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Der Krieg, den es nicht gab

Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Streitkräfte in Tschetschenien ein, um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Teilrepublik zu beenden. Aus dem geplant schnellen Sieg wurde für die schlecht ausgerüstete Wehrpflichtigenarmee Russlands ein Fiasko: Allein in den ersten zwei Monaten starben rund 2000 russische Soldaten. Insgesamt haben die Tschetschenienkriege mehr als 100.000 Zivilisten und über 10.000 russischen Armeeangehörigen das Leben gekostet.

25 Jahre nach dem Beginn des Ersten Tschetschenienkriegs macht sich der russische Künstler Slawa PTRK an dessen Aufarbeitung. Dazu hat er ein Projekt gestartet, in dem unter anderem Interviews mit den Teilnehmern beider Tschetschenienkriege veröffentlicht werden. Takie Dela zeigt Teile davon: Fotos und Interviews mit Soldaten, die über die Gräuel des Krieges erzählen und darüber, wie man es schafft, daran nicht zu zerbrechen. 

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„Als ich ankam, war da fieser Matsch, der an den Stiefeln klebte. Dieser tschetschenische Matsch klebt immer weiter fest und wird immer mehr. Das ist ein Gefühl, als hättest du gusseiserne Gewichte an den Füßen.“ / Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

Georgi, Feldwebel

„Die Veteranen beider Tschetschenien-Feldzüge sind Veteranen eines Krieges, den es nicht gab. In sämtlichen Informationsquellen wird dieser Krieg als Antiterror-Operation bezeichnet.

Den ersten Krieg verloren wir in jeder Hinsicht mit Schande, als Versager auf der ganzen Linie, sowohl medial als auch real. Eine riesige Menge junger Kerle wurde niedergemetzelt – sie könnten jetzt noch am Leben sein, herumlaufen, sich amüsieren, Kinder kriegen und ihren Sachen nachgehen.

Den Zweiten Krieg haben wir damals in einem gewissen Maß gewonnen. Die Streitkräfte hatten die Aufgabe erfüllt, die ihnen abverlangt wurde, und der Gegner war niedergestreckt und vernichtet. Doch die politischen Folgen waren derart, dass die Frage aufkommt: Warum haben wir so viele Menschen begraben, so viele Leben und Psychen zerstört?

Ich hatte mein Studium an der Philologischen Fakultät in Petersburg abgebrochen, nach einem halben Jahr. Eigentlich hatte ich damals vor, nach Los Angeles zu gehen, auf eine Filmhochschule. Aber bevor es soweit war, wurde ich eingezogen, völlig zufällig bin ich da gelandet.

Ich glaube, ich habe die Armee schon als Kind geliebt. Das war spannend, ich hab gern Krieg gespielt, wie alle Kinder in den 1980ern, Ende der 1970er. Warum soll man nicht seine Kräfte messen, das ist noch so eine Challenge – was wohl geht. Irgendwann dann wurden die Jungs losgeschickt in den Nordkaukasus, in verschiedene Einheiten, und mir war plötzlich klar: Wenn Kerle losgeschickt werden, die jünger sind als ich, warum dann nicht auch ich? Zumal ich immer sehen wollte, was Krieg ist.“

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

„Ins Eingemachte der Hölle bin ich nicht vorgedrungen. Nur in kleinere Feuergefechte, so, wenn du eben den Schwanz einziehst, die Zähne zusammenbeißt und zusieht, dass sie dich nicht totschießen. 
Außerdem ist die Zahl der Toten immer erheblich kleiner, als man denkt, denn die Kugeln treffen nicht so oft lebenswichtige Organe und bringen dich nicht immer gleich um. Das sind gewöhnlich extrem starke Verletzungen, wenn jemand entweder an einem Schock stirbt oder am Blutverlust, doch bis dahin vergeht einige Zeit. 
Wenn du dem Menschen [einem sterbenden Gegner – Takie Dela] in die Augen schaust, der eben noch warm war und jetzt schon kalt wird, dann wird dir klar, dass der dir genauso gut den Hals hätte aufschlitzen oder ein Messer in den Rücken hätte jagen können, dich hochnehmen oder vergewaltigen … Die Gegner sind ungewaschen, behaart, stinken, in dreckigen Uniformen oder dreckiger Kleidung … In den Momenten kriegst du Angst, weil dir klar wird, was mit dir passiert wäre, wenn du kein Glück gehabt hättest.“Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

