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Wo ist Superman Putin?

Nur zögerlich, erst Ende März 2020, ist Wladimir Putin öffentlich gegen die Corona-Epidemie eingetreten: Am Montag, 23. März, zeigte er sich im Schutzanzug in einem Infektionskrankenhaus, am Mittwoch, 25. März, hielt er die erste Fernsehansprache, zwei weitere folgten inzwischen. 
Kremlkritische Beobachter – wie etwa der Politologe Gleb Pawlowski – bemängeln, der Präsident wirke derzeit wenig überzeugend. So ist es vor allem der Moskauer Bürgermeister Sobjanin, der mit Maßnahmen gegen das Coronavirus auffällt. Sobjanin sei es gewesen, schreibt etwa Iwan Dawydow, der Wladimir Putin am Tag vor der ersten Fernsehansprache erklärte, dass die „Ansteckung hochdynamisch“ ist. 

Auf Republic formuliert der Oppositionspolitiker Leonid Gosman seine Kritik am Auftreten Putins und die mutmaßlichen Gründe dahinter. Gosman ist unter anderem Präsident der liberalen politischen Bewegung Union der Rechten Kräfte. Gerade seine Schlussthese mag manchem Leser etwas zu steil erscheinen. Weil er viele Beobachtungen und Kritik, wie sie in den letzten Wochen von unterschiedlichen Seiten geäußert wurde, aber sehr pointiert zusammenfasst, ist sein Text jedoch unbedingt lesenswert.

Источник Republic

Beobachter kritisieren, er wirke wenig überzeugend – Putin bei seiner ersten Fernsehansprache zur Epidemie am 25. März 2020 / Foto © kremlin.ru

Was steht uns bevor? Die Epidemie wird abflauen – bisher haben alle Epidemien ein Ende gefunden. Es werden leider noch Menschen sterben, einige von uns werden Angehörige oder Freunde verlieren, doch die meisten werden überleben. Wir werden zu unserem normalen Leben zurückkehren. Das wird dann aber in einem anderen Land sein. In einem politisch veränderten Land.

Vertrauen in das System vs. Vertrauen in die Person

Das politische System kann schwere Zeiten überstehen, wenn eine der folgenden zwei Bedingungen gegeben ist: Vertrauen in die Institutionen oder Vertrauen in die Personen. 
Vertrauen in die Institutionen, das ist die Variante der USA. Die Universitäten, die größten Städte, die gebildeten Bevölkerungsschichten, die Beamten – alle sind gegen Präsident Trump. Und alles ist in Ordnung, alles stabil. Viele meinen, dass der Präsident zu nichts taugt, aber sie glauben an das System, an die Abläufe.

Das entgegengesetzte Beispiel war Kuba unter Fidel. Es gibt keinerlei Institutionen, aber es gibt Fidel Castro, den Glauben an ihn, die Kraft, die von ihm ausgeht. Natürlich wird das alles noch durch Repressionen unterfüttert, aber es beruht nicht auf diesen allein. Das Regime kam nicht wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten in die Bredouille, oder weil (wie in dem alten sowjetischen Witz) sie keine Patronen mehr hatten , sondern weil der gealterte Fidel nur noch ein Schatten seiner selbst war: Der Glaube an ihn war Geschichte.

Unser System dagegen beruht nicht auf Institutionen. Putin ist nicht Präsident, weil er gewählt wurde – er wurde gewählt, weil er Präsident ist. Seine Legitimität, wie sie sich in den ersten Monaten seiner Regentschaft herausbildete, beruhte auf seinem Charisma, dem Glauben an ihn. Er ist ein Sieger, er steht für die einfachen Leute, solche wie du und ich. Meine Feinde sind seine Feinde. „Ich will so einen wie Putin“, „Sein Gang ist so sexy“, „Geht doch allen gut!“. Gibt sogar einen Wodka Putinka. Und wenn Sie selbst diese Gefühle nicht gehegt haben, egal – es gibt genug andere, die so fühlten.

Das Bild vom Superman

Putin und sein Team haben zielstrebig das Bild eines Supermans geschaffen: Er flog einen Düsenjäger, demonstrierte seine Wurftechnik auf der Judomatte und ließ sich mit nacktem Oberkörper fotografieren. Mitunter kam es zwar zu albernen Übertreibungen, wie mit den griechischen Amphoren oder den sibirischen Kranichen, aber insgesamt hat es erstmal funktioniert.

