch des vorrevolutionären kulturellen Lebens waren für ihn Beweggründe, die seit seinen ersten Auslandsgastspielen in London und Paris geknüpften Kontakte nach Westen zu nutzen, um fortan als Klaviervirtuose in den USA zu wirken. Sein Abschied aus Sowjetrussland im Jahr 1918 war also nicht politisch, sondern vor allem ökonomisch motiviert. Die neuen Machthaber gaben gern und rasch grünes Licht für seine Ausreise. Anatoli Lunatscharski, der damalige Volkskommissar für das Bildungswesen, hoffte gar, Prokofjew werde dem sowjetischen Projekt in der Neuen Welt zu Ruhm und Ehre verhelfen. 

Musik oder Propaganda?

Enthusiasmus und Enttäuschung kennzeichneten Prokofjews Werdegang im Exil: In San Francisco scheiterte zunächst sein Opernprojekt Die Liebe zu den drei Orangen. Prokofjew siedelte finanziell und künstlerisch schwer angeschlagen nach Paris über. Dort nahm er die früheren Kontakte zu Sergej Djagilews Ballets Russes auf, und es gelang ihm, in den 1920er Jahren einige Erfolge zu verzeichnen. Dazu gehörte auch das Ballet Le pas d’acier (dt. Stahlschritt), das Mitte der 1920er Jahre den konstruktivistischen Geist moderner Musik atmete.

https://www.youtube.com/watch?v=Z_hOR50u7ek

Der Stahlschritt vertonte die Industrialisierung der Sowjetunion in mechanistischen, repetitiven Gesten, die in ihrer Klangsprache neue Formen von Chromatik und Diatonik austesteten. Das Werk war eine willkommene Werbung für Stalins Aufbau der Sowjetunion – es wurde nicht nur vom Bolschoi-Theater aufgenommen, sondern auch in Paris über drei Spielzeiten gegeben und in Wien von Wilhelm Furtwängler dirigiert. Als das Werk 1931 in Philadelphia Premiere feierte, fragte sich die Zeitung The Public Ledger, ob es sich dabei um Musik oder Propaganda handele. Damit hatte die Zeitung auf ein Spannungsfeld verwiesen, das für Prokofjews Wirken in den 1930er Jahren entscheidend sein sollte.

Rückkehr in die Sowjetunion

Anfang der 1930er Jahre begann die „sowjetische Periode“ in Prokofjews Schaffen. Der Komponist legte damals die musikalische und ideelle Grundlage für seine Rückkehr in die Sowjetunion im Jahre 1936. Seine Musik war nun noch stärker auf das Ziel hin ausgerichtet, durch eine verständliche Klangsprache einen gesellschaftlichen Auftrag zu verrichten. Die unmittelbare Zugänglichkeit seiner berühmtesten Werke Peter und der Wolf (1936) und Romeo und Julia, die in der ersten Hälfte der 1930er Jahre entstanden, resultierte aus dieser Programmatik und garantierte letztlich ihren bis heute andauernden Erfolg auf allen Konzertpodien. Die Harmonik kehrte stärker zur Tonalität zurück, Dissonanzen waren häufig nur noch ein Stilmittel, um Chaos und Bedrohung darzustellen. Prokofjew stellte Musik nun verstärkt in den Dienst außermusikalischer Botschaften. Das galt auch und im Besonderen für seine ikonisch gewordene Filmmusik zu Sergej Eisensteins Film Alexander Newski. Eisenstein bestellte nicht einfach Hintergrundmusik für seine bewegten Bilder, sondern ließ sich durch Prokofjews Schaffen für das Ballett auch darauf ein, komponierte Musik mit neuen Filmszenen auszudeuten.1