„Wenn du mit Leuten zusammen dienst, kommst du ihnen nah und du begreifst sie als Menschen, wer auch immer sie sind. Wenn die Zeit sich hinzieht, dann wird der Begriff von Freundschaft plötzlich sehr eng: ‚Ich halte dir den Rücken frei und du mir, und kein Keil wird zwischen uns geraten.‘

Der Krieg nimmt einem die Gefühle. Sehr lange, viel Zeit ist nach der Armee vergangen, bevor ich wieder gelernt habe, jemanden zu lieben. Und ich weiß nicht, ob es mir noch einmal gelingt.
Wenn du einen Lastwagen mit verbrannten Soldaten siehst, dann riecht es nach gebratenem Speck. Heute esse ich kein Schweinefleisch mehr.

Noch ein Minuspunkt, den der Krieg für mich mit sich brachte, ist, dass ich wahrscheinlich ein Ziel verloren habe, für das ich lebe. Alles, was nach dem Krieg passiert, passiert eher mechanisch. Ja, ich bin auf der Suche nach Gefühlen, Emotionen und so, aber … Wenn alles plötzlich zu Ende geht … Ich sehne mich nicht nach dem Ende, aber ich hab auch keine besondere Angst davor.“

Sergej, Militärchirurg

„Ich war in einer Einheit mit 70 Kämpfern – und mir, als Arzt.

Medikamente gab es gar keine, die Versorgung … naja. Einiges konnte ich hinzukaufen, aber sie gaben einem nur einzelne Verbandskästen, Erste-Hilfe-Sets und Staubinden. Das war’s. Darin [in den Erste-Hilfe-Sets] gab es Promedol. Eine Droge. Das einzig Wertvolle. Bei Verletzungen, bei Prellungen – eine Spritze rein, fertig. Erste-Hilfe-Sets gab es für jeden eins, beim Ausrücken gab ich immer nur ein paar raus, die waren schließlich alle dokumentiert.“

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)„In den Kampfzonen: menschliche Fäulnis. Die ist wie Schaum, löst sich auf, und weg ist sie. Man erkennt das gleich. Wenn ein Mensch ein Arsch ist, sieht man das gleich. Die bleiben dann meist im Hinterland. Dort machen sie einen auf dicke Hose, die Brust voller Orden … Der Mensch ändert sich [im Krieg] nicht. Bloß wird das Verborgene sichtbar. Wenn ein Mensch gut ist, dann wird sich sein Gutsein weiterentwickeln. Aber wenn ein Mensch scheiße ist, dann dringt die Scheiße an die Oberfläche. Darum sag ich auch, dass es mir dort leichter fällt: Du siehst gleich, wer zu dir gehört und wer dir fremd ist, wer gut ist und wer schlecht, mit wem du dich einlässt und mit wem nicht.“ 

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

„Patriotismus bedeutet für mich: „Wenn nicht ich, wer dann?“ Das heißt nicht, mit Flaggen rumrennen und rufen: ‚Ich bin ein Patriot!‘ Sondern etwas tun. Alles soll für die Kinder erhalten bleiben. Denn: Du hast was bekommen – gib es weiter in unversehrtem oder gar noch besserem Zustand, als du es vorgefunden hast.