Putin wird dafür kritisiert, dass er sich um Umfragewerte kümmert. Es ist Unsinn, ihn dafür zu kritisieren, Er macht das völlig richtig. Schließlich beruht seine Macht gerade auf seinen Umfragewerten. Und was passiert, wenn die abstürzen, das weiß niemand.

Jetzt sind sie allerdings abgestürzt. Das wird nicht nur aus den Meinungsumfragen deutlich (die Umfragewerte sind zwar wieder besser, allerdings ganz offensichtlich frisiert), sondern auch in den Geschäften, auf dem Markt, im Bus – trotz aller sozialer Distanzierung. Das ist offensichtlich, nicht, wenn man nicht die ganze Zeit fernsieht, sondern wenn man bloß mal aus dem Fenster schaut.

Die große Enttäuschung

Das hat nicht gerade erst jetzt begonnen. Und das Vorgehen der Opposition – enthüllen und die Inkompetenz der Regierung herausstellen – spielt dabei längst nicht die wichtigste Rolle, vielleicht sogar gar keine. Zu merken ist natürlich der Ermüdungsfaktor: Ein und dasselbe alternde Gesicht, ein und dieselben Worte, Scherze, Versprechungen. Doch das Wichtigste ist die Enttäuschung. Die Enttäuschung über die Staatsmacht, und da die Macht personifiziert ist, ist man eben enttäuscht von dieser Person. 

Die Anhebung des Rentenalters etwa hat die Regierung nicht ohne Verluste überstehen können. Hätte sich der Präsident allerdings sofort ans Volk gewandt, hätte er Verständnis für die Wucht des Schlages gezeigt, den Millionen zu spüren bekommen, hätte er mit den Bürgern auf Augenhöhe gesprochen und nicht versucht, sie mit kleinen Vergünstigungen abzulenken, hätte er sich wie ein Mann verhalten, dann wären die Umfragewerte nicht so stark zurückgegangen.

Damals haben ihm seine Anhänger zum ersten Mal etwas übel genommen: Mit seinem langen Schweigen hat er ihre Erwartungen enttäuscht. Der mit dem nackten Oberkörper und auf dem U-Boot, der, der die Russophoben in aller Welt zurechtweist, hätte sich anders verhalten sollen.

Und jetzt die Epidemie.

Die Maßnahmen, die der Präsident verkündet und die er nicht verkündet hat, wurden eingehend analysiert. Ich spreche aber von Erwartungen und Enttäuschungen. Man wartete auf seine Rede, fragte sich: Warum schweigt er? Von seiner zweiten Rede dann erwartete man sich schon nichts mehr. Sie hat niemanden beruhigt und keine Hoffnung gegeben. Sie hat nur für noch mehr Zorn gesorgt.

Das Ausmaß dessen, wie unpassend er in den letzten Tagen vor das Volk tritt, wie sehr er nicht dem entspricht, zu dem er durch sein Amt verpflichtet ist, ist für die Bürger einfach nur unfassbar und beleidigend. Und natürlich ist es mittlerweile schwer, wenn nicht gar unmöglich, noch jemanden zu finden, der auf diesen Präsidenten hofft und glaubt, dass er ihm helfen wird. Das lässt sich auch nicht durch außenpolitische Siege kompensieren, die man sich vielleicht weiter zurechtdenken könnte. Angesichts der Epidemie, der Angst, ohne Geld und Arbeit dazusitzen, können solche Siege nicht mehr ablenken und bringen keine Freude – Putin hat sich demonstrativ geweigert, die tatsächlichen Probleme der Menschen zu lösen.

Der Kommandeur im Bunker statt auf dem Pferd

Kann die Staatsmacht Staatsmacht bleiben, wenn sie nicht respektiert wird? Intuitiv wird einem klar: Ein System, das bei den Menschen keinen Respekt und kein Vertrauen genießt, kann sich zwar in ruhigen Zeiten halten. Es übersteht aber keine Erschütterungen, ein träges Verhalten reicht nicht aus, wenn von der Regierung erwartet wird, den Rahmen üblicher Standards zu verlassen und wenn von der Bevölkerung ein Verhalten verlangt wird, das alles andere als Routine ist. In einem autoritären System muss der Kommandeur auf einem feurigen Pferd voranreiten. Sitzt er jedoch im Bunker, zerfällt die Machtvertikale und hinterlässt den unangenehmen Geruch dessen, woraus sie bestand.

