„Der FSB beseitigt Gegner so, dass alles nach natürlichem Tod aussieht“

Im russischen Unterdrückungsapparat spielt die sogenannte 2. Abteilung des Inlandsgeheimdienstes FSB eine besondere Rolle: Formal für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung zuständig, gleicht sie faktisch immer mehr der 5. Hauptverwaltung des sowjetischen KGB, der politischen Polizei zur Verfolgung von Dissidenten. Damals wie heute ist die Abteilung auch für politische Morde zuständig. Mitarbeiter der 2. Abteilung haben etwa Alexej Nawalny vergiftet, den Journalisten Timur Kuaschew und den Aktivisten Ruslan Magomedragimow ermordet. Unter ihrer Ägide hat Russland 2014 auch die Krym annektiert und den Krieg im Osten der Ukraine entfacht.


Einblicke in die 2. Abteilung sind rar, im Interview mit The Insider geht nun ein Überläufer an die Öffentlichkeit, um Schutz in der EU zu bekommen. Ob der ehemalige FSB-Offizier Alexander Fedotow weitere Motive hat, ist nicht auszuschließen; dass er sich bloß als Whistleblower inszeniert und/oder als Doppelagent auftritt, dagegen schon: The Insider hat in einer aufwändigen Recherche Fedotows wesentlichen Aussagen geprüft. dekoder veröffentlicht den Monolog des ehemaliges FSB-Manns auf Deutsch.


Das Interview mit Alexander Fedotow hat allein auf dem YouTube-Kanal von The Insider über zwei Millionen Aufrufe. / Foto © The Insider

Ich, Fedotow Alexander Alexandrowitsch, Oberstleutnant, wurde am 30. September 1981 in Moskau geboren.

2003 ging ich freiwillig zum FSB. Absolvierte eine zehnmonatige Ausbildung an der Fakultät für Führungskader. Wurde schließlich der Moskauer Dienststelle zugewiesen, wo ich bis 2009 tätig war. Danach wechselte ich auf eigenen Wunsch zur 2. Abteilung des FSB.

In der Moskauer Dienststelle war ich hauptsächlich mit Routineaufgaben beschäftigt: Begleitung von Kundgebungen, Überprüfung von Adressen, an denen sich Mitglieder von Banden versteckt halten könnten.

Ich dachte, dass man sich in dem Zentralapparat mit globalen Fragen befasst: Erfahrungen aus den Regionen zusammenführt, Situationen analysiert, Empfehlungen schreibt, Menschen auf Dienstreisen schickt – jedenfalls große Arbeit zum Wohle des Vaterlands leistet. Das glaubte ich aufrichtig, als ich mich dorthin versetzen ließ. Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus, was mich, ehrlich gesagt, etwas überraschte.

Die 2. Abteilung ist folgendermaßen strukturiert: An der Spitze steht Armeegeneral Alexej Sedow, direkt unter ihm der erste Stellvertreter, ein Generaloberst. Dann kommen vier Hauptsektionen: die Sektion für Verfassungsschutz, die operative Fahndungssektion, die Organisations- und Einsatzsektion und die Sektion für Terrorismusbekämpfung. Außerdem gibt es eine Zweigstelle in Pjatigorsk (Objekt Maschuk), wo jede Sektion durch ein eigenes Referat vertreten ist. Separat hervorzuheben ist die Verwaltungsabteilung – das Sekretariat und die gesamte Dokumentation, also alles, was den Alltagsbetrieb sicherstellt.

Soweit ich weiß, hat der Leiter der 2. Abteilung Alexej Sedow eine direkte Telefonverbindung zum Oberbefehlshaber – Wladimir Putin. Als Sedow 2006 auf seinen Posten kam, hatte er den Rang eines Generalmajors. Er stieg die Karriereleiter außergewöhnlich schnell hinauf: Nach nur wenigen Jahren wurde er Armeegeneral. Das ist selbst für FSB-Chefs eine Seltenheit, und Sedow war formal nicht einmal stellvertretender FSB-Chef.

Er kommt immer um 10 Uhr morgens zur Arbeit und geht erst nach dem Chef, gegen 21 oder 22 Uhr. Er lebt buchstäblich im Büro, Familie ist für ihn eine reine Formalität.

