Quo vadis, Russland? Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, der Ölpreis im Keller, die westlichen Sanktionen gehen weiter. Ökonomische Schwäche durch vermeintliche außenpolitische Erfolge zu kaschieren – das könne auf Dauer nicht gut gehen, warnen zwei renommierte Experten: Alexej Lewinson vom Lewada-Zentrum und Ljubow Borussjak von der Moskauer Higher School of Economics. Für Slon skizzieren sie die unterschiedlichen politischen Perspektiven und Hoffnungen innerhalb der russischen Gesellschaft für das kommende Jahr.
Denkt man darüber nach, was das neue Jahr wohl bringen mag, stellt sich auf die eine oder andere Weise die Frage nach möglichen Veränderungen: Die einen träumen von einer Wende zum Besseren, die anderen fürchten den Wandel zum Schlechteren. Die meisten jedoch setzen auf die Erhaltung des Status Quo, also darauf, jede Veränderung zu vermeiden.
Immer häufiger jedoch begegnet einem der Gedanke, dass sich der gegenwärtige Zustand unmöglich aufrechterhalten lässt. Wenn es zurzeit überhaupt ein Gleichgewicht gibt, dann funktioniert es so: Wirtschaftliche Schwächen werden durch außenpolitische Erfolge ausgeglichen – und seien es nur eingebildete. Dabei ist vielen klar: Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiter. Und bedeutende militärische und politische Erfolge sind nicht zu erwarten.
In dem bekannten Halbscherz von der Schlacht „Fernseher gegen Kühlschrank“ wird angedeutet, dass der leere Kühlschrank bald gewinnen wird. Danach, so darf man annehmen, kommt es zu Hungerrevolten. Und was folgt dann? Eine Revolution nach dem Muster der Februar- oder der Oktoberrevolution? Die Wenigsten sind in der Lage, sich den nächsten Schritt vorzustellen, bzw. bereit, die möglichen Szenarien zu durchdenken. Bei der einen Perspektive – dem möglichen Untergang Russlands – wäre das Höchste der Gefühle an Reaktion ein heftiges Erschrecken: Es wäre das Ende – über das, was danach kommt, möchte niemand nachdenken.
Wir sind weder Anhänger des Schlachtszenarios zwischen Kühlschrank und Fernseher noch erwarten wir Revolution und Untergang, aber dass das derzeitige Gleichgewicht durch ein anderes ersetzt werden muss, steht außer Frage. Wissen wir, wie es aussehen wird? Nein. Was wir aber kennen, sind einzelne Utopien. Und die versuchen wir im Folgenden zu beschreiben.
Die Utopie des Krieges
Eine weitere Perspektive ist die Rückkehr zu der Situation, wie sie sich direkt nach der Angliederung der Krim, aber vor den Sanktionen und der Wirtschaftskrise darstellte: Russland auf dem Gipfel des Ruhms, „wir sind stark, aber friedlich“ und das wird der Westen bald anerkennen. Dies wünschen sich die Mehrheit der Bevölkerung und die Eliten am meisten. Doch es ist klar, dass dieser Zustand in den nächsten Jahren (ja, überhaupt) unerreichbar ist.
Umfragen zufolge hat sich seit dem Krim-Anschluss in der russischen Gesellschaft das Bewusstsein durchgesetzt, nicht in „alltäglichen“, sondern in „Ausnahme-Zeiten“ zu leben. Ein solches Ausnahme-Bewusstsein denkt in den Kategorien der Heldentat. Es geht deshalb davon aus, dass weder Opfer noch Mühen gescheut werden sollten, dass der Sieg keinen Preis kennt und dass die Siegesfreude ausnahmslos alle ergreifen und vereinen wird.
Das Alltagsbewusstsein beruht auf entgegengesetzten Prinzipien: Es muss das normale Leben in der Gesellschaft gestalten. Im Alltag muss man zwangsläufig rechnen, wie teuer gewisse Dinge sind, und Wünsche danach prüfen, ob sie überhaupt zu erfüllen sind.
Natürlich erlaubt es das epische, von Heldentaten geprägte Bewusstsein, in einem wunderbaren Zustand zu verweilen, während das Alltagsbewusstsein mit düsteren Gedanken über die Lage und die dafür Verantwortlichen beschäftigt ist. Das derzeit Fatale ist, dass mithilfe der Medien versucht wird, die Ausnahmesituation (und das entsprechende Bewusstsein) nicht nur als Normalität, sondern auch als Norm zu verankern und das Alltagsbewusstsein als subversiv zu denunzieren. Die Gesellschaft im Ausnahmezustand zu halten und den alltäglichen Zustand verbieten zu wollen, ist jedoch utopisch und deshalb nicht machbar.
Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015
Diese Unerreichbarkeit treibt Politiker und Normalbürger zu abenteuerlichen Entscheidungen – zur Suche nach Lösungen mittels militärischer Erfolge. Die Schwelle, die uns vom realen Krieg als dem schlimmsten Übel abhält, ist in letzter Zeit dramatisch gesunken. So viele haben mit dem Begriff „Dritter Weltkrieg“ herumgespielt, dass es an der Zeit ist zu fragen, weshalb die Staatsanwaltschaft noch kein einziges Verfahren nach Artikel 354 des Strafgesetzbuches eingeleitet hat. Alle, die politisches Kapital aus Überlegungen schlagen wollen, wie sehr ein Krieg das gesellschaftliche Wohlergehen befördern könnte, seien daran erinnert, dass im Strafgesetzbuch ein Gesetz zu dieser Frage existiert: „Öffentliche Aufrufe zur Entfesselung eines Angriffskriegs … unter Nutzung der Medien durch Personen, die ein öffentliches Amt der Russischen Föderation oder eines ihrer Bestandteile innehaben, werden mit einer Geldstrafe … oder einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren belegt.“
Eine weitere Utopie der heutigen Zeit ist allerdings die Perspektive, die internen Probleme des Landes ausgerechnet durch solche extremen außenpolitischen Mittel zu lösen. Doch so werden diese Probleme nicht gelöst. Die Annahme, dass Russland sich auf militärischem Weg eine neue, vorteilhaftere Position in der Welt erringen könnte, ist nicht haltbar. Nicht haltbar deswegen, weil sie auf der primitiven Logik beruht, dass Frieden ein Ergebnis von Krieg ist. Die Stellung eines Landes in der modernen Weltordnung wird jedoch nicht mehr durch die Faktoren bestimmt, die in der Geopolitik relevant waren – einer Disziplin des vergangenen Jahrhunderts.
Was ist also zu tun? Die Gelder, die im Staatshaushalt für die Verteidigung vorgesehen sind, verteilen sich letztlich auf Millionen von Beschäftigten in der Rüstungsindustrie und bei den Streitkräften. Auch wenn wir der Auffassung sind, dass es für das Wohl der Gesellschaft besser wäre, diese Mittel in andere Wirtschaftsbereiche zu lenken, darf man das nicht vergessen. Die Hauptsache ist also, dass die mit diesen Geldern hergestellten Kugeln nicht abgefeuert werden. Das Land durch militärische Erfolge zu retten, ist eine Utopie. Es ins Unglück zu stürzen, ist hingegen leider eine sehr realistische Perspektive.
Die Atrophie des gesellschaftlichen Denkens
Es wäre wunderbar, anstelle dieser beiden dargelegten Perspektiven, die wir zu Utopien erklärt haben, eine dritte vorzuschlagen: Nennen wir sie „freies, demokratisches Russland“. Die über 80 Prozent der Bevölkerung, die heute ihre Zustimmung zu Putin bekunden, haben schließlich früher einmal ihre Zustimmung zu Gorbatschow und dann zu Jelzin zum Ausdruck gebracht und damit deutlich gemacht, dass sie die Perspektive einer demokratischen Entwicklung im Land unterstützen. Die Verteidigung dieser Ideale ist bekanntlich schwächer und schwächer geworden, heute scheint sie aus der politischen Realität Russlands völlig verschwunden zu sein. In der Tat gibt es zurzeit keine soziale Schicht, die eine solche Agenda verfolgen würde. Und auch von einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die sie öffentlich vertreten würde, fehlt jede Spur.
Aber darin liegt unserer Ansicht nach gar nicht das größte Problem. Denn die Ideen von Menschenrechten, von demokratischen Freiheiten und von einer demokratischen Gesellschaft sind im öffentlichen Bewusstsein als solche präsent, wenn auch zurzeit in verdeckter Form. Die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz haben gezeigt, dass diese Ideen in jedem Moment an die Oberfläche gelangen und große Menschenmengen inspirieren können. Das Problem ist, dass sie nach wie vor fast in demselben Gewand daherkommen, wie sie die Glasnost-Ära hervorgebracht hat – das heißt so, wie sie von den russischen Demokraten der Sacharow-Generation formuliert wurden. Die Aufgaben, die das moderne Russland stellt, lassen sich jedoch nur mit einer Neufassung dieser Ideen bewältigen, die die zeitlosen Werte von Gerechtigkeit und Freiheit zeitgemäß auslegt.
Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015
Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen sind nicht die edlen, zeitlosen Werte der Demokratie gefragt, sondern edle und moderne demokratische Konzepte. Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten inmitten des Kulturkonflikts, der über Europa hereingebrochen ist und über Russland hereinzubrechen droht? Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten in einer Gesellschaft, in der die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten einhellig abgelehnt wird? Wie kann sich die Gesellschaft aus der moralisch-rechtlichen Verstrickung lösen, die sich unter anderem aus dem Konflikt zwischen dem Recht der Nationen auf Selbstbestimmung und dem Verbot der Revision von Grenzen ergibt?
Und vor allem: Wie lässt sich der friedliche Übergang bewerkstelligen, weg vom augenblicklichen – als Putinismus, Autoritarismus, Totalitarismus und so weiter bezeichneten – Zustand, hin zu diesem freien und demokratischen Russland? Uns scheint, die russische Gesellschaft hat aufgehört, über diese Frage nachzudenken. Vielleicht ist es eine Utopie, sie zu stellen? Hoffen wir, dass das neue Jahr eine Antwort auf diese Frage bringt. Oder ist auch das – eine Utopie?