Die Einstellung vieler Bürger zur Regierung verändert sich – und gleichzeitig geschieht vor unseren Augen noch etwas anderes. Die oberste Staatsmacht und der Präsident persönlich sind objektiv in einen Konflikt mit jenen geraten, die Stütze und Auge des Herrschers sein sollten – mit den Gouverneuren. Ihnen für alles die Verantwortung zu übergeben, versetzt sie in eine fast ausweglose Lage.

Die Gouverneure sind sich selbst überlassen

Sie haben weder die finanziellen noch andere Mittel, um ihre Regionen in einer Situation zu verwalten, die zwar nicht erklärtermaßen, aber faktisch einen Ausnahmezustand darstellt. Die meisten sind eh nicht für ein Gouverneursamt geeignet – das Auswahlkriterium war in ihrem Fall persönliche Ergebenheit. Sie sollen keineswegs regieren, sondern die Kommandos von oben weiterleiten und im Gegenzug Geld und Stimmen nach oben liefern. Und diesen Gouverneuren wurde jetzt gesagt, dass sie es sind, die im Falle eines Misserfolgs aufgespießt werden.

Drei sind zurückgetreten, aber wie viele verhehlen ihre Kränkung? Und die wenigen, die nun plötzlich in sich die Kraft finden, Mittel zu sichern (sie etwa den Oligarchen vor Ort aus der Tasche ziehen) und diese Situation würdig meistern, werden die bereit sein, in den Stall zurückzukehren? Wie auch immer die Epidemie sich entwickelt, das Verhältnis der Gouverneure zur obersten Staatsmacht wird sich ändern und ganz sicher auch ihre Bereitschaft, dieser ergeben zu dienen. Die Einheit und Geschlossenheit der herrschenden Gruppe ist drastisch geschwächt.

Sie hatte 20 Jahre darauf beruht, dass Putin – für viele unerwartet – in der Lage war, „seine Leute“ aufzubauen und ein tatsächlicher Anführer des Teams zu sein. Die Angst, dass man ohne Putin dastehen könnte, die sie dem behördenhörigen Volk jahrelang eingetrichtert haben, war ihre Angst.

Natürlich hat sich der Unmut seit Jahren angesammelt, schon mit Beginn der Sanktionen, als das geregelte bequeme Leben ins Stocken geriet. 

Und jetzt hat sich Putin zurückgezogen. Man kann nur vermuten, was mit ihm los ist: Vielleicht ist er krank, hat Angst wegen der Epidemie oder hat sich wegen der Krise erschossen?! Man könnte das mit Stalin in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges vergleichen. Wichtig ist jedoch, dass er vielen Anzeichen nach nicht nur von den Bildschirmen verschwunden ist, sondern auch nicht mehr jene oberen Tausend im Griff hat, die das Land verwalten.

All das bedeutet, dass das Virus unser Land – es hat ja schon ganz anderes überstanden – nicht auslöschen wird, das politische System eventuell aber schon. 

Kommt eine Palastrevolte?

Eine Palastrevolte schien mir stets unwahrscheinlich, doch nun ändert sich die Situation. Putin ist praktisch weg, das Land schliddert in den Abgrund, es gibt keine Institutionen und vor allem keine Zusammenarbeit zwischen ihnen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir in nächster Zeit das gleiche erleben, was viele, viele andere Länder durchgemacht haben: „Wegen der schweren Erkrankung des Präsidenten und angesichts der aus dem Ausland drohenden Gefahr für die Unversehrtheit des Landes, und im Sinne der Sicherheit der Bürger …“ Ganz vorübergehend, versteht sich. Und wer kommt zur Rettung? Die Gouverneure, die er gerade erst bloßgestellt hatte? Die Unternehmen, die er ruiniert hat? Das Volk, dem angeraten wurde, aus eigener Kraft zu überleben? Bleiben die Nationalgarde und OMON-Kräfte aller Art. Die können zwar auf den Straßen und Plätzen wirksam werden, aber nicht innerhalb des Palastes.

Das kann natürlich vorübergehen. Doch in jedem Fall wird das Land ein anderes sein. Ich denke, gleich nach dem Abflauen der Epidemie wird etwas von grundlegender Bedeutung geschehen. Oder sogar schon früher. 

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Attribute der Macht

Seit Mitte der 2000er Jahre strahlt das russische Fernsehen eine „visuelle Konstante“ aus, die man „öfter sieht als den Wetterbericht“.1 Auf diese Pointe brachte es der russische Politologe Alexander Elin. Gemeint ist Wladimir Putin.
Dabei ist der Präsident nicht nur in staatsnahen Medien allgegenwärtig: Viele russische Souvenirläden bieten entsprechende Devotionalien feil, T-Shirts mit Putins Konterfei kann man an Moskauer Flughäfen sogar im Automaten kaufen, und auf YouTube findet man rund ein Dutzend Loblieder auf den Leader

Worin besteht der so oft in unabhängigen Medien kolportierte Persönlichkeitskult um Putin? Welche Attribute werden dem Leader zugeschrieben? Und auf welche Kraft setzt der Kreml bei den Bildern?  

