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„Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

Seit der Angliederung der Krim ist Russlands Präsident im Umfrage-Hoch: Seine Beliebtheitswerte liegen bei über 80 Prozent. Doch wie zuverlässig sind solche Zahlen? Nicht sehr, meint Grigori Judin. Der Sozialwissenschaftler forscht an der renommierten Moskauer Higher School of Economics. Ein etablierter Name in der Wissenschaft ist er noch nicht, sein Interview auf Colta.ru aber verspricht frischen Wind für die russische Soziologie – es erfuhr recht große Aufmerksamkeit und wurde auch über Soziale Medien viel geteilt. dekoder bringt es in zwei Teilen

Im ersten spricht Judin über trügerische Aussagekraft von Meinungsumfragen – selbst wenn sie von so renommierten Instituten wie dem Lewada-Zentrum kommen.

Источник Colta.ru

„Umfragen liefern die Ergebnisse, die der Kreml braucht” Foto © EUSPb

Gleb Naprejenko: Heutzutage ist in Russland die Vorstellung verbreitet, es gäbe eine konservative Mehrheit, die Putin und seine Politik unterstützt. Diese Vorstellung basiert auf soziologischen Umfragen, die uns, so wird behauptet, eben jene Mehrheit dokumentieren. Was aber zeigen uns diese Umfragen tatsächlich?

Grigori Judin: Wir haben irgendwie nicht bemerkt, wann soziologische Umfragen in Russland zur zentralen Institution politischer Repräsentation wurden. Das ist eine spezifisch russische Situation, obwohl Umfragen im Prinzip weltweit immer wichtiger werden. Aber speziell in Russland konnte das Modell der Meinungsumfragen das Publikum leicht in seinen Bann ziehen, weil es einen Anspruch auf demokratische Teilhabe verkörpert, darauf, die unverstellte Stimme des Volkes zu sein. 

Es hypnotisiert das Publikum mit seinen Zahlen. Wäre das Publikum weniger hypnotisiert und würden wir unterscheiden zwischen dem demokratischen Prozess als Selbstbestimmung des Volkes auf der einen und Umfragen als Institution der totalen politischen Repräsentation auf der anderen Seite, dann würden wir schnell ein paar Dinge feststellen, die allen klar sind, die mit Umfragen zu tun haben. 

Erstens ist Russland ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen –  als würde man über etwas Unanständiges reden. Es ist also kein Wunder, dass nur eine verschwindend geringe Minderheit Fragen beantwortet – erst recht zum Thema Politik. Deshalb entbehrt der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, in der Realität jeder Grundlage.

Russland ist ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen – als würde man über etwas Unanständiges reden

In den Umfragen gibt es einen technischen Kennwert – die Ausschöpfungsquote: Sie zeigt an, wie viele der insgesamt Befragten auf die Fragen geantwortet haben, also wie viele überhaupt zu einem Interview bereit waren. Je nach Methode bewegt sich der Anteil zwischen 10 und 30 Prozent.

Das ist nicht sehr viel, oder?

Das bedeutet einfach nur, dass wir über die restlichen 70 bis 90 Prozent nichts wissen. Daraus folgt wiederum eine zähe Diskussion, in die uns die Meinungsforschungsinstitute immer wieder zu verstricken versuchen, darüber, dass wir ja keine Beweise hätten, dass sich diese 10 bis 30 Prozent von den anderen 70 bis 90 unterscheiden würden. 

Natürlich haben wir keine Beweise. Beweise hätten wir nur, wenn es uns gelingen würde, diese 70 bis 90 Prozent zu befragen, von denen wir wissen, dass sie sich nicht an Umfragen beteiligen wollen.

Der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, entbehrt jeder Grundlage

Aber unsere allgemeinen Beobachtungen bestätigen die Annahme, dass die Weigerung, an solchen Umfragen teilzunehmen, eine Form des passiven Widerstands ist. Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Das alles geschieht aus denselben Gründen.

Seit wann ist das so?