Nach meinem ersten Einsatz hing ich ein halbes Jahr an der Flasche. Bei vielen war das so. Nicht einen nüchternen Kopf habe ich nach dem Krieg gesehen. Keinen. Gibt es nicht. Oder man darf gar kein Herz haben. Denn allen geht das ans Eingemachte. Ein Rehabilitations-Programm hat es nicht gegeben, gibt es nicht und wird es vermutlich auch nie geben.“ 

Jewgeni, Sergeant der Luftlandetruppen

„Ich habe von 1999 bis 2000 gekämpft. Ich wusste, dass ich zu den Luftlandetruppen komme. Alle in meiner Familie waren entweder Fallschirmjäger oder bei den Spezialeinheiten.

Das erste Mal war im Botlichski Rajon. Sie haben uns aus dem Hubschrauber abgesetzt. Ich schaue von da oben: Von rechts schießt eine Haubitzen-Division, oben fliegen die Jagdbomber, die Berge werden niedergewalzt, entlang der Startbahn liegen die Leichen in Plastikfolie. Keine Ahnung, bestimmt 30 oder 40. Die Bergschlucht, durch die kein Wind geht – und dann der Geruch: faulendes Fleisch. Da hab ich kapiert, dass ich besser hätte studieren sollen. Und dann die Hitze. In den Bergen ist es tagsüber sehr heiß und nachts sehr kalt. Über mehrere Tage gab es kein Wasser. Die Sonne verbrennt alles mögliche, wir hatten weder Cremes noch Salben, nichts. Es gab auch nicht wie heute diese modernen Schlafsäcke, Matten – all das gab es nicht. Wir hatten ein Maschinengewehr, einen Rucksack, einen Haufen Patronen, etwas Essen, ein Funkgerät. Und irgendwann, das weiß ich noch, verlassen dich einfach die Kräfte, dir kommt der Gedanke in den Kopf: Wenn mich jetzt ein Scharfschütze erledigt, wär das okay.“ 

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

„Krieg ist eine Sache der jungen Leute. Solange man Energie hat. Jetzt erinnerst du dich, wie du im Schnee schläfst, Wasser aus Pfützen trinkst. Ich habe den Dienst beendet, als ich nach Hause gekommen bin – habe Wasser aus dem Hahn getrunken, da hat’s mir den Magen umgedreht. Dort gehst du einfach und trinkst aus der Pfütze, pustest einmal drauf, um das Benzin, den Diesel wegzumachen.

Patriotismus ist Liebe zu seinem eigenen Volk, und nicht Hass gegenüber anderen. So sieht’s aus.“

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

Fotos: Wladimir Swarzewitsch, mit freundlicher Genehmigung von Anastasia Swarzewitsch
Quelle: Takie Dela
Übersetzung: dekoder-Redaktion
veröffentlicht am 11.12.2019

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Tschetschenien

Im Laufe der Geschichte war das Gebiet des heutigen Tschetscheniens von verschiedenen Imperien beherrscht und unterlag dabei wechselnden kulturellen, religiösen und politischen Einflüssen.1 Die Wainachen, eine ethnologische Gruppe, zu der Tschetschenen und Inguschen gehören, brachten keine eigene Geschichtsschreibung hervor. Daher beruht die Quellenlage vor dem 19. Jahrhundert vor allem auf der Rekonstruktion der Geschichte anhand archäologischer Funde. Vom 11. bis zum 13. Jahrhundert christianisierte Georgien einen Teil der wainachischen Bevölkerung, die bis dahin einer Naturreligion anhing.2 Nach der mongolischen Eroberung Ende des 14. Jahrhunderts begann der allmähliche Übertritt zum Islam, der sich über mehrere Jahrhunderte hinzog.