Putin-Ikonen aus der Bildersuche von Yandex. Solche Devotionalien bekommt man auch in manchen russischen Souvenirshops / Bild © Screenshot aus der Yandex-Bildersuche nach „Putin Ikona“

Charisma und Verdienste

In autoritären Systemen sollen das Charisma sowie die Verdienste des Herrschers den Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen hervorrufen.2 Manche russischen Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang vom Imagemaking, der Russland-Experte Richard Sakwa von der „Arbeit am Charisma“ des nationalen Leaders. Laut Sakwa hat der Aufbau der sogenannten Machtvertikale Anfang der 2000er Jahre eine Legitimitätskrise ausgelöst: Die Aushöhlung demokratischer Mechanismen erforderte demnach eine neue Legitimationsstrategie, und diese sei seit der Mitte der 2000er Jahre auch durch die ständigen „mobilisierenden Bemühungen für die Unterstützung seines [Putins] Images“3 entstanden. 

Diese Bemühungen schlugen sich nieder in Symbolen und in Diskursen. Dazu gehört vor allem die Erzählung über das Russland der 2000er Jahre.

Gotteswunder 

Die postsowjetische Gesellschaft Russlands versank in den 1990er Jahren in Chaos und Kriminalität, die Privatisierung der Betriebe bot ein Schlachtfeld, das rücksichtslose Oligarchen plünderten. Als lichie 1990e – „verrückte“ oder „wilde 1990er“ – sind diese Jahre der Gesellschaft bis heute im Gedächtnis, oder auch als prokljatije, „verfluchte 1990er“. 

Patriarch Kirill zog hier gar Parallelen zur Smuta – die Zeit der Wirren zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Das Ende dieser „Smuta“ der 1990er Jahre verglich der Patriarch entsprechend mit einem „Gotteswunder“, das aufs Engste mit Putin verknüpft sei.4 Demnach sei es Putin binnen weniger Jahre gelungen, das Land „von den Knien zu erheben“. Wie ein Phönix aus der Asche sei Russland emporgestiegen und endlich wieder auf Augenhöhe mit anderen Mächten. 

Wladislaw Surkow soll bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas erhoben und dazu aufgerufen haben, „auf die Vergöttlichung der Macht!“ zu trinken.5 Viele russische Politologen sehen heute in dem Trinkspruch Programm. Hier steht Putin auf dem byzantinischen Thron in der orthodoxen Mönchsrepublik Athos. / Foto © kremlin.ru

Handsteuerung (mit starker Hand)

In diesem Zusammenhang ist auch immer wieder die Rede von der Handsteuerung (russ. „Reshim rutschnogo Uprawlenija“) oder der „starken Hand“ (russ. „silnaja Ruka“). Als politisches Symbol tauchen diese Begriffe vor allem im Kontext damit auf, dass Putin die Lösung bestimmter Probleme „zur Chefsache mache“ beziehungsweise sie „selbst in die Hand nehme“. Viele Politikwissenschaftler erklären die Handsteuerung auch mit dem Phänomen der Machtvertikale – die autoritäre Konsolidierung des Landes und Machtkonzentration in einer Hand. 

So bemüht die „Arbeit am Charisma“ neben einer gewissen Art der Sakralisierung also auch das Motiv der Stärke. Musterhaft dafür steht Putins allererste Amtshandlung als Interimspräsident: Am 31. Dezember 1999 besuchte er russische Soldaten an der Front in Tschetschenien und schenkte ihnen Jagdmesser. Laut manchen Polittechnologen war es eine PR-Aktion, die darauf bedacht war, Putins Profil mit dem Attribut der Stärke zu füllen und gleichzeitig an die Popularität der Armee anzuknüpfen.6 

Putins allererste Amtshandlung als Interimspräsident: Am 31. Dezember 1999 besuchte er russische Soldaten an der Front in Tschetschenien und schenkte ihnen Jagdmesser. / Foto © kremlin.ru

