Es regnet Auszeichnungen, noch mehr als zu Zeiten der Sowjetunion: Eine Recherche von Projekt darüber, wer in Russland heute eigentlich alles wofür ausgezeichnet wird. Warum das oft keiner weiß. Und was das mit Land und Gesellschaft eigentlich macht.
Am 21. Mai 2015 wurden im Katharinensaal des Kreml staatliche Auszeichnungen verliehen. Als erster trat der verdiente Physiker Jewgeni Welichow vor, der Präsident des Kurtschatow-Instituts; er wurde mit dem Orden Für Verdienste am Vaterland 1. Klasse ausgezeichnet. Danach erhielten aus den Händen Putins der hundertjährige Volkskünstler Wladimir Seldin und Außenminister Sergej Lawrow den gleichen Orden. In dem Beschluss über die Auszeichnungen fanden sich noch über 200 weitere Namen. Allerdings wurden nicht alle öffentlich verliehen, die meisten erhielten ihre Auszeichnung ohne großes Aufsehen. Darunter war der 25-jährige Iwan Setschin, der stellvertretende Leiter der Abteilung Offshore-Projekte von Rosneft und Sohn von Igor Setschin, dem Chef desselben Unternehmens. Setschin der Jüngere erhielt den Orden Für Verdienste am Vaterland 2. Klasse.
Hochdekorierte Kinder hochrangiger Staatsbeamter
Setschin ist keineswegs das einzige Kind eines hochrangigen Staatsbeamten oder staatlichen Managers, das hoch dekoriert wurde und nicht einmal das jüngste. Übertroffen wurde er von Aischat Kadyrowa, der 21-jährigen Tochter Ramsan Kadyrows: Die erhielt am 7. März 2020 aus den Händen ihres Vaters die Medaille Für Verdienste vor der Tschetschenischen Republik – für ihre Teilnahme an der Paris Fashion Week.
Die Auszeichnung von Verwandten ist übrigens nicht die wichtigste Besonderheit der heutigen, überaus verwickelten Auszeichnungspolitik in Russland.
Nach dem Zerfall der UdSSR hatte das sowjetische Ehrungssystem seine Wirkung eingebüßt: Das neue Land brauchte neue Helden. 1994 erging ein Erlass, der die Grundlage für das jetzige System von Auszeichnungen schuf. Darin waren 29 Orden, Medaillen und Ehrenabzeichen sowie eine Reihe beruflicher Ehrentitel aufgeführt. Die höchste Auszeichnung war der Helden-Stern Russlands. Ein Merkmal der Epoche des „freien Marktes“ bestand darin, dass in dem neuen System keinerlei sowjetische Orden und Medaillen für berufliche Erfolge auftauchten.
Mehrmals gab es Abänderungen in dem Erlass für Ehrentitel. 2013 hat Putin eine zweite höchste Auszeichnung eingeführt: den Held der Arbeit. Insgesamt übertrifft Russland mit seinen unterdessen 102 staatlichen Auszeichnungen sogar die späte UdSSR (95 Auszeichnungen).
Überaus verwickelte Auszeichnungspolitik
Von 1948 bis 1991 sind 660 Personen zu Helden der UdSSR geworden. Das heutige Russland hat in nur 30 Jahren rund 1100 Helden hervorgebracht.
Putin selbst trägt nicht sonderlich viele Orden. Von den hochrangigen hat er nur den Orden der Ehre erhalten. Daneben hat er drei präsidentielle Belobigungen von Jelzin, einen Ehren-Pallasch [eine Säbelart – dek] der Marine und einen Verdienstorden der Republik Dagestan. Sehr viel zahlreicher sind hingegen seine ausländischen, religiösen und gesellschaftlichen Auszeichnungen, unter anderem aus Europa. Die hat Putin vor 2009 erhalten. Nachdem sich die Beziehungen zum Westen abgekühlt haben, überwiegen in der Liste der Staaten, die Putin Auszeichnungen verliehen, ehemalige Sowjetrepubliken sowie asiatische und afrikanische Länder.
Großes Geheimnis
Heute ist es oft unmöglich zu erfahren, wer wofür ausgezeichnet wurde. Die Erlasse sind unter Verschluss und Angaben zu den Helden werden nirgends veröffentlicht. Geheime Auszeichnungen wurden zur Norm, seit Russland in eine Anzahl militärischer Konflikte eingriff und die heftige Konfrontation mit dem Westen begann. Mit Hilfe geheimer Erlasse werden oft Auszeichnungen für nicht erklärte Kriege gestiftet, für Militärs, Vertreter der Bürokratie und Journalisten, die im Sinne des Staates arbeiten. Im Mai 2014 hatten über 300 Journalisten der staatlichen Fernsehsender Orden und Medaillen verliehen bekommen „für ihre Professionalität und die objektive Berichterstattung über die Ereignisse auf der Krim“. Doch ein Erlass über die Auszeichnungen ist nicht auffindbar.