Es gab ein Aufflammen des politischen Enthusiasmus Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, und genau in dieser Zeit, 1987, wurde das erste Meinungsforschungsinstitut gegründet, das WZIOM. Meinungsumfragen waren ein neues Instrument der Repräsentation, das die sowjetische Gesellschaft nicht gekannt hatte. Sie kamen auf mit der Welle der postsowjetischen Demokratie-Begeisterung in den Jahren der Perestroika. 

Schon Ende der 1990er flachte diese Begeisterung wieder ab, die in den 2000er Jahren in Politikverdrossenheit mündete. Deshalb bekamen wir in den 2000er Jahren diese ganzen Polittechnologien, die bewusst auf Entpolitisierung abzielten, darauf, die Politik als eine Witzveranstaltung darzustellen, wo absurde Clowns gegeneinander antreten, die kein vernünftiger Mensch jemals wählen würde. 

Das alles schadete auch den Umfragen. 

Denn Umfragen sind keineswegs nur eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der öffentlichen Meinung, wie das allgemein angenommen wird, sondern auch eine Institution der politischen Repräsentation. Als solche wurden sie nämlich von George Gallup erdacht, und genau so haben sie immer funktioniert. Deshalb war die Enttäuschung über die politischen Institutionen unter anderem auch eine Enttäuschung über die Meinungsumfragen.

Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Beides geschieht aus denselben Gründen

In letzter Zeit kommt außerdem hinzu, dass Umfragen ganz gezielt als Technologie zur Unterdrückung politischer Partizipation eingesetzt werden. Der Staat hat sich die Meinungsforschungs-Branche praktisch angeeignet.

Obwohl es heute drei Hauptakteure im Bereich der Meinungsumfragen gibt – FOM, WZIOM und das Lewada-Zentrum (und wir wissen, dass das Lewada-Zentrum eine regierungsferne Position einnimmt und ständigen Attacken durch den Kreml ausgesetzt ist) –, so arbeiten diese drei Unternehmen doch alle fast innerhalb ein und desselben Diskurses.

Nachdem es nun dem Kreml gelungen war, dieses Feld unter seine ideologische Kontrolle zu bringen, wurden auf einmal genau die Ergebnisse produziert, die der Kreml brauchte.

Von welchem Diskurs redest du?

Wie funktioniert die Umfrage-Industrie heute? Man bezichtigt die Organisatoren von Umfragen derzeit oft der Fälschung, aber das ist fern der Realität. Die brauchen gar nichts zu erfinden oder zu lügen, sie nehmen einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde. Und weil das komplette Nachrichtenprogramm vom Kreml diktiert wird, begreifen diejenigen, die zu einem Interview bereit sind (und das sind, wie gesagt, die Wenigsten), schnell, was von ihnen erwartet wird.

Warum bewegt sich sogar das Lewada-Zentrum innerhalb dieser Logik, obwohl es, zumindest scheint es so, oppositionell-liberal eingestellt ist?

Weil es in genau denselben konservativen Rahmen existiert, mit dem einzigen Unterschied, dass die Staatspropaganda Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg zeichnet und sagt, wie toll das sei. Das Lewada-Zentrum dagegen bezeichnet Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg – und sagt, wie schlimm das sei. Im Hinblick auf die Sprache, mit der sie die Welt beschreiben, unterscheiden sie sich meistens nicht sonderlich voneinander.

Wird eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen, so antworten die Menschen sofort anders

Obwohl das Lewada-Zentrum manchmal Umfragen bringt, deren Fragestellungen nicht aus den Nachrichten vom Vortag stammen. In diesem Fällen zeigen sich dann übrigens ziemlich unerwartete Ergebnisse – eben weil man anders mit den Menschen spricht.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Ein gutes Beispiel dafür war, als der Militäreinsatz zur Unterstützung Assads in Syrien gestartet wurde. Gleich zu Beginn, als die Möglichkeit solch einer Operation erstmals im Raum stand, hat das Lewada-Zentrum die Menschen befragt, ob Russland Assad direkt militärisch unterstützen und Truppen nach Syrien verlegen sollte. Die Reaktion war wenig überraschend: Im Grunde wollte kaum jemand, dass Russland sich in diese kriegerische Auseinandersetzung einmischt. 

