„Das werden sie doch nicht mit einem Kind tun!“

Eltern von jugendlichen Polithäftlingen in Russland berichten, wie ihre Kinder in die Fänge des staatlichen Haftsystems geraten sind. / Illustration © Ljalja Bulanowa
Eltern von jugendlichen Polithäftlingen in Russland berichten, wie ihre Kinder in die Fänge des staatlichen Haftsystems geraten sind. / Illustration © Ljalja Bulanowa

In Russland leben tausende Mütter von Polithäftlingen, von denen über einhundert jünger als 22 Jahre sind. Diese jugendlichen „Staatsfeinde“ sind etwa wegen „Terrorismus“ oder „Extremismus“ verurteilt worden. Pazifistische Flugblätter und Äußerungen im Internet werden mit langen Haftstrafen geahndet, diese drakonischen Urteilen sollen offenbar eine abschreckende Wirkung haben.

Mütter jugendlicher Polithäftlinge haben der Novaya Gazeta Europe erzählt, wie ihre Kinder hinter Gitter kamen, wie es ihnen dort ergeht und wie sie sich nun selbst am Pranger wiederfinden.


Kapitel 1. Eine Familie von Extremisten

„Ich schäme mich nicht für sie“

Lera Sotowa ist in einem Dorf bei Saratow geboren, wo ihre Mutter, Swetlana Sotowa, eine große Landwirtschaft hatte. 2016, als Lera 13 Jahre alt war, zog die Familie nach Jaroslawl.

Am 16. Februar 2023 wurde die nun 19-jährige Lera verhaftet, als sie versuchte, das Gebäude der Dorfverwaltung in Karabicha (rund 30 Autominuten von Jaroslawl entfernt) in Brand zu stecken. Dort wurden Hilfsgüter für Soldaten der russischen Armee gesammelt.

Erst viel später erfuhr ihre Mutter, dass Lera 24 Stunden in einem Büro festgehalten, geschlagen, mit einem Elektroschocker bedroht und mit dem Gesicht in den Schnee gedrückt worden war.

Lera Sotowa / Foto © FSB, Oblast Jaroslawl

Das Gericht verurteilte sie zu sechs Jahren Lagerhaft wegen „versuchten Terroranschlags“ (Artikel 205.1 StGB der Russischen Föderation). Erst 2029, mit 25, soll Lera aus dem Gefängnis entlassen. „Ich werde alt sein, niemand wird mich mehr brauchen“, gibt Swetlana die Worte ihrer Tochter wieder.

Vor der Verhaftung arbeitete Lera in einem Supermarkt, gewann in der Schule regelmäßig Wettkämpfe im Sprinten und Sportschießen, begeisterte sich für Handwerk und Malerei. In der Kolonie schuftet Lera nun in der Nähfabrik, den Lohn schickt sie ihren Eltern.

Zum Brandanschlag angestiftet habe sie ein gewisser Andrej per Messenger. Er habe sich als Mitarbeiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes vorgestellt, aber Swetlana vermutet den FSB dahinter. Sie habe von der Nachricht gewusst und versucht, ihre Tochter zu warnen.

Leras Vater ist beruflich viel unterwegs, er ist der Alleinverdiener in der Familie und kann Lera deshalb nicht besuchen. Als er von Leras Verhaftung hörte, sagte er: „Ich schäme mich nicht für sie.“

Lera Sotowa / Foto © FSB, Oblast Jaroslawl

Auf der Liste der „Extremisten“ steht nicht nur Lera, sondern auch ihre Mutter Swetlana. Seit dem Umzug nach Jaroslawl hat sie an mehreren Protestaktionen teilgenommen: gegen Medwedew, zur Unterstützung der belarussischen Revolution und Nawalny. Im November 2022 wurde sie zu einer Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel [damals etwa 500 Euro – dek] verurteilt, weil sie einen [Antikriegs-]Slogan an eine Kioskwand geschrieben und gelbe und blaue Chrysanthemen danebengelegt hatte.

Nach Leras Verhaftung, noch in der Nacht auf den 17. Februar, kamen drei FSB-Leute mit einem Durchsuchungsbefehl zu den Sotows nach Hause. Einen weiteren Monat später holten sie Swetlana ab – vor den Augen ihrer jüngeren Tochter, der 13-jährigen Warja.