Auf dem Höhepunkt des Krim-Frühlings tauchte auch eine spezielle behördliche Auszeichnung des Verteidigungsministeriums auf, die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Auf der Webseite der Firma, die mit dem Entwurf der Medaille befasst war, erschien eine Mitteilung über einen Eilauftrag für die Medaille und deren Beschreibung. Bald schon hatten ukrainische User sozialer Netzwerke auf der Rückseite der Medaille ein Datum für den Beginn der Krim-Operation entdeckt, nämlich den 20. Februar, und zwar noch lange vor dem Referendum über die Rückholung der Krim. Nach vielzähligen Berichten zu diesem Thema wurden die Anordnung des Ministeriums und die Webseite mit der Beschreibung der Medaille entfernt.
Als erste erhielten Militärs und das ernannte Oberhaupt der Republik [Krim] Sergej Aksjonow die Verdienstmedaille für die Rückholung der Krim. Später kam die Medaille in den freien Verkauf, sie kann jetzt zusammen mit einer Urkunde für rund 500 Rubel erstanden werden.
Per Geheimerlass zum Helden erklärt
Putin verleiht zudem Auszeichnungen für Kriege, an denen Russland, seinen eigenen Worten zufolge, gar nicht beteiligt ist. In dieser Atmosphäre äußerster Geheimhaltung erweisen sich Sammler als diejenigen, die am besten informiert sind. Es ist zwar verboten, staatliche Auszeichnungen zu verkaufen, doch es geschieht trotzdem. Und anhand der Ordnungsnummern lassen sich Rückschlüsse ziehen. So belegen 60.000 Kampfauszeichnungen, die innerhalb kurzer Zeit verliehen wurden, dass Krieg geführt wird – selbst wenn im Fernsehen kein Wort darüber verloren wird. Die Sammler verzeichnen eine Reihe solcher Momente: Anfang der 2000er Jahre (Tschetschenienkrieg), 2014 (die Ereignisse in der Ukraine) und seit 2016 der Einsatz in Syrien.
Geradezu ausgeschüttet wurden Auszeichnungen an Kämpfer privater militärischer Einheiten anlässlich des Krieges in Syrien. Am 9. Dezember 2016 fand zu Ehren des Tages der Helden des Vaterlandes im Kreml ein Empfang statt. Auf einer der Fotografien erkannten Journalisten Dimitri Utkin (den Kommandeur einer Einheit, die als TschWK Wagner bekannt wurde) – anhand seiner Rekrutierungsnummer. Seit 2015 sind Wagnerianer an militärischen Einsätzen in Syrien und sogar in Libyen und anderen afrikanischen Staaten beteiligt. Utkin hatte vier Tapferkeitsorden an der Brust. Auf dem gleichen Foto wurde Andrej Troschew identifiziert, mit einem frischen Stern als Held Russlands am Revers. Troschew ist Direktor eines privaten Militär- und Sicherheitsunternehmens. Zum Helden wurde er durch die Eroberung von Palmyra 2016, per Geheimerlass.
Den derzeitigen Ansatz bei Auszeichnungen beschreibt Andrej Chasin, Mitglied von Einiges Russland und Berater des Chefs der Präsidialadministration, in einer öffentlichen Vorlesung: „Kein Auszeichnungssystem ist objektiv. Es wird nie wirklich alle auszeichnen, die es verdient haben – und auch nicht ausschließlich diejenigen, die es verdient haben. Das System muss so geartet sein, dass die Menschen angesichts eines äußeren Symbols der Tapferkeit oder der Verdienste verstehen, dass derjenige, der es trägt, mit riesiger Wahrscheinlichkeit etwas Wichtiges und Notwendiges getan hat.“ In den meisten Fällen ist dieses Wichtige und Notwendige schlicht die Loyalität gegenüber dem Regime.
Auszeichnung als Dankeschön
Die Erlasse über eine Auszeichnung enthalten verschwommene Formulierungen: „für mehrjährige Gesetzgebungstätigkeit“, „für Verdienste um Staat und Volk durch heldenhafte Taten“. In Wirklichkeit aber wissen die Ausgezeichneten selbst, dass es sich wohl aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Dankeschön handelt. Oft werden die Auszeichnungen sofort nach Ereignissen verliehen, die für das Regime wichtig sind.