Alexej Sedow ist Chef der 2. Abteilung des FSB, die The Insider mit der Gestapo vergleicht. / Screenshot © The Insider

Meine Kommunikation mit ihm beschränkte sich auf die Berichterstattung zum laufenden Betrieb. In meinem Büro gab es ein separates Telefon – ohne Wählscheibe, nur für die Verbindung zu ihm. Wenn er anrief, sagte er nie „Hallo“, nur: „Hier ist Sedow“. Er hatte eine tiefe, brüllende Stimme, wie ein Löwe. Er redete sehr trocken und sachlich, war überhaupt ein harter Typ.

Sedow ist extrem reich. Zumindest zu meiner Zeit dort war das in jedem Bereich spürbar. Er kam oft in seinem Privatauto, einem nagelneuen SUV, wobei sein Dienstwagen ein gepanzerter Mercedes S-Klasse W222 war, mit einem bewaffneten FSB-Offizier als Chauffeur.

„Die Machthaber waren erstaunt, dass so viele Menschen auf die Straße gingen“

Die Bolotnaja-Proteste haben der Regierung nicht unbedingt Angst eingejagt, die Machthaber waren eher erstaunt, dass so viele Menschen bereit waren, auf die Straße zu gehen und ihren Unmut zu äußern. Das war überraschend. Manche Mitarbeiter sympathisierten mit den Protestierenden (ich eingeschlossen).

Die 2. Abteilung wurde umstrukturiert. Aus sechs Sektionen wurden dreizehn. Die Mitarbeiter wurden auf enger gesteckte Aufgabenbereiche aufgeteilt, damit sie sich intensiver mit dem jeweiligen Gebiet befassen konnten. Die Überwachung von Oppositionellen wurde nach den Protesten ausgeweitet: Ein größerer Personenkreis wurde unter operative Kontrolle genommen. Man wollte Leute ausfindig machen, die in der Lage wären, aus gegebenem Anlass schnell Massen zu mobilisieren.

Unter Beobachtung wurde jeder gestellt, der mit oppositionellen Aktionen in Verbindung stand. Jeder. Sogar Sobtschak haben wir beobachtet. Das kann ich mit Sicherheit sagen, weil ich selbst Nachrichten über sie entgegengenommen habe. Da wird nicht unterschieden nach „unserer“ oder „deren“ Opposition.

Für mich ist Xenia Sobtschak grundsätzlich keine Oppositionelle – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wir überwachten ihre Reisen: Wenn sie ein Zug- oder Flugticket kaufte, wussten wir das sofort. Höchstwahrscheinlich wurden auch ihre Telefone abgehört. Aber ich bezweifle stark, dass man rund um die Uhr hinter ihr hergefahren ist. Der Fall Sobtschak ist speziell, sie hat direkte Verbindungen zur Macht; sie ist keine „einfache“ Oppositionelle. Das Material zu ihr hatte eher „Sammlerwert“ als dass es verwendet wurde.

Eine andere Geschichte sind die Oppositionsführer, die nicht dem Kreml unterstehen. Nawalny, Kara-Mursa – die wurden richtig observiert, samt Personenbeschattung. Durch das Handy kann man zwar einen Standort auf der Karte ermitteln, aber keine Details. Die Person ist in ein Haus gegangen. Aber welches Stockwerk, wen hat derjenige getroffen? Das Handy zeigt dir, dass er zwei Minuten drin war. Aber was ist in der Zeit passiert? Hat er vielleicht Dokumente bekommen, Geld, oder hat er selbst etwas abgeliefert?

Der Sitz der 2. Abteilung befindet sich laut Alexander Fedotow nicht аn der Lubjanka, sondern in den oberen 19 Etagen des Objekts Priboj am Prospekt Wernadskogo / Screenshot © The Insider

Nemzow wurde sicher auch dauerüberwacht. Aber wie man sieht, hat das niemanden daran gehindert, ihn aus dem Weg zu räumen. Ich persönlich bin überzeugt, dass die 2. Abteilung nichts mit seiner Ermordung zu tun hatte. Der FSB arbeitet eher mit anderen Mitteln. Wenn jemand ein Loch im Kopf hat, dann ist es offensichtlich, dass er erschossen wurde. Da gibt es keine Zweifel. Aber wenn die Rede von Vergiftung ist, vor allem wenn kein Gift gefunden wird, dann bleibt Raum für Spekulation: Die einen glauben, dass er vergiftet wurde, die anderen, dass es ein natürlicher Tod war. Da gibt es Spielraum.