Direkt nach der Durchsuchung wurde gegen die zweifache Mutter ein Verfahren wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ und wiederholtem „Aufruf zum Extremismus im Internet“ wegen Kommentaren in Telegram-Kanälen eingeleitet. Im Dezember 2023 verurteilte das Gericht Sotowa zu 350.000 Rubel [damals rund 3600 Euro – dek], obwohl die Anklage sieben Jahre Haft gefordert hatte. Swetlana vermutet, dass sie diese nie gesehene Humanität ihrer Tochter Warja zu verdanken hat.

Kapitel 2. Festschmaus in der Kolonie

„Mama, was, wenn es hier verwanzt ist?“

Leras Strafkolonie liegt 100 Kilometer von Jaroslawl entfernt.

„Natürlich weint sie, wenn sie mich sieht. Beim ersten Mal haben wir uns die Augen ausgeheult, und dann mussten wir plötzlich lachen.“

„Mama, was wenn die Räume hier verwanzt sind?“, fragte Lera. Swetlana antwortete: „Na und? Ich erzähle ja keine Lügen. Was soll ich schon von denen halten?“

Zu längeren Besuchen, bei denen sie und Lera ein Zimmer in einem Nebengebäude des Gefängnisses bewohnen, bringt Swetlana vor allem Essen mit. Sie kocht Gemüsesuppen, Bliny, kauft Kaviar, Fisch, Pilze und Eis.

Die Regeln hätten sich vor kurzem verschärft, sagt die Mutter: Während man früher so viel Essen mitbringen konnte, wie man wollte, ist die Menge jetzt auf 20 Kilo begrenzt. Davon können sich zwei Leute drei Tage lang ernähren, aber wenn eine Person mehr mitkommt, reicht es kaum noch.

„Bei meinem zweiten Besuch hatten wir ein Zimmer, in dem ein Porträt von Putin und der Text der Nationalhymne hing“, erzählt Swetlana und lacht.

Illustration © Ljalja Bulanowa

„Weil du ein Terrorist bist“

Alle Mütter warten sehnlich auf mehrtägige Besuche. Und alle kochen viel, damit sich ihre Kinder einmal anständig satt essen können. Tatjana Balasejkina, die Mutter des politischen Gefangenen Jegor Balasejkin, der wie Lera wegen „versuchten Terroranschlags“ zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, besuchte ihn im Mai drei Tage lang im Gefängnis in der Siedlung Metallostroi.

„In einer Strafkolonie zu landen, wo nur erwachsene straffällige Männer einsitzen, war beängstigend. Jetzt im Rückblick, nach allen Etappen auf dem Weg hierher, sagt Jegor, dass die Besserungsanstalt in Archangelsk die schlimmste für ihn war. So etwas hatte er noch nie gesehen“, berichtet Tatjana.

„Weil du Terrorist bist“, lassen sie dich nicht deine eigenen Hausschuhe tragen, sondern nur die Gefängnislatschen, die drei Nummern zu groß sind. „Weil du Terrorist bist“, musst du alleine in der Baracke bleiben, während die anderen einen Grillausflug ans Wasser machen.

Aber den Besuch bei ihrem Sohn in Archangelsk hat sie dennoch in guter Erinnerung.

„Ich habe tagelang gekocht, weil Jegor wahnsinnigen Hunger hatte. Die ersten zwei Tage hat er seinen Mund gar nicht zubekommen – er war nur am essen“, erzählt Tatjana. „Jetzt ruft er jeden Tag an und sagt, er habe Hunger. Das ist Horror, wenn dein hungerndes Kind dreißig Minuten von dir entfernt ist, und du kannst absolut nichts tun.“

Jegor, Schüler an einem Sankt Petersburger Gymnasium, war 16, als er beschloss, ein Rekrutierungsamt in Brand zu stecken. Er wollte ein Zeichen gegen die Mobilisierung setzen (sein Onkel war im Krieg gefallen). Es brach kein Feuer aus, niemand kam zu Schaden. Trotzdem wurde er verhaftet.

Beim ersten Verhör war Jegor geständig und beteuerte, dass er niemanden umbringen wollte. Zunächst lautete die Anklage „Vandalismus“, später wurde sie in „versuchten Terroranschlag“ umgemünzt. Man drohte Jegor mit Schlägen, Vergewaltigung und der Psychiatrie.

Im November 2023 wurde Jegor zu sechs Jahren Strafkolonie verurteilt. Der Minderjährige hatte mehrere Diagnosen: Autoimmunhepatitis, primär sklerosierende Cholangitis, Leberfibrose und Geschwüre (letztere zog er sich schon im Gefängnis zu, wo ihm der dritte Behinderungsrad zuerkannt wurde). Trotz seines Gesundheitszustands lehnte das Berufungsgericht eine Milderung des Urteils ab. 2029 soll Jegor aus der Haft entlassen werden, mit 22 Jahren.