Gerade mal zwei Wochen später, als die Intervention schon im Gange war, hatte die Regierung eine Nachrichtensprache dafür entwickelt, und das Lewada-Zentrum griff genau diese Sprache in seiner Fragestellung auf: „Wie stehen Sie dazu, dass Russland Stellungen des Islamischen Staates (eine in Russland verbotene terroristische Vereinigung – Red.) angreift?“ 

Hier wurde also, grob gesagt, ohne jegliche Zitatkennzeichnung eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen. Die Menschen reagierten sofort anders. Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung der Menschen zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen.

Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen

Wichtig ist außerdem, dass die reale Produktion der Umfragen nicht den Moskauer Instituten obliegt, die sich die Umfragen ausdenken, sondern den konkreten Interviewern und Befragten in ganz Russland. 

Gerade erst haben wir eine Interviewreihe mit solchen Interviewern durchgeführt, und die sagen für gewöhnlich zwei Dinge. Erstens: Die Menschen wollen nicht über Politik sprechen. Das ist ein großes Problem. Wenn eine Umfrage zum Thema Politik kommt, versuchen [die Interviewer – dek] sie nach Möglichkeit loszuwerden, weil es sehr schwer ist, die Menschen dazu zu bringen, über politische Fragen zu sprechen. 

Das Zweite hängt mit der Kluft zwischen Stadt und Land und zwischen Jung und Alt zusammen. Junge Leute sprechen besonders ungern über Politik; und was die Städte betrifft – je größer die Stadt, desto weniger wollen die Leute auf Fragen über Politik antworten. 

Also bleibt uns eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe, die mehr oder weniger bereit ist, nach folgenden Regeln mitzuspielen: Ihr stellt uns Fragen aus den Abendnachrichten von gestern, und wir zeigen euch, dass wir die Nachrichten verinnerlicht haben.

Man könnte also sagen, dass wir es mit einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Politik zu tun haben. Aber gleichzeitig würden Sie nicht von einer konservativen öffentlichen Meinung sprechen, sondern eher davon, dass die Meinungsforschungsinstitute in ihren Methoden selbst konservativ sind?

Konservativ ist die Sprache, in der sie mit den Menschen zu sprechen versuchen. Die öffentliche Meinung ist etwas, das von Umfragen produziert wird. Umfragen sind performativ. Von Pierre Bourdieu stammt der berühmte Aufsatz Die öffentliche Meinung gibt es nicht, der von vielen leider missverstanden wurde. Bourdieu sagt, dass es zweifelsfrei eine öffentliche Meinung als Produkt der Tätigkeit von Meinungsforschungsinstituten gibt. Wir könnten sogar sehen, dass sie eine immer größere Rolle in den Polittechnologien spielt. Sie existiert nur in dem Sinn nicht, als dass es keine unvoreingenommene, unabhängige Realität gibt, die man mittels Umfragen einfach nur neutral misst und abbildet.

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Präsidentenrating

Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

Am 22. Oktober 2015 meldete das 1987 gegründete staatliche Umfrageinstitut WZIOM1 erneut einen Rekordwert von 89,9 Prozent Zustimmung für Präsident Wladimir Putin. Seit der Angliederung der Krim im Frühling 2014 war der Zustimmungswert nach langjährigem Tief zwischen 60 und 70 Prozent wieder auf über 80 Prozent angeschwollen. Als Begründung für das Oktoberhoch nannte WZIOM das russische Eingreifen in Syrien. Schwankungen im Präsidentenrating und deren mögliche Ursachen lassen sich am besten mit Rückgriff auf russische und internationale Meinungsforschung erklären, die seit 1990 die Zustimmung zu sowjetischen und russischen Präsidenten analysiert.