Peinlich wurde es, als der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko den Heldenstern Russlands erhielt – unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl 2018 und womöglich dafür, dass dabei für Putin ein sehr gutes Ergebnis gewährleistet worden war. Die Regierung hatte auf eine offizielle Bekanntmachung dieser Auszeichnung verzichtet. Allerdings erfuhr die Zeitung Kommersant davon. Bald nach der Veröffentlichung verlor Sergej Jakowlew, Chefredakteur des Kommersant, seinen Posten.
Überhaupt sind erfolgreiche Wahlen ein hervorragender Anlass, loyale Weggefährten auszuzeichnen. Der Anfang war 2008 gemacht, als Putin einigen Männern aus der Politikwissenschaft, Anführern kremlfreundlicher Jugendorganisationen und den Leitern dreier landesweiter Fernsehkanäle Auszeichnungen verlieh. Nach Angaben des Kommersant geschah das aus Dankbarkeit für deren Beitrag im Wahlkampf von Einiges Russland und des von Putin nominierten Präsidentschaftskandidaten Dimitri Medwedew.
Vorsitzende von Wahlkommissionen erhielten von jetzt an regelmäßig Orden und Medaillen. 2012 wurde Wladimir Tschurow, dem damaligen Leiter der Zentralen Wahlkommission, der Alexander-Newski-Orden verliehen, per Geheimerlass. Einige Monate zuvor war Tschurow zu jener Person geworden, die im Internet am heftigsten diskutiert wurde: Nach den massiven Wahlfälschungen hatten sämtliche Vertreter der Opposition seinen Rücktritt gefordert.
Auch die neue Zentrale Wahlkommission wurde vielfach ausgezeichnet Nach der Wahl von 2018, bei denen die Nichtzulassung von Alexej Nawalny für einen Skandal gesorgt hatte, verlieh der frisch wiedergewählte Präsident Putin der Leiterin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa, den Orden Für Verdienste um das Vaterland 3. Klasse.
Neue Stagnation
Betrachtet man die Gesamtzahl der Auszeichnungen – und hierzu gehören neben den staatlichen auch regionale und behördliche Auszeichnungen –, so hat Russland die Sowjetunion bei weitem überholt. Und zusammen mit den religiösen und gesellschaftlichen Ehrenzeichen geht die Zahl in die Hunderte.
Der Historiker Alexander Spiwak bezeichnet das heutige System der Auszeichnungen als Chimäre. Das sowjetische System hatte sich über Jahrzehnte hinweg herausgebildet und war gegen Ende der UdSSR recht vernünftig organisiert. Im heutigen Russland hingegen hängen die Kriterien, nach denen die Helden bestimmt werden, nicht selten einfach vom Willen der Chefetage ab.
Das wichtigste Prinzip, durch das das System in Russland dem sowjetischen ähnelt, sind die unerlässlichen Auszeichnungen für jene, die dem ersten Mann im Staate Dienste erweisen.
Im Naturschutzgebiet von Sawidowo, wo die sowjetische Nomenklatura gern Erholung suchte, arbeiteten unter Breshnew zwei bemerkenswerte Menschen, der Generalleutnant Iwan Kolodjaschny und der Jäger Wassili Schtscherbakow. Neben ihrem Arbeitsort verband die beiden, dass sie vollwertige Träger des Ordens waren, der in der Sowjetunion am seltensten verliehen wurde, nämlich des Ordens Für den Dienst am Vaterland in den Streitkräften der UdSSR. Das ließ sich einfach erklären: Kolodjaschny und Schtscherbakow kümmerten sich darum, dass die sowjetische Führungsspitze und ausländische Delegationen in Sawidowo jagen konnten. „Sie haben einfach die Wildschweine und Elche getrieben, und schon hatten sie die Brust voller Orden“, scherzt Historiker Spiwak.
Eine derart zweckgebundene Haltung zu Auszeichnungen erfährt jetzt auch in den Regionen eine Blüte. Die Gouverneure können die Auszeichnungen nach eigenem Gutdünken verleihen, ohne sich mit der Zentralregierung abzusprechen.
Gold mit Rubinbesatz
Die Region mit dem größten Reichtum an Auszeichnungen – im direkten wie im übertragenen Sinne – ist die Republik Tschetschenien. Die höchsten Auszeichnungen in Tschetschenien – die Achmat Kadyrow-Orden und -Medaillen – sind aus Gold gefertigt und mit Brillanten, Smaragden und Rubinen verziert.