„Das Flugzeug war voll mit Särgen“

„Als das alles [Russlands vollumfänglicher Angriffskrieg gegen die Ukraine – Anm. dek] losging, waren wir wie die meisten Russen der Meinung, dass uns das nichts angehen würde“, erinnert sich Jegors Mutter. Im Juni 2022 starb in der Ukraine der Bruder ihres Mannes, Jegors Onkel. „Er war beim Militär, Major der Aufklärung im Ruhestand. Im April ist er hin, und im Juni war er bereits tot.“

Jegors Familie begann zu zweifeln. Sie fuhren zum Militärflughafen, um den Leichnam abzuholen. Den Zinksarg hatte auch Jegor gesehen.

„Dieses Flugzeug war bis oben hin voll mit Särgen, verstehen Sie? Wir waren schockiert“, erinnert sich Tatjana.

Nach der Beerdigung fing Jegor an, sich für die Nachrichten zu interessieren und erzählte zu Hause vom Beginn des Konflikts, z. B. von der Krym. „Damals erkrankte Jegor an der Autoimmunhepatitis. Wir lagen ein halbes Jahr im Krankenhaus, die Ärzte konnten uns nichts Eindeutiges sagen. Das war 2014.“

Im Januar 2023, erzählt Jegors Mutter weiter, habe er sich „beruhigt und nicht mehr von dem Thema geredet“.

„Ich weiß noch, wie meine Mutter einmal aus Kasachstan anrief und sagte: ‚Tanja, ist doch gut, dass ihn das nicht mehr beschäftigt. Er hat sich beruhigt.‘ Und ich: ‚Hoffentlich behält er nicht bloß alle Sorgen für sich.‘“

Tatjana gibt sich selbst die Schuld, dass alles so gekommen ist. „Er war damals emotional schon völlig ausgelaugt und glaubte wahrscheinlich niemandem mehr, also kam er nicht mal mehr zu uns, um sich Hilfe zu holen. Da habe ich als Mutter versagt“, sagt sie.

Nach Jegors Verhaftung ist Tatjana mit Haut und Haaren in die Politik eingetaucht.

„Ich kann nicht anders. Ich sitze und sauge die ganzen Nachrichten förmlich in mich auf.“

Tatjana erinnert sich, wie sie einmal gefragt wurde, was Jegor interessieren würde, wenn man ihm einen Brief schreiben will, und ihr klar wurde, dass sie das gar nicht weiß.

„So weit ist er jetzt von mir weg“, sagt sie traurig.

Kapitel 3. Stärke und Hass

„Spüre meine Stärke“

Die Mütter verarbeiten ihren Schmerz auf unterschiedliche Weise. Swetlana Sotowa schreibt z. B. Briefe an politische Gefangene. Außerdem liest sie viel.

„Sie haben nichts aus der Geschichte gelernt – weder die, die an der Macht sind, noch die einfachen Leute, die in Russland leben. Ich habe das Gefühl, dass sich die Dinge bei uns nie zum Guten wenden werden, und schuld daran sind die Menschen selbst“, sagt sie.

Jegor Balasejkins Mutter Tatjana arbeitet weiterhin als Englisch- und Nachhilfelehrerin. „Du musst weiterhin zur Arbeit, musst die Katzen füttern. Aber der Kopf arbeitet ja weiter, mit den Gedanken bist du immer dort.“

Tatjana sagt, sie habe zunehmend Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und sich an Namen und Ereignisse zu erinnern.

Irina Turbina, die Mutter eines anderen Politgefangenen, erzählt wiederum: „Ich habe es mir zur Regel gemacht, um 5:30 Uhr aufzustehen, Musik einzuschalten und Morgengymnastik zu machen. Ich sage dann in Gedanken: ‚Arseni, wir sind stark, kannst du das spüren? Spüre meine Stärke.‘ Ich sende ihm quasi meine Energie, das macht es leichter.“

Ihr Sohn, einer der jüngsten politischen Gefangenen, hat bereits in der Untersuchungshaft 17 kg abgenommen.