Die lebensweltlichen Gründe für Prokofjews Rückkehr in die Sowjetunion, kurz vor dem Beginn des Großen Terrors, sind bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Das sowjetische Projekt bot Prokofjew in jedem Fall Chancen und Möglichkeiten: Künstlerisch bedeutete das Ende der Formalismusdebatte im Jahr 1932 die Einrichtung einer stabilen Kulturlandschaft, in der der Komponistenverband über reichhaltige finanzielle Mittel verfügte. Politisch faszinierte der rasante Aufstieg der Sowjetunion zur industriellen Macht nicht nur Prokofjew, sondern viele Künstler, Literaten und Intellektuelle. Es sollte sich als besondere Tragik erweisen, dass bereits sein erstes Moskauer Projekt, eine gigantische Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution, ins Fadenkreuz ideologischer Kritik geriet. Auf dem Höhepunkt des Stalinschen Terrors sah sich Prokofjew mit Vorwürfen konfrontiert, „[Stalins] Worte, die dem Volk gehören, zu unverständlicher Musik zu setzen“.2

Die Erwartung des Komponisten, in der Sowjetunion optimale Arbeitsbedingungen für ein freies Komponieren vorzufinden, sollten sich auch in den folgenden Jahren kaum erfüllen. Während des Zweiten Weltkrieges gelang ihm aber die Fertigstellung seiner fünften Symphonie, die 1944 als heroisch-patriotische Kriegssymphonie triumphal uraufgeführt wurde. Es folgten zwei Schläge, die sein letztes Lebensjahrzehnt entscheidend prägen sollten: Wenige Wochen nach der Uraufführung stürzte Prokofjew schwer auf den Kopf und war fortan auf permanente medizinische Betreuung angewiesen. 1948 erreichte ihn der Bannstrahl der Shdanowschtschina. Eine Resolution des Komponistenverbandes verbot einige seiner Werke, darunter viele erst kürzlich fertiggestellte Titel. Die Auswirkungen waren gravierend: Ähnlich wie Schostakowitsch sah Prokofjew sich einer generellen Skepsis gegenüber seinem Werk und seiner Person ausgesetzt, die die absolute Zahl von Aufführungen dramatisch sinken ließ. Prokofjew war nicht nur geächtet, sondern auch finanziell ruiniert. Der Versuch einer Rehabilitierung mit der Oper Die Geschichte vom wahren Menschen, die einen Kriegshelden ins Zentrum rückte, misslang. 

Stalins Schatten

Als Prokofjew an einem Schlaganfall verstarb endete ein Leben, das mit und durch die Ereignisse in der Sowjetunion unter Stalin geprägt war. Prokofjew konnte sich der utopischen Anziehungskraft des aufsteigenden Staates nicht entziehen, bekam aber auch seinen ideologischen Furor und seine unmenschliche Härte zu spüren. Die Sowjetskaja Musyka, eine der wichtigsten Musikzeitungen des Landes, widmete ihm erst auf den hinteren Seiten einen Nachruf. 

In den Jahren des sogenannten Tauwetters wurde Prokofjew posthum rehabilitiert und gemeinsam mit Dimitri Schostakowitsch in den Olymp der sowjetischen Musik befördert. Seine Werke waren nun wieder auf den Konzertpodien zu hören. Mit dem Ende der Sowjetunion aktualisierte sich die Frage nach dem Verhältnis des Komponisten zum Regime Stalins ein weiteres Mal: Als der Dirigent Gennadi Roshdestwenski die 1936 komponierte Huldigungskantate aufführen ließ und dafür plädierte, ihren musikalischen Gehalt zu würdigen, debattierten Musiker, Musikwissenschaftler und Konzerthörer darüber, ob ein solches Vorgehen politisch vertretbar sei. Stalins Schatten war auch fünfzig Jahre nach dem gleichzeitigen Tod von Diktator und Komponist zu spüren.


Zum Weiterlesen:
Morrison, Simon (2009): The People’s Artist, Oxford
Schipperges, Thomas (2005): Sergej Prokofjew, Reinbek bei Hamburg

1.Bartig, Kevin (2017): Sergei Prokofiev’s Alexander Nevsky, New York
2.Redakcionnyje besedy. ‘Nedelja sovetskoj muzyki’, in: Sovetskaja muzyka 1 (1968), S. 21, zit. nach Morrison, Simon (2009): The People’s Artist: Prokofiev’s Soviet Years, New York, S. 65
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