Nachdem Nemzow ermordet wurde, habe ich das persönlich und mehrfach Sedow gemeldet. Ich rief ihn abends auf der Datscha an. „Alexej Semjonowitsch, Nemzow wurde auf der Großen Moskwa-Brücke ermordet.“ Und er: „Bist du sicher?“ – „Ja, ganz sicher. Die Zentrale in Moskau hat es bestätigt. Mir liegt der FSB-Bericht vor: Nemzow wurde ermordet.“ Er fragte noch ein paar Mal, ob ich wirklich sicher bin. Wenn er etwas von einem geplanten Mord gewusst hätte, hätte er sich wohl anders verhalten. Normalerweise endeten unsere Gespräche knapp: „Alles klar, verstanden, Danke.“ Und aufgelegt. Aber das hatte ihn offenbar überrascht, das kam unerwartet. Bedeutet das zu hundert Prozent, dass er nichts gewusst hat? Nein. Aber die Wahrscheinlichkeit schätze ich als sehr gering ein.

„Die Giftanschläge auf Nawalny und alle anderen wurden mit Putin abgestimmt“

Der FSB bevorzugt es, seine Gegner so zu beseitigen, dass alles nach einem natürlichen Tod aussieht. Ein Ziegelstein in einer dunklen Gasse ist immer noch ein gewaltsamer Tod, das hinterlässt Spuren. Aber Gift kann oft nicht nachgewiesen werden.

Für Vergiftungen ist die Sektion für Verfassungsschutz zuständig, die zusammenarbeitet mit dem NII-2 [2. Zentrales Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums – dek]. Um jemanden zu vergiften, muss man wissen, wie das Gift mit dem menschlichen Körper und der Umgebung interagiert (im Freien verflüchtigt es sich schneller), wo es angewendet werden muss (in Getränken, auf der Haut, auf der Kleidung), welche Dosierung erforderlich ist und wie man diese berechnet. Natürlich haben die Einsatzkräfte dieses Wissen nicht, deshalb werden Spezialisten aus den entsprechenden Abteilungen hinzugezogen.

Die Entscheidungen über Giftanschläge werden zu hundert Prozent mit Putin abgestimmt, weil das unweigerlich zu internationalem Aufsehen führt und solche Schritte nicht ohne seine ausdrückliche Erlaubnis unternommen werden. Es gibt zwei mögliche Stoßrichtungen: Entweder Putin trifft eine Entscheidung und reicht sie nach unten weiter. Oder die Initiative kommt von unten, in Form einer Empfehlung: Wenn man es jetzt nicht macht, könnten die Proteste bald zunehmen oder es gibt Probleme auf der internationalen Politbühne.

In jedem Fall hat Putin das letzte Wort – entweder er erteilt den Befehl oder gibt die Erlaubnis. Die Wahl des Mittels und der Zeit obliegt dann wiederum den Ausführenden. Putin ist kein Superheld. Um das Weitere kümmert sich nicht einmal Bortnikow, sondern Sedow, die gehören ja beide zur Petersburger Gruppe.

„Um die ‚Angliederung der Krym‘ hat sich FSB-General Tatko aus der Abteilung gekümmert“

Als Ende 2013 in Kyjiw die Unruhen in der Bevölkerung begannen, wurden Mitarbeiter der 2. Abteilung des FSB hingeschickt. Eine Schlüsselrolle spielte damals Generalleutnant Alexander Jewgenjewitsch Tatko, der Erste Stellvertreter des Dienstchefs. Was seine Befugnisse anging, stand Tatko über Alexej Shalo, dem stellvertretenden Leiter des Dienstes und Chef der Sektion für Verfassungsschutz; soweit ich weiß, gab es niemanden, der über ihm stand. Faktisch hat er all diese Prozesse geleitet.

Alexander Tatko / Foto © The Insider

Ursprünglich sollte er Viktor Janukowitsch dabei helfen, sich an der Macht zu halten und den Maidan einzudämmen, unter anderem durch den Einsatz von Kämpfern der Charkiwer Vereinigung Oplot (dt. Bollwerk). Janukowitsch wurde instruiert, wie er vorzugehen hatte. Aber er entpuppte sich als Feigling: In einem Moment befahl er, Demonstrationen aufzulösen, in nächsten zog er die Spezialeinheiten wieder zurück. Schließlich verlor er die Kontrolle über die Situation.