Auffällig ist, wie unterschiedlich die Präsidenten Jelzin in den 1990ern und Putin in den 2000ern von der Bevölkerung bewertet werden. Fand Jelzin im September 1991 noch bei 81 Prozent der Bevölkerung Zustimmung, so waren es am Ende seiner Amtszeit gerade einmal 8 Prozent, vor den Präsidentschaftswahlen 1996 lagen seine Werte lange unter denen des Kommunisten Gennadi Sjuganow. Noch als Premier hatte Wladimir Putin im August 1999 eine Zustimmung von 31 Prozent, im Januar 2000 als designierter Jelzin-Nachfolger waren es schon 84 Prozent. Seitdem liegen Putins Werte dauerhaft über 60 Prozent. Bemerkenswert ist zudem, dass er von 2008 bis 2012 selbst als Premierminister mehr Zustimmung erfuhr als der amtierende Präsident Dimitri Medwedew.

Grafik 1: Zustimmungswerte und Bewertung von Boris Jelzin (1993 - 1999) und Wladimir Putin (2000 - 2008) nach einem Datensatz von Daniel Treisman.2

Vor Präsidentschaftswahlen nahmen die Zustimmungswerte von Putin und Medwedew zu – nicht zuletzt durch Einsatz von Administrativer Ressource (siehe auch Polittechnologie) soll potentiellen Gegeneliten Macht demonstriert und unzufriedenen Bevölkerungsgruppen signalisiert werden, dass Proteste gegen Wahlfälschungen fruchtlos sind.3 Die Versessenheit Putins auf Zustimmungswerte wurde deswegen auch als Ratingokratie4 bezeichnet, was durchaus populistische Gesten gegenüber der Bevölkerung mit einschließt. Zudem können außergewöhnliche Ereignisse wie die Geiselnahme im Dubrowka-Theater 2002 oder der Georgienkrieg 2008 zu Höchstständen führen. Die Zustimmung kann aber auch zeitweilig einbrechen, so etwa 2005, als einige Sozialleistungen in einen Geldwert umgerechnet wurden, oder bei den Bolotnaja-Protesten 2011.

Grafik 2: Zustimmungswerte von Wladimir Putin und Dimitri Medwedew 1999 - 2015, Zusammenstellung nach Daten des Lewada-Zentrums.5

Forschungsergebnisse legen nahe, dass das Präsidentenrating stark von wirtschaftlichen Faktoren abhängt, genauer: davon, wie die russischen Bürger die Zukunftsperspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung wahrnehmen. Dabei scheint die Wahrnehmung der Volkswirtschaft als ganzer wichtiger zu sein als die der Entwicklung der eigenen Finanzen.6 Auch der Personenkult und das Phänomen Putin sind keineswegs dem entkleideten Torso des langjährigen Staatsoberhaupts zu verdanken. Vielmehr bringen Russen, die die Entwicklung der russischen Wirtschaft als positiv einschätzen, dieses Wachstum mit der Person Putin in Verbindung.7 Mit einem komplexen statistischen Verfahren kommt Daniel Treisman zu dem Schluss, dass Jelzin mit den Wirtschaftsdaten der Putinjahre einen positiven Trend bei der Zustimmung aufgewiesen hätte und 1999 auf einer Zehnpunkteskala anstatt mit zwei gar mit einer acht bewertet worden wäre.8

Konsequenterweise sanken mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise nach 2008 auch die Zustimmungswerte von Putin und Medwedew, und zwar bei allen sozialen Gruppen. Insbesondere die kreative Klasse, Frauen, Wohlhabende und Einwohner von Kleinstädten machten Wladimir Putin persönlich verantwortlich.9 Bei ihnen verlor Putin am stärksten an Unterstützung. Die Bedeutung der Angliederung der Krim und des Ukraine-Konflikts sowie der Syrienkrise ist wohl darin zu sehen, dass das Präsidentenrating bis auf weiteres von der Wahrnehmung der Wirtschaft entkoppelt (siehe auch Gesellschaftsvertrag) und auf die Außenpolitik umgepolt wurde. Der Leiter des Lewada-Zentrums Lew Gudkow meint, dass ideologische Elemente wie Neotraditionalismus, geopolitische Denkmuster, die Einheit der Nation, Anti-Westernismus verbunden mit dem Glauben, dass es eine Verschwörung gegen Russland gebe, derzeit das hohe Rating von Putin begründen.10