Dem FSB zufolge soll der 15-jährige Arseni Turbin „im Auftrag der Kuratoren der ukrainischen militaristischen Vereinigung Legion Freies Russland Propagandamaterial extremistischen Inhalts verbreitet“ haben. In Wirklichkeit hatte der Jugendliche Putin-kritische Flugblätter in Briefkästen gelegt, einen Telegram-Kanal namens Freies Russland gegründet und ein Foto von sich mit einer blau-weiß-blauen Flagge gepostet. Vor Gericht gab er zu, dass er einmal eine E-Mail an die Legion geschrieben habe, aber nie einen Aufnahmeantrag ausgefüllt.

Im Juni 2024 wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Arseni Turbin mit seiner Mutter / Foto © Familienarchiv

„Solche wie er gehören erschossen“

Zum ersten Mal durfte Irina ihren Sohn im Januar 2025 besuchen. Einen Monat zuvor hatte sie ihn zwar im Untersuchungsgefängnis gesehen, aber in den Arm nehmen durfte sie ihn erst in der Strafkolonie. So seien die Regeln.

„Ich drücke ihn an mich“, erinnert sie sich an den Besuch, „und sage: ‚Arsenjuschka, was bist du nur so dünn? Du bestehst ja nur noch aus Knochen.‘ Da antwortete er, dass er schon zwei Kilo zugenommen hätte.“

Zuerst habe sie ihm nicht geglaubt, aber dann verstand sie, was er meinte.

„Ich sehe mir sein Foto in der Gefängniskluft an, und ein Gespenst blickt mir entgegen. Er sagt: ‚Das Foto wurde nach der Verlegung gemacht.‘“

Als Irina ihren Sohn im März 2025 länger besuchen durfte, bat auch er sie um Essen von zu Hause.

Arseni sei wie Jegor Balasejkin ein guter Schüler (und lerne weiterhin fleißig in der Kolonie), interessiere sich für Physik und Mathematik, investiere in Aktien, träumte davon, Politikwissenschaft an der MGIMO zu studieren.

Nach der Hausdurchsuchung musste der 15-Jährige zum „Fünf-Minuten-Gespräch“, das in solchen Fällen üblich ist – eine ambulante gerichtspsychiatrische Expertise.

„Die Ärztin – ich weiß nicht, ob sie selbst Kinder hat – sagte, solche wie er gehörten erschossen.“

Irina erzählt, dass sie sich schon immer Sorgen gemacht habe, weil Arseni so offen seine Position kundtat. Er habe seine Ansichten in der Schule vertreten, mit seinen Klassenkameraden gestritten, in den Pausen Videos von Nawalny geschaut. Und schließlich 2022 den Telegram-Kanal Freies Russland ins Leben gerufen.

Obwohl der Junge in der Schule gemobbt wurde und später in Untersuchungshaft geschlagen, verliert er nicht den Mut.

Arseni Turbin / Foto © Familienarchiv

„Mama, weißt du, was ich verstanden habe? Die Sache mit dem Rückgrat. Wenn man stark ist, dann bleibt man sich treu, egal was passiert. Es gab so viele Situationen, es war so schwer, aber ich habe mir trotzdem bewahrt, dass ich für meine Meinung kämpfe, wenn etwas für mich inakzeptabel ist“, gibt Irina die Worte ihres Sohnes wieder.

„Ich habe auch gelernt zu hassen“

Swetlana Sotowa, die Mutter der inhaftierten Lera, wurde nach so einem „Fünf-Minuten-Gespräch“, bei dem man Jegor mit Erschießung gedroht hatte, für einen Monat in die Psychiatrie gesteckt. Ein Monat ohne jeden Kontakt zu ihrer Tochter.

Die Mütter der Politgefangenen sagen, dass sie sich „zusammenreißen und stark bleiben müssen – für die Kinder“. Aber mit der Stärke kommt auch Hass.

„Als Lera abgeholt wurde, war ich zwei Tage lang krank, aber ich habe mich zusammengerissen“, erzählt Swetlana. „Weil meine Tochter im Gefängnis ist und meine Unterstützung braucht. Mich rettet, dass ich diese Leute hasse.“

„Ich habe noch nie im Leben jemanden gehasst, ich war gar nicht dazu fähig“, sagt Tatjana Balasejkina. „Und jetzt habe ich gelernt, Hass und Wut zu empfinden. Das gibt mir wenigstens etwas Energie.“

Jegors Mutter sagt, der Schmerz, den ihre Familie gerade durchleiden muss, habe fast allen Streit und Konflikte verdrängt „Ich kenne kein einziges Ehepaar, das sich nicht streitet. Aber seit Jegors Verhaftung ist meinem Mann und mir klargeworden, dass wir wegen lauter Nichtigkeiten gestritten haben, wegen unbedeutenden Dingen“, erklärt Tatjana.