Kolonialisierung

Die Beziehungen zwischen Russen und Tschetschenen sind geprägt von Kolonialisierung und reichen bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück. Damals trafen die Kosaken Iwans des Schrecklichen mit der Bevölkerung der Siedlung Tschetschen-Aul zusammen. Nach dem Namen dieser Siedlung wurden die Bewohner der Region in der Folgezeit Tschetschenen genannt. Selbst nennen sie sich Nochtschi. 
Während der Smuta zog sich Russland zunächst weitgehend aus dem Kaukasus zurück, bevor es 1739 den Kampf gegen die Bergvölker eröffnete. Die eigentliche Kolonialisierung begann aber 1817 mit dem Kaukasuskrieg. Russland gründete 1818 die Festung Grosnaja (dt. die Furchtgebietende, 1870 ging daraus die heutige Hauptstadt Grosny hervor) und stellte sich den Truppen von Imam Schamil – ein Dagestaner, der von 1834 bis 1859 den militärischen Widerstand anführte und dabei auch brutal gegen Stämme vorging, die ihm ihre Loyalität verweigerten. Er wurde später deshalb zur nicht unumstrittenen legendären Identifikationsfigur für Tschetschenen. Der Krieg dauerte bis 1864, viele Historiker beschreiben den Widerstand als den vehementesten in der russischen Kolonialgeschichte. Hunderttausende Menschen starben, schätzungsweise über eine halbe Million Menschen wurden vertrieben. 

In dieser Zeit ging Tschetschenien in die russische Literatur ein – etwa bei Alexander Puschkin, Michail Lermontow oder Lew Tolstoi. Ähnlich wie im Westeuropa dieser Zeit entstanden dabei orientalistische Narrative, die zwischen Romantizismus und Überlegenheitsgefühl schwankten: Kaukasier galten darin einerseits als eine Art „edle Wilde“, andererseits aber auch als solche „Wilden“, die es zu „zivilisieren“ gilt. Dieser Orientalismus führte bei vielen in Russland zur Herausbildung einer Distinktion: Kaukasier wurden zu den „Anderen“.3 
  

Verfolgung und Diskriminierung

Im Ersten Weltkrieg kämpften tschetschenische und inguschische Heere schon zusammen auf der Seite Russlands. Doch nach der Oktoberrevolution proklamierte die Bergrepublik im Mai 1918 ihre Unabhängigkeit. Im März 1920 eroberte die Rote Armee Grosny. Tschetschenien wurde sowjetisch und zusammen mit Inguschetien in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert – Gorskaja ASSR. 
In den folgenden Jahrzehnten gab es vereinzelt Aufstände gegen die Besatzungsmacht, die stets niedergeschlagen wurden. Wie auch in der übrigen Sowjetunion wurde zudem die religiöse Infrastruktur weitgehend zerstört, auch der Klerus wurde verfolgt.

Aus der 1818 gegründeten Festung Grosnaja ging Tschtscheniens heutige Hauptstadt Grosny hervor / Foto © Alexxx Maleev/flickrWährend des Großen Vaterländischen Krieges war ein Teil des Kaukasus von deutschen Truppen besetzt. Stalin diente dieser Umstand als Vorwand, mehrere kaukasische Völker wegen ihrer teilweisen Kollaboration mit den Faschisten kollektiv zu bestrafen. Am 23. Februar 1944 begann die nahezu vollständige Deportation von fast 500.000 Tschetschenen und Inguschen in Viehwaggons nach Zentralasien. Zehntausende überlebten die Deportation und die folgenden Jahre der Verbannung nicht. Die Republik wurde am 7. März 1944 aufgelöst, ihre Geschichte umgeschrieben, nationale Denkmale und Archive vernichtet und das entvölkerte Land mit Menschen aus anderen Regionen besiedelt. 
Diese Verfolgung trug letztendlich aber „zur Schärfung eines ‚ethnischen‘ Bewußtseins der Tschetschenen bei. Die Gewalt, die ihnen angetan worden war, wurde unter dem Schlagwort des ‚Genozids‘ zum Kristallisationspunkt ihres kollektiven Gedächtnisses.“4 

Obwohl der Oberste Sowjet der UdSSR 1957 die Verbannung aufhob und die Rückkehr der Deportierten erlaubte, wurden Tschetschenen auch in der wiederhergestellten Tschetschenisch-Inguschischen Sowjetrepublik diskriminiert. Dies betraf auch die Bereiche Bildung und Arbeit, so waren die wichtigsten Ämter wesentlich von Vertretern der slawischen Elite dominiert. Wegen mangelnder Verdienstmöglichkeiten nahm in den 1980er Jahren die Arbeitsmigration nach Südrussland, die beiden Hauptstädte  und in die Erdölgebiete Sibiriens zu. Dadurch entstand in der Russischen Sowjetrepublik eine große tschetschenische Diaspora.