Als klar wurde, dass sich Janukowitsch nicht halten würde, fiel die Entscheidung zur Krym. Seit November 2013 unternahm Tatko drei längere Dienstreisen dorthin, jeweils circa einen Monat, mit kurzen Abstechern nach Russland, u. a. für die Feiern zu Neujahr. Nach seiner letzten Reise wurde das sogenannte „Referendum“ abgehalten, und er kehrte endgültig zurück.

Bemerkenswert ist, wie Tatkos Dienstreise organisiert wurde. Wenn ein leitender Angestellter seines Ranges nicht am Arbeitsplatz ist, wird diese Information normalerweise an den Bereitschaftsdienst des FSB weitergeleitet und landet dann auf Alexander Bortnikows Schreibtisch: Wer krank ist, wer im Urlaub, wer auf Dienstreise. In Tatkos Fall war es strikt verboten, die Abwesenheit zu dokumentieren. Seine Anwesenheit am Arbeitsplatz wurde sogar simuliert. Morgens kam sein Dienstwagen mit Blaulicht vorgefahren, parkte auf seinem gewohnten Platz vor dem Gebäude und fuhr abends gegen 21 Uhr wieder weg. Sein Assistent und seine Sekretärin saßen im Büro und taten so, als wäre der Chef anwesend. Tatsächlich orchestrierte Tatko zu dieser Zeit das Geschehen in der Ukraine.

Auf der Krym kam man nicht ohne Janukowitschs Beteiligung aus, aber in erster Linie stützte man sich auf lokale Akteure, z. B. Sergej Axjonow. Warum gerade er? Weil er mit seiner kriminellen Vergangenheit auf der Krym eine bekannte Person war. Man konnte unmöglich einen „Fremdkörper ” einsetzen – ein Außenstehender hätte sich dort nicht behaupten können. Die Effektivität der Prozesse beruhte gerade auf den lokalen Autoritäten.

Das „Referendum“ wurde ebenfalls über Beamte der Stadt- und Kreisverwaltung organisiert – das war in etwa so arrangiert wie in Russland. Die Menschen hatten im Grunde die Wahl: entweder die Krym zu verlassen und in die Zentralukraine zu gehen oder hinzunehmen, dass die Annexion bereits entschieden ist, und sich den neuen Machthabern unterzuordnen. Tatko erfüllte in diesem Schema eine Organisations- und Kontrollfunktion. Der Mechanismus selbst war denkbar einfach, es lief wie geschmiert. Die Ausführenden waren dieselben korrupten Beamten in den regionalen Verwaltungen.

Zur Wahl wurden die Menschen von den vereinten Regimentern der Verteidigung der Krym getrieben – im Grunde genommen Einheimische gemeinsam mit Söldnern, aber ohne Uniform der russischen Streitkräfte. Die meisten Bewohner der Krym wollten sich aus der Politik heraushalten und am liebsten zu Hause bleiben, weil niemand wusste, was morgen sein würde. Und ganz sicher wollte die Mehrheit diese Veränderungen in der Form nicht.

Deshalb ist es gelogen, dass die ganze Krym „in den Heimathafen zurückgewollt“ hätte. Den Menschen wurde erklärt, dass die Krym so oder so zu Russland gehören wird, und die, die nicht wählen gehen, würden auf eine spezielle Liste kommen. Der Satz [von Fedotows Kollegen – The Insider] lautete wörtlich: „Wir sammelten die Leute ein und trieben sie zur Wahl.“

Damals gab es in unserer Abteilung keinen großen Dokumentenumlauf. Aus einem einfachen Grund: Niemand wollte, dass das Referendum irgendwann aufgrund von aufgetauchten Papieren für ungültig erklärt wird. Ich erinnere mich an die Umschläge mit dem Vermerk „nur persönlich“. Was drin war, wusste niemand. Nur der Adressat durfte so einen Umschlag öffnen.

Stellen Sie sich vor, heute findet jemand ein Dokument über die Organisation des Krym-„Referendums“. Das wäre für Putin ein Fiasko, alles würde einstürzen. Als das alles geplant wurde, wurde diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen. Es herrschten die Regeln mündlicher Vereinbarungen: Anrufe über verschlüsselte Verbindungen und Treffen unter vier Augen.