Dafür sei der mittlerweile 18-jährige Jegor härter geworden, sagt sie. „Wenn er anruft, spüre ich seine Anspannung – er ist gereizt und schreit uns schnell an. Beim nächsten Mal entschuldigt er sich dann und fragt: ‚Wo soll ich das denn sonst rauslassen?‘ Und wir: ‚Du musst dich nicht entschuldigen, schrei uns an, lass es raus.‘“

Ganz ähnlich ergeht es Lera Sotowa: „Früher waren alle Menschen in ihren Augen gut. Weil sie selbst gut ist. Aber jetzt hat sie auch gelernt zu hassen“, sagt Mutter Swetlana.

Kapitel 4. Zukunftsträume

„Ich weiß nicht, wie weiter“

Swetlana Sotowa erzählt, dass die Nachbarn im Gruppenchat jetzt schlecht über ihre Familie redeten. Aber noch schwieriger sei es, mit Verwandten zu sprechen, die sie als „Putinisten“ bezeichnet: „Ich erzähle ihnen, was man Lera angetan hat, wie man sie mit Handschellen an die Heizung gefesselt und sie 24 Stunden lang hat dort sitzen lassen, wie sie geschlagen wurde, auch ins Gesicht, dass ihre Arme, dass alles blau war. Aber sie glauben mir nicht.“

Wenn sie in einer Schule arbeiten würde und nicht zu Hause, sagt Tatjana Balasejkina, hätte man sie wegen Jegors Verurteilung sicher längst gefeuert. Dafür habe sie die Reaktion ihrer Kunden positiv überrascht: „Nicht einer hat sein Kind abgemeldet. Viele schreiben mir, rufen mich an und sprechen mir Mut zu, wenn wir uns sehen.“

Irina Turbina arbeitet als Vertragsmanagerin für Staatsankäufe und gibt zu, dass sie, wenn sie nicht zur Arbeit gehen müsste und den Kontakt mit ihren Kollegen vermeiden könnte, dies auch tun würde.

Erst hatte sie zwar das Gefühl, dass die Kollegen mit ihr fühlten, doch bald wurde ihr klar, dass sie von der Schuld ihres Sohnes überzeugt sind und ihr wiederum die Schuld dafür geben, dass sie nicht gut genug auf ihn aufgepasst habe. Irina versuchte, mit ihnen zu diskutieren, aber das war zwecklos.

„Ich habe nicht einen Tropfen Hoffnung übrig“

Jegor selbst will nach seiner Entlassung karitativ arbeiten, aber Tatjana versteht nicht, wie ihr Sohn überhaupt noch in Russland leben kann. „Wird seine Weltanschauung etwa eine andere sein, wenn er da rauskommt? Seine ganzen Lebensprinzipien?“

Tatjana ist überzeugt, dass für Jegor alle Türen in Russland verschlossen sind.

Swetlana Sotowa denkt ebenfalls, dass auf Lera und sie eine harte Zukunft wartet: „Jeden Tag gibt es Festnahmen, Durchsuchungen, Gerichtsverhandlungen. Alles politisch motiviert. Ich wünsche mir für meine Tochter einen Gefangenenaustausch, damit sie das Land verlassen kann.“

Irina Turbina sagt, sie versuche ihrem Sohn Mut zuzusprechen, dass das alles vorübergehen und alles gut werden wird.

„Ich werde unheimlich stolz auf dich sein“

„Mama, ich habe dich doch nie enttäuscht, Mama, das ist doch alles nicht meine Schuld.“

„Arseni, natürlich ist es nicht deine Schuld, nicht eine Sekunde lang habe ich dir die Schuld gegeben.“

Irina erinnert sich an ihr Gespräch, als Arseni an Nawalnys Geburtstag zu einer Einzelkundgebung gehen und sie ihn nicht hinlassen wollte. Das war zweieinhalb Monate vor der ersten Hausdurchsuchung, die ihr gesamtes Leben veränderte.

„Er sagte zu mir: ‚Wir dürfen keine Angst haben, wir verstoßen nicht gegen das Gesetz, wir äußern nur unsere Meinung.‘ Und ich erklärte ihm, was da draußen los ist, was für absurde Strafanzeigen es gibt. Und er antwortete: ‚Mama, das sind doch alles Erwachsene. Das werden die doch nicht mit einem Kind tun!“