Erster Tschetschenienkrieg

Nach dem gescheiterten Augustputsch gegen Gorbatschow nutzte der tschetschenische General Dschochar Dudajew das Machtvakuum der Perestroika und stürzte die lokale Führung in Grosny. Im November 1991 erklärte er die Unabhängigkeit Tschetscheniens. 
Dudajews Unterstützung in der Gesellschaft war gering, um so mehr, als er die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht lösen konnte. Verschiedene Lager stritten um die Macht, Moskau unterstützte die Opposition mit dem Ziel, Dudajew zu stürzen und Tschetschenien wieder in den russischen Einflussbereich zu bringen. Es begann ein Propagandakrieg, der auf der einen Seite die Erinnerung an die traumatischen Kolonisationserfahrungen reaktivierte und auf der anderen Seite auf die territoriale Einheit Russlands, die Menschenrechtsverletzungen des Dudajew-Regimes und die drohende Gefahr für die innere Sicherheit Russlands setzte. 
Dies war eine der Ursachen für den Ausbruch des Konflikts: Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Streitkräfte in Tschetschenien ein, der Erste Tschetschenienkrieg begann. Aus dem geplant schnellen Sieg und der Absetzung Dudajews wurde für die schlecht ausgerüstete Wehrpflichtigenarmee Russlands ein Fiasko: Allein in den ersten zwei Monaten starben rund 2000 russische Soldaten bei Straßenkämpfen. 
Grosny wurde in Schutt und Asche gebombt, zehntausende Zivilisten, darunter ein hoher Anteil an russischer Bevölkerung, verloren ihr Leben. Die tschetschenischen Kämpfer verließen erst am 23. Februar 1995, dem Jahrestag der Deportation von 1944, die Hauptstadt und stellten sich so symbolisch in die Tradition des Widerstandes gegen die Kolonialmacht Russland. 
Bis März 1995 gelang es den Moskauer Streitkräften, die Kontrolle über Grosny und den nördlichen Landesteil zu gewinnen. Im April 1996 wurde Dudajew durch einen gezielten Raketenangriff von russischer Seite getötet. Doch der Vormarsch stockte, und schon im August 1996 mussten russische Truppen Grosny aufgeben. Russland war gezwungen, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen und die Truppen zurückzuziehen. Der Erste Tschetschenienkrieg endete. 

Zweiter Tschetschenienkrieg

Im Januar 1997 wurde Aslan Maschadow in den ersten freien Wahlen zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Russland erkannte die Wahl an, und im Mai unterzeichneten Jelzin und Maschadow einen Friedensvertrag. 
Maschadows Machtposition im kriegszerstörten Land war schwach, zeitweise gab es mehr als 300 Kampfeinheiten, die nicht seinem Befehl unterstanden. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen religiös-extremistischen Kräften und Maschadows Anhängern. Die Ende der 1980er Jahre begonnene Auswanderung der nicht-tschetschenischen Bevölkerung verstärkte sich nun wegen der labilen Sicherheitslage in der Republik zu einem Massenexodus.
Im August/September 1999 drangen Rebellen unter Schamil Bassajew und Emir Ibn al-Chattab nach Dagestan ein, überfielen mehrere Bergdörfer und riefen eine Islamische Republik aus. Kurze Zeit später verübten Unbekannte mehrere Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten, denen hunderte Zivilisten zum Opfer fielen. Viele russische Medien legten die Anschläge sofort Tschetschenen zur Last. Daraufhin folgte eine beispiellose antitschetschenische Hetzkampagne. Von Anfang an gab es jedoch Hinweise auf eine Verwicklung des FSB in die Anschläge.