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die befragten Bürger bei Meinungsumfragen wahrheitsgemäß ihre Präferenzen angeben und Putin tatsächlich populär ist.11 Dennoch kommt es in Russland, wie auch in vergleichbaren autoritären Regimen, durch Einschränkung der Medienfreiheit, der bewusst forcierten „Alternativlosigkeit“ Putins als Präsident sowie durch gezielte Repressionen gegen öffentlich sichtbare Andersdenkende bei medialen Meinungsführern zu sogenannten Präferenzfalsifikationen12. Dies bedeutet, dass öffentlich und privat geäußerte Ansichten dieser Meinungsmacher auseinanderklaffen, also öffentlich eine positive Meinung geäußert wird, auch wenn die Personen im Privaten vom Gegenteil überzeugt sind. Dies kann sich auch in den tatsächlichen Ansichten der breiten Bevölkerung niederschlagen.

Zuletzt ist anzumerken, dass die Höhe der Zustimmungswerte nichts über Tiefe und Dauerhaftigkeit der Zustimmung aussagt. Hohe Präsidentenratings gehen durchaus auch mit einer kritischen Bewertung der Lage im Land einher: Die Liste der Antworten auf die Frage, in welchem Bereich Putin am wenigsten erfolgreich war, führen Antikorruptionsmaßnahmen, die Verbesserung des Lebensstandards, Einschränkung des Einflusses von Oligarchen und Verbrechensbekämpfung an.13 Zudem erzeugen Rekordwerte bei der Zustimmung auch Druck auf den Präsidenten, da jedes noch so kleine Wiederabsinken den Eliten und der Bevölkerung Schwäche signalisiert.


Mehr dazu: Das Präsidentenrating für Wladimir Putin als interaktive Infografik

1.Wciom.ru: Press vypusk No.2958
2.Treisman, Daniel (2011): Presidential popularity in a hybrid regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science 55(3), S. 590-609
3.Hale, Henry E. (2014): Patronal Politics: Eurasian Regime Dynamics in Comparative Perspective, Cambridge University Press, S. 74f.
4.Russkij Žurnal: Konec rejtingokratii
5.Levada.ru: Assessment of situation in the country
6.Treisman, D. (2011): Presidential popularity in a hybrid regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science, 55(3), S. 590-609 und Rose, R. / Mishler, W. / Munro, N. (2011): Popular support for an undemocratic regime: The changing views of Russians. Cambridge University Press
7.White, S. / McAllister, I. (2008): The Putin Phenomenon, in: Journal of Communist Studies and Transition Politics, 24(4), S. 604-628; Rose, R. (2007): The impact of president putin on popular support for Russia's regime, in: Post-Soviet Affairs, 23(2), S. 97-117
8.Wichtig anzumerken ist, dass Treisman dabei die Wirtschaftsleistung nicht den jeweiligen Präsidenten zuschreibt, sondern jeweils als „geerbt“ betrachtet: Jelzin erbte eine kollabierende Wirtschaft von der Sowjetunion, und Putin profitierte vom Ölpreisboom.
9.Treisman, D. (2014): Putin's popularity since 2010: why did support for the Kremlin plunge, then stabilize? In: Post-Soviet Affairs, 30(5), S. 370-388
10.Gudkov, L. (2015): Antiamerikanismus in Putins Russland: Schichten, Spezifika, Funktionen, in: Osteuropa 4/2015, S. 73–97
11.Frye, T, Gehlbach, S. / Reuter, O.J. (2015): Is Putin’s popularity real? In: Ponars Eurasia Policy, Memo 403
12.Institute of Modern Russia: Timur Kuran: 'An Atmosphere of Repression Leads to Preference Falsification Among Opinion Leaders'
13.Daten des Lewada-Zentrums
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