Tatkraft und Gesundheit

Schon einige Tage zuvor hatte Putin versprochen, „gnadenlos“ gegen die „Feinde Russlands“ vorzugehen. Als solche markierte er den tschetschenischen Separatismus, die Massenarmut und die Oligarchie.7 Diese Triade der Feinde wiederholte er auch nach seiner Amtsübernahme sehr oft, dabei sparte er auch nicht mit martialischem Vokabular: Russland müsse gegenüber seinen Feinden „tyrannisch“ sein, die Feinde seien „Ratten“, die „vernichtet“ gehören, wenn es sein muss, dann müsse man sie auch „im Scheißhaus kaltmachen“.8
Mit dieser Wortwahl gab sich Putin einerseits als ein tatkräftiger Politiker, der „hart durchgreift“ und „Klartext“ spricht, andererseits setzte er sich aber auch von seinem Vorgänger Jelzin ab: Dieser galt vor allem zum Ende seiner Präsidentschaft als ein siecher Alkoholiker, der viele Menschen an die Epoche der sowjetischen Gerontokraten erinnerte. Auch die im Westen so oft belächelten Bilder von Putin mit freiem Oberkörper schlagen in dieselbe Kerbe: Einer Umfrage aus dem Jahr 2012 zufolge schätzten die Menschen in Russland an ihrem Präsidenten vor allem seine Tatkraft und seine Gesundheit.9 Mit diesen Eigenschaften setzte sich der Präsident nicht nur von Boris Jelzin ab, sondern auch von dessen Epoche – dem Chaos der 1990er Jahre10.  

Fachmann am Steuer

Seine Tatkraft stilisierte Putin auch, indem er sich am Steuer zeigte: Im Rennauto, im Kampfjet, im U-Boot, oder auf einem Mähdrescher – der Präsident schien stets darum bemüht, sich so darzustellen, als habe er fest die „Zügel (oder das Steuer) in der Hand“. Unter etwas anderen Vorzeichen ist das Motiv des „Politikers als Steuermann“ bereits bei Platon zu finden. In Politeia wandte sich der Philosoph mit diesem Gleichnis sowohl gegen Demokratie als auch gegen Oligarchie und Tyrannis: Im „idealen Staat“ solle der „echte“ Steuermann-Politiker ein Fachmann sein, nur so könne laut Platon Gerechtigkeit walten.11

Gangster

Der Fotograf namens Platon verewigte Putin dagegen in einem Bild, an dem sich immer noch die Geister scheiden. Das Time Magazine hatte Putin 2007 zum Mann des Jahres gewählt und schickte den Fotografen nach Moskau zu einem Shooting. Laut Platon mochte Putin das Ergebnis, „weil es ihn als harten Kerl zeigt“.12 Die politische Ikonografie der Putin-Gegner benutzt das Bild dagegen oft bei Protestveranstaltungen, als Schreckbild. 

Laut Fotograf Platon mochte Putin das Bild, „weil es ihn als harten Kerl zeigt“. Für Kreml-Kritiker spricht das Foto jedoch Bände. / Bild © Screenshot aus der Yandex-Bildersuche nach „Putin Proteste“

1.zit. nach/vgl.: Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 333 
2.vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (Hrsg.): Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f. 
3.vgl. Sakwa, Richard (2008): Putin i vlast' protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V.V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31, hier S. 30 und Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: OSTEUROPA, 62. Jg., 5/2012, S. 47-67, hier S. 60ff. 
4.zit. nach: stoletie.ru: Cerkov’ vsegda byla s narodom 
5.zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69 
6.vgl. novayagazeta.ru: Pobedit' na vyborach ili stat' prezidentom 
7.vgl. Ščerbinina, Nina (2010): Mifo-geroičeskoe konstruirovanie političeskoj real'nosti Rossii, S. 204 
8.vgl. ebd. S. 203ff. und Fleischmann, Eberhard (2010):  Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund, S. 313 
9.vgl. romir (2012): Neotvratimaja neotrazimost': 50 % rossijan po-prežnemu sčitaet, čto Vladimir Putin ne imeet nedostatkov, S. 1. und Fleischmann, Eberhard (2010):  Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund, S. 30 
10.vgl. Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: OSTEUROPA, 62. Jg., 5/2012,  S. 47-67, hier S.  48 
11.vgl. Platon (2000): Der Staat, Sechstes Buch, III. und IV. sowie Münkler, Herfried (1994): Arzt und Steuermann: Metaphern des Politikers, in: ders.: Politische Bilder: Politik der Metaphern, S. 125-140 
12.vgl. zeit.de: Putin-Fotograf Platon. „Ich spürte die kalte Autorität“ 
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