Im Oktober 1999 marschierten rund 100.000 Soldaten in Tschetschenien ein, der Zweite Tschetschenienkrieg begann. Grosny lag bis Februar 2000 unter schwerem Beschuss, die tschetschenischen Kämpfer verließen die Stadt wieder am symbolträchtigen 23. Februar und zogen sich in die Berge zurück. Die russischen Streitkräfte bombardierten vor allem die Dörfer im Westen der Republik, zu einer besonderen Zielscheibe wurden dabei die Familien der Kämpfer aus dem ersten Krieg. Im März endete die russische Großoffensive. Moskau setzte den ehemaligen Mufti Tschetscheniens, Achmat Kadyrow, als Chef der Verwaltung ein. Dieser hatte sich zuvor auf die Seite Russlands gestellt. 
Im Sommer 2000 änderten die Separatisten ihre Kriegsstrategie, sie setzten nun vor allem auf Terroranschläge gegen die Besatzer und ihre Strukturen. Die russische Streitkraft führte Säuberungsaktionen in den Dörfern durch, verhaftete und verschleppte Menschen. Das Verschwindenlassen von Menschen entwickelte sich dabei zu einer verbreiteten Methode russischer Armeeangehöriger, Lösegeld bei den Angehörigen zu erpressen.5 

Im Oktober 2003 hielt Moskau Wahlen in Tschetschenien ab, bei denen Achmat Kadyrow zum Präsidenten gewählt wurde. Zahlreiche russische und internationale Wahlbeobachter wiesen dabei auf massive Verstöße gegen das Wahlrecht hin. 
Während der Siegesfeier am 9. Mai 2004 wurde Kadyrow bei einem Anschlag getötet. Sein Sohn Ramsan übernahm das Amt des Vizepräsidenten. Neuer Präsident Tschetscheniens wurde zunächst Alu Alchanow, bis er 2007 von Ramsan Kadyrow abgelöst wurde.
Der Präsident der tschetschenischen Exilregierung, Maschadow, wurde im Untergrund aufgespürt und im März 2005 von einem russischen Spezialkommando getötet. Die meisten Mitglieder seiner Regierung leben heute im europäischen Ausland und sind zum Teil als politische Flüchtlinge anerkannt.
Der Zweite Tschetschenienkrieg endete offiziell 2009. Insgesamt haben die Kriege seit 1994 mehr als 100.000 Zivilisten und über 10.000 russischen Armeeangehörigen das Leben gekostet. Seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg sind Zehntausende nach Europa geflohen. In Deutschland leben heute rund 40.000 tschetschenische Geflüchtete, von denen nur ein Teil über den Status eines anerkannten Flüchtlings verfügt.

Kadyrow-Regime

Bei zahlreichen Veranstaltungen gedenkt heute die tschetschenische Diaspora am 23. Februar der Deportation. In Tschetschenien selbst wird der Gedenktag seit 2011 dagegen am 10. Mai begangen, dem Tag der Beerdigung von Achmat Kadyrow. Als der bekannte Oppositionspolitiker Ruslan Kutajew 2014 öffentlich das Trauerverbot am 23. Februar kritisierte, wurde er wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet und zu vier Jahren Haft verurteilt. 
Zahlreiche unabhängige Beobachter stuften den Prozess gegen Kutajew genauso als politisch-motiviert ein, wie auch viele andere Prozesse gegen tschetschenische Oppositionelle. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2007 hat Ramsan Kadyrow mit Hilfe seiner paramilitärischen Sicherheitstruppe Kadyrowzy ein hochrepressives Regime errichtet. Internationale Organisationen berichten regelmäßig über massive Verletzungen der Menschenrechte, darunter auch über die weit verbreitete Anwendung von Folter, das Verschwindenlassen unliebsamer Personen und außergerichtliche Exekutionen. Korruption in Verwaltung, Justiz, Politik und Wirtschaft ist ebenso allgegenwärtig.6 Zudem greift das Regime systematisch in die Privatsphäre der Tschetschenen ein: beispielsweise werden geschiedene Paare unter Druck gesetzt, sich zu versöhnen und wieder zusammenzuleben, mit der Begründung, dass Kinder Geschiedener sich radikalisieren und zu Terroristen würden.7 Im Frühjahr 2017 gab es erstmals Berichte über eine Welle der Verfolgung und Ermordung von LGBT, die zum Jahresbeginn 2019 erneut ausbrach.8 Kadyrow selbst behauptet, es gäbe keine LGBT in Tschetschenien und somit auch keine Verfolgung.  

Mit dem Kaukasuskrieg begann ab 1817 die eigentliche Kolonialisierung Tschetscheniens / „Die Schlacht am Walerik“, Aquarell von M. Lermontow und G. Gargarin, 1840

Entsprechend gibt es in Tschetschenien kaum Pressefreiheit: Während Russland auf der Rangliste von Reporter ohne Grenzen den Rang 148 von insgesamt 180 einnimmt, dürfte Tschetschenien für sich genommen noch weiter unten stehen. Unabhängige Medien gibt es in der Republik faktisch nicht, zahlreiche JournalistInnen wurden wegen ihrer kritischen Artikel ermordet, darunter 2006 die Journalistin der Novaya Gazeta Anna Politkowskaja.
Ebenso gefährdet sind Menschen, die sich für Frauenrechte einsetzen. Frauen werden im vorchristlichen Gewohnheitsrecht  Adat und in der Scharia als sogenannte „Trägerinnen der Ehre“ verstanden und sind einer permanenten sozialen Kontrolle durch Familienangehörige und Männer ausgesetzt. Die Dunkelziffer für Femizide schätzen Menschenrechtler als hoch ein, nicht selten gelten sie als sogenannte Ehrenmorde.9 
Die Verfolgung von Gesetzesverstößen, insbesondere im familienrechtlichen Bereich, wird von den staatlichen Ermittlungsbehörden häufig zurückgewiesen mit der Begründung, es handele sich dabei um Regeln des Adat oder der Scharia. Hingegen werden Gerichte dann aktiv, wenn es darum geht, unliebsame Oppositionelle rechtskräftig zu langjährigen Haftstrafen zu verurteilen. So gab es schon mehrere Prozesse gegen Menschenrechtler; der wohl bekannteste unter ihnen ist der gleichfalls als politisch motiviert eingestufte Prozess10 gegen den Leiter des Memorial-Büros Tschetschenien, Ojub Titijew. Im Januar 2018 wurde er wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet, inzwischen läuft ein kafkaesker Prozess gegen ihn. Titijews Vorgängerin bei Memorial, Natalja Estemirowa, wurde 2009 von Unbekannten entführt und ermordet.

Staat im Staat

Vor dem Hintergrund der von Putin aufgebauten Machtvertikale stufen zahlreiche Beobachter Tschetschenien als eine Art Staat im Staat ein. Nicht nur das Moskauer Gewaltmonopol gilt hier in vielen Bereichen als unwirksam, auch die Gesetze, die im restlichen Russland noch umgesetzt werden, wurden in Tschetschenien teilweise durch traditionelle Rechtssysteme ersetzt: das vorchristliche Gewohnheitsrecht Adat und die Scharia. 

Kadyrow laviert ständig zwischen Forderungen nach noch mehr Autonomie und häufigen Loyalitätsbekundungen gegenüber Putin / Foto © kremlin.ru CC BY 4.0
Die Mischung aus Traditionalismus und Nationalismus schafft laut Beobachtern eine Illusion von Selbstbestimmung11, also eine Art imaginierte Emanzipation von der Kolonialmacht Russland. Damit bedient Kadyrow moderate separatistische Erwartungen und untermauert seinen Legitimitätsanspruch. Gleichzeitig laviert er ständig zwischen Forderungen nach noch mehr Autonomie und häufigen Loyalitätsbekundungen gegenüber Putin. Während er sich nach Innen also als Garant der Selbstbestimmung darstellt, zeigt er nach Außen, dass gerade dieser populistische Separatismus nötig sei, um Tschetschenien nicht wieder zu einem Pulverfass werden zu lassen. Manche Beobachter meinen, dass Kadyrow für den Kreml damit als Garant der Stabilität erscheine: Als jemand, der einerseits dafür sorgt, dass Tschetschenien formal Teil Russlands bleibt und andererseits Terroranschläge in Russlands Großstädten verhindert. Vermutlich ist das der Grund, weshalb der Kreml diejenigen Silowiki im Zaum hält, die auch in Tschetschenien die Machtvertikale durchsetzen wollen.12 Die Kehrseite davon, so kritisieren Beobachter, sei faktisch eine Carte blanche für das Kadyrow-Regime, an der russischen Verfassung vorbei Adat und Scharia zu etablieren. Wobei allen Rechtssystemen in Tschetschenien gemein ist, dass ihnen weitestgehend die Erzwingungsmacht fehlt: Es gilt somit häufig das Recht des Stärkeren oder reine Willkür.13


Zum Weiterlesen:
Cremer, Marit (2017): Angekommen und integriert? Bewältigungsstrategien im Migrationsprozess, Frankfurt am Main/New York
Cremer, Marit (2012): The Instrumentalization of Religious Beliefs and Adat Customery Law in Chechnya, in: Pickel, Gert/Sammet, Kornelia (Hrsg.): Transformations of Religiosity: Religion And Religiosity In Eastern Europe 1989 – 2010, Wiesbaden, S. 197-212
Cremer, Marit (2007): Fremdbestimmtes Leben: Eine biographische Studie über Frauen in Tschetschenien, Bielefeld

1.ausführlich dazu: Cremer, Marit (2012): The Instrumentalization of Religious Beliefs and Adat Customery Law in Chechnya, in: Pickel, Gert/Sammet, Kornelia (Hrsg.): Transformations of Religiosity: Religion And Religiosity In Eastern Europe 1989 – 2010, Wiesbaden, 197-212 
2.Sarkisyanz, Emmanuel (1961): Geschichte der orientalischen Völker Rußlands bis 1917: eine Ergänzung zur ostslawischen Geschichte Russlands, München, S. 114-140 
3.vgl. relga.ru: Formirovanie obraza Kavkaza v rossijskoj obščestvennoj mysli (konec XVIII – seredina XIX vv.) 
4.Halbach, Uwe (1994): Rußlands Auseinandersetzung mit Tschetschenien, In: BIOst 61, S. 20 
5.Council of Europe (2003): The human rights situation in the Chechen Republic 
6.Memorial Human Rights Center: Bjulleten' Pravozaščitnogo centra «Memorial» Situacija v zone konflikta na Severnom Kavkaze: ocenka pravozaščitnikov Leto 2018 goda 
7.Grozny.tv: Kadyrov prizval duchovenstvo aktivizirovat’ rabotu, napravlennuju na ukreplenie semejnych cennostej 
8.osce.org: OSCE Rapporteur’s Report under the Moscow Mechanism on alleged Human Rights Violations and Impunity in the Chechen Republic of the Russian Federation 
9.taz: Frauenmorde in Tschetschenien: Tödliche Traditionen 
10.Novaya Gazeta: Dur' kakaja-to: Novyj prokol obvinenija: narkotiki v dele Ojuba Titieva – ne narkotiki? 
11.International Crisis Group: Čečnja: vnutrennee zarubež'e, S. ii 
12.ebd. 
13.Halbach,Uwe (2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation: Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, S. 6, 21 und osce.org: OSCE Rapporteur’s Report under the Moscow Mechanism on alleged Human Rights Violations and Impunity in the Chechen Republic of the Russian Federation 
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