Der größte Ordensträger in Tschetschenien ist das Republikoberhaupt selbst. Seine erste staatliche Auszeichnung hat Kadyrow mit 28 Jahren erhalten – gleich den höchsten Ehrentitel des Landes: Putin heftete ihm den Heldenstern an die Brust. Auch sein Vater Achmat Kadyrow wurde zum Helden erklärt – posthum.
Darüber hinaus ist Kadyrow der Jüngere Träger zahlreicher tschetschenischer Orden und Medaillen. Nach vorsichtigsten Schätzungen trägt er mindestens 39 Auszeichnungen.
In Tschetschenien gibt es zudem eine paradox anmutende Auszeichnung, nämlich die Medaille Für die Verteidigung der Menschenrechte. Sie wurde 2007 gestiftet und als erstes Ibragim Dsubairajew verliehen, dem stellvertretenden Apparatsleiter des Menschenrechtsbeauftragten in der Republik Tschetschenien. Dsubairajew hat Memorial und ähnlich ausgerichtete Organisationen 2009 beschuldigt, sie würden sich „zu Menschenrechts- und Informationsterroristen wandeln“. Er hat der von Unbekannten ermordeten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa vorgeworfen, sie wolle die positiven Veränderungen in der Republik nicht wahrnehmen und lasse sich bei ihrer Tätigkeit ausschließlich von PR-Überlegungen leiten. Unter denjenigen, die mit dieser Medaille ausgezeichnet wurden, heißen mindestens drei Personen Kadyrow mit Nachnamen. Es sind Ramsan Kadyrow selbst, dessen Frau Medni und Islam Kadyrow, Bürgermeister von Grosny und ein Neffe dritten Grades von Ramsan Kadyrow. Er hat die Medaille 2013 erhalten; 2019 veröffentlichte die staatliche Rundfunkanstalt Grosny ein Video, das Islam Kadyrow zeigt, wie er Menschen mit einem Elektroschocker malträtiert, um von ihnen Geständnisse zu erzwingen.
Ministerium verleiht Einmal-Medaillen
Bei der Verleihung behördlicher Auszeichnungen hat es eine vollständige Rückkehr zur sowjetischen Praxis gegeben. Es gibt sehr viele dieser Auszeichnungen und viele von ihnen existieren allein zu dem Zweck, sie an einem Gedenktag an Staatsbeamte zu verleihen.
Dabei nimmt das Verteidigungsministerium traditionell den Spitzenplatz ein. Das geht so weit, dass sogar „Einmal“-Medaillen des Verteidigungsministeriums geschaffen wurden, etwa für den Panzerbiathlon 2014 oder die Teilnahme an einer Siegesparade.
Die Behörden zeichnen nicht nur ihre eigenen Mitarbeiter aus, sondern es ergeben sich mitunter erstaunliche Konstellationen: Die Weltraumbehörde Roskosmos etwa zeichnete einen Mönch des Dreifaltigkeits-Klosters von Sergijew Possad, der in der Sternenstadt die Raumschiffbesatzungen segnet, mit dem Gagarin-Ehrenzeichen aus („für den aktiven Beitrag zur Umsetzung des Föderalen Weltraumprogramms“). Und der Kosmonautik-Verband verlieh Priestern, die in Baikonur arbeiten den Titel eines Verdienten Erforschers.
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Heute kann jeder Bürger Russlands eine Medaille erhalten. Im staatlichen russischen Fernsehen wurde ein Werbeclip mit dem Slogan „75 Jahre Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Für jeden Russen eine kostenlose Gedenkmedaille“ geschaltet. In dem Video ist eine Medaille mit Staatssymbolen zu sehen, dem äußeren Anschein nach aus billigen Legierungen. Die Behauptung, dass die Medaille jedem Bürger kostenlos übergeben wird, ist zumindest ungenau. Die Lieferanten berechnen mindesten 299 Rubel [rund 3,80 Euro – dek] „für Zusatzoptionen“ sowie „für Verpackung und Lieferung“. Auch eine Firma mit dem schönen Namen Kaiserliche Münzstätte macht Geschäfte mit dem Kriegsgedenken. Nutznießer dieser Geschäfte ist letztendlich Dimitri Sobnin, der König des russischen „Sofashoppings“, der über seine Sendungen alles Mögliche verkauft, von der Ikone bis zur Ausstattung für die Datscha.