„Im Donbas arbeitete Girkin mit dem FSB zusammen“

Ungefähr ein halbes Jahr vor den Ereignissen auf der Krym quittierte Igor Girkin (Strelkow) den Dienst beim FSB. Aber die Version, dass er bewusst gegangen wäre, halte ich für wenig tragbar. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er mit dem Unternehmer Konstantin Malofejew zusammen. Das ist jemand, der alles in Bewegung setzt, um seine Aufgabe zu erfüllen. Natürlich hat Girkin schon auf der Krym und im Donbas mit dem FSB zusammengearbeitet. Ich denke, die Kontakte mit der Leitung vor Ort waren für Tatko dadurch leichter herzustellen.

Als die Geschichte mit der Krym und dem „Referendum“ geklärt war, stellte sich gleich die nächste Frage: Wie sollte man das neue Territorium halten? Die Logik war folgende: Man brauchte einen Krisenherd in der Ukraine, damit die neue Regierung sich gar nicht erst mit der Krym befassen konnte. Kyjiw hätte womöglich sofort nach der Annexion versucht, die Krym zurückzuholen. Um das zu verhindern, wurden die „LNR“ und „DNR“ erschaffen.

„Alle Aktivisten sind durchleuchtet“

Die Arbeit in der 2. Abteilung mit Oppositionellen ist eine Agententätigkeit. Das heißt, ständige Verhöre und Durchsuchungen, bis derjenige einknickt und kooperiert.

Grundsätzlich werden Aktivisten wie folgt überwacht: Bei großen, öffentlichkeitswirksamen Kundgebungen arbeitet man im Voraus mit ihnen. Man besucht sie z. B. zu Hause, händigt ihnen eine Verwarnung vom Staatsanwalt aus und führt präventive Gespräche durch. Wenn es Hinweise darauf gibt, dass eine Person abweicht oder bei einer Kundgebung etwas anstellen könnte, was man nicht sehen will, kann man ihr ein Verfahren anhängen. Nimmt sie z. B. für ein paar Tage wegen Vandalismus oder aus anderen Gründen fest.

Ab 2020 wurde in Moskau das Gesichtserkennungssystem erprobt: Du betrittst ein Gebäude und wirst sofort identifiziert. Damit erübrigt sich die Notwendigkeit, dass jemand persönlich dasitzen und die Leute rausfischen muss. Auf den Demonstrationen wurden neben den Videoaufnahmen auch Handynummern erfasst – das hat die Identifizierung wesentlich vereinfacht. Der Fokus lag auf den Aktivisten, also nicht einfach auf den Menschen, die in der Menge stehen, sondern auf denen, die Reden schwingen, Losungen rufen, die Leute um sich scharen.

Soweit ich weiß, wurde für solche Personen eine Akte erstellt. Es waren sehr viele, die genaue Zahl kann ich nicht sagen. Das macht die Einsatzabteilung. In deren Besitz befindet sich die ganze Datenbank, die vom Verfassungsschutz vervollständigt wird. Dort gehen auch die Dokumente ein, die von den Zentren zur Bekämpfung von Extremismus bereitgestellt werden. Das heißt, nicht nur der Verfassungsschutz ist für die Ermittlung zuständig. Der Großteil der Routinearbeit findet in den Abteilungen des Innenministeriums statt. Das ist ein riesiger Apparat.

Absolut jeder wurde durchleuchtet: Alle Gesichter wurden erkannt, auf jeder Demo wurde gefilmt. Dann wurden die Aufnahmen analysiert, die Aktivisten ermittelt. Dann lief alles nach Schema F. Vor der nächsten Demonstration fuhren die Mitarbeiter vom Zentrum E zu den Leuten nach Hause, führten prophylaktische Gespräche durch, händigten Verwarnungen aus.

Im Endeffekt gibt es in Wirklichkeit viel mehr Betroffene und registrierte Personen, als man meint. Außerdem wurden automatisch alle in den Datenbanken erfasst, die Briefe an Aktivisten im Gefängnis geschrieben haben. Ohne Ausnahme. Personen, die wegen „terroristischer“ und „extremistischer“ Straftaten einsitzen, stehen nämlich auch hinter Gittern unter